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1. September 1939 – 31. Dezember 1942

»Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.«

Adolf Hitlers Worte.

»Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.«

Vaters Worte.

»Es wird alles gut, Hänschen, es wird sich alles finden.«

Mutters Worte.

Ich saß am Esszimmertisch und beschäftigte mich mit meinen Hausaufgaben, als Mutter plötzlich beteuerte, alles werde gut. Sie stand mit dem Rücken zu mir und starrte ohne jede Regung durch das Fenster hinaus auf die Straße. Ihre aufrechte Körperhaltung drückte das Bemühen aus, stark zu sein. So verharrte sie eine ganze Weile, bis sie plötzlich zu nicken begann. Sie nickte und nickte, und ich bangte schon, sie würde nicht mehr damit aufhören.

»Ja, alles wird gut. Alles! Davon bin ich überzeugt. Es kann gar nicht anders sein.« Ihre Stimme wirkte unerwartet kräftig. Schließlich klatschte sie in die Hände und drehte sich zu mir um. »Ich werde kochen, Hänschen. Es juckt mir in den Fingern, etwas zu kochen. Speckbohnen mit Kartoffeln wären richtig, nicht? Dein Vater mag Speckbohnen.«

»Ja, Speckbohnen wären gut …«, erwiderte ich überrascht. Es war früher Nachmittag, nicht die rechte Zeit für eine warme Mahlzeit. Wir aßen doch immer erst am Abend. Großen Hunger verspürte ich jedenfalls noch nicht, aber das gab ich nicht zu.

»Fein, ich freue mich, wenn du dich freust«, sagte Mutter. Sie eilte in die Küche, wo sie eine Schürze umband und sich bückte, um zwei Töpfe aus dem Unterschrank zu nehmen. Wie zielstrebig sie auf einmal war, wie flink, wie lebendig! Nichts schien sie beirren zu können. Sie nahm die Kartoffeln aus dem Vorratsschrank hinter der Tür, schälte sie, warf sie in einen der Töpfe, den sie zuvor mit Wasser gefüllt hatte, und putzte mit der ihr eigenen Gründlichkeit die Bohnen. Mit heller Stimme fing sie zu singen an, ein Lied aus ihrer rheinischen Heimat; ich kannte es aus früheren Tagen, als sie es mir vorsang, wenn sie mich zu Bett brachte. Den Text hatte ich nie vergessen.

»Steh’ ich an meinem Fensterlein, schau in die stille Nacht hinein, den ich gesehen hab’ so gerne, der zog von mir in weite Ferne …« Sie ging zum Vorratsschrank, um noch mehr Kartoffeln zu holen. Ihr federleichter Gang kontrastrierte auf groteske Weise mit dem schwermütigen Liedtext, ihr weiter Rock schwang bei jedem Schritt, ihre Absätze polterten laut. Sie wirkte wie beflügelt. »Weit entfernt in’s fremde Land, der mir so viel Leiden gab; Leiden gab er mir sehr viel, und mein Herz schweigt nimmer still …«

Ich mochte das Lied, die Sehnsucht in Mutters Stimme, die wehmütige Melodie darin. Aber heute war ich irritiert. Etwas an Mutters Verhalten erschien mir unermesslich falsch. Ich wollte ihr nicht länger zuschauen und zuhören. Noch war ich mit meinen Aufgaben nicht fertig. Also beeilte ich mich. Obwohl es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren, erledigte ich meine Pflichten, bis ich mit den Ergebnissen zufrieden war. Danach packte ich die Schulsachen in den Ranzen und huschte an Mutter vorbei, ohne dass sie es bemerkte. Sie war mit den Gedanken ganz woanders. Kochte und sang noch immer voller Leidenschaft.

In meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett, neigte den Kopf und faltete die Hände zum Gebet. Zunächst zauderte ich, als gäbe das Zaudern meinem Anliegen eine noch größere Bedeutung, aber nach einigen Minuten brach es aus mir heraus, und ich betete voller Inbrunst, Polen möge geschwind besiegt und der Feldzug in Kürze beendet sein. Betete, Mutters Hoffen möge den Weg in Gottes Herz finden und der Vater schon bald heimkehren. Ich betete so lange, bis der Geruch nach gekochten Bohnen und Kartoffeln in mein Zimmer zog und Mutter mich zum Essen rief.

Dass Mutter schon am Nachmittag statt am Abend kochte, blieb eine Ausnahme und war einzig der Nachricht von den beginnenden Kriegshandlungen geschuldet, die sie mehr verstörte, als sie es mir gegenüber zugeben wollte. In den nächsten Tagen und Wochen vermied sie es jedoch wieder, die Abläufe unseres Alltags zu verändern. Sie suchte und fand Zuversicht im Üblichen, hielt die Wohnung mit der gewohnten Sorgfalt sauber, schrubbte wie immer täglich die Böden und staubte die Möbel mit jenem Pflichteifer ab, den ich schon früher als übertrieben empfunden hatte. Sie änderte auch nichts an dem zweitägigen Rhythmus, in dem sie unsere Kleidung wusch oder an der Gepflogenheit, mir jeden Morgen ein Butterbrot zu streichen und ein Glas Milch einzugießen, damit ich nicht mit leerem Magen zur Schule ging. Sie war es auch, die stets von mir forderte, meine Hausaufgaben verantwortungsbewusst zu erledigen und die Heimabende der Pimpfe zu besuchen, an denen wir zu exerzieren lernten und Kenntnisse über die deutsche Geschichte und Rassenlehre vermittelt bekamen. An einem Wochenende fuhr ich mit der Gruppe zu einem Jugendtreffen in ein Waldstück nahe Potsdam, um an einer Geländeübung teilzunehmen. Dort wurde uns beigebracht, wie man mit einem Luftdruckgewehr schoss, mit dem Kompass umging und Befehle befolgte, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Wer es dennoch tat, tat es im Stillen.

In dieser Zeit sinnierte ich häufig darüber, wo Vater jetzt war und welche Aufgaben er zu erfüllen hatte. Ich malte mir aus, welche Gefahren ihn bedrohten, wie er sich ihnen stellte oder ihnen entkam. In meiner Fantasie sah ich ihn mit seinen Kameraden in geordneten Reihen durch niedergebrannte Städte und Dörfer marschieren, die steinernen Trümmerwüsten glichen; er war aufmerksam und bereit, jeden gegnerischen Angriff mit seinem Gewehr zu beantworten. Andere Male sah ich ihn über ein Schlachtfeld laufen und den Geschossen der polnischen Artillerie ausweichen. Oder ich stellte mir vor, wie er in einem Schützengraben lag und nach dem Feind Ausschau hielt, der nur wenige Meter entfernt im finsteren Unterholz lauerte. Aber egal, welcher Vorstellung ich mich hingab, stets spürte ich die Angst, die mit Eiseskälte in meinem Körper aufstieg.

Als der Postbote endlich einen Brief von Vater brachte, lief ich zu Mutter, aufgeregt und in freudiger Erwartung. Sie rutschte noch im Flur mit dem Rücken an der Wand hinab, öffnete den Umschlag, und wie es ihre Art vorzulesen war, hielt sie den Brief dicht vor die Augen, während ihre Finger über die Schriftzeichen glitten, als wollten sie jeden Buchstaben nachzeichnen. Sie hastete über die Zeilen, blieb an der einen oder anderen Stelle hängen und wurde dann wieder schneller, um voranzukommen und auch noch die letzte Information vor sich hin zu flüstern. Was Vater schrieb, machte uns glücklich. Er betonte, er sei wohlauf und wünsche sich von Herzen, dass es auch uns gut ergehe. Wo er war und was er machte, durfte er uns nicht mitteilen, aber das dämpfte unsere Freude nicht. Er lebte und klang hoffnungsvoll, daran hielten wir uns fest. Den Brief legte Mutter in die oberste Schublade seines Sekretärs, den er noch im vergangenen Sommer selbst restauriert hatte. Und weil uns in den nächsten Tagen keine Post mehr von ihm erreichte, holte sie das wertvolle Papier immer wieder hervor, wenn ihr danach zumute war, es erneut zu lesen. Einmal fand ich sie am Morgen in der Küche stehend, Vaters Brief in beiden Händen haltend und darin versunken, als erkenne sie in den akkurat und in schwarzer Tinte verfassten Zeilen einen neuen Sinn, der ihr zuvor entgangen war.

Wie sehr sie doch auf neue Post von ihm hoffte! Und wie schwer ihr Herz wurde, als ihr Wunsch jeden Tag aufs Neue unerfüllt blieb.

Ich entsinne mich noch mit einer Klarheit an jenen Mittag, an dem ich von seinem Tod erfuhr, als wäre es erst gestern gewesen. Es war der 21. September 1939, ein gewöhnlicher Donnerstag, an dem ich, vom Unterricht und dem übertriebenen Drill unseres Sportlehrers erschöpft, nach Hause kam. Das Hemd klebte an meinem verschwitzten Rücken, der raue Stoff der Jacke rieb in meinem Nacken. Ich fühlte mich unbehaglich. Im dämmrigen Treppenhaus mit den schmutziggrauen Wänden und den abgenutzten Dielen war es bereits kühl, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich der Sommer zu verabschieden drohte.

Ich schloss die Wohnungstür auf und trat ein. Aber nicht Mutter empfing mich im Flur, sondern Herr Tremmel. Dass er die offizielle Uniform des Blockleiters trug, mit etlichen Ordensschlaufen auf der Brust, vergoldeten Knöpfen, auf denen der Hoheitsadler der Partei prangte, und einer Hakenkreuz-Binde am Arm, machte mich genauso misstrauisch wie sein Erscheinen in unserer Wohnung. Vater bezeichnete ihn gerne als Schnüffelhund oder Treppenterrier, der nur dann auftauchte, wenn er den Verdacht hegte, dass etwas nicht stimmte.

Ich fragte mich, in welchen Verdacht wir geraten waren. Kontrollierte Herr Tremmel etwa, ob wir auch eine Hakenkreuzfahne besaßen? Welches Rundfunkgerät sich in unserer Wohnung befand?

Mein Hals wurde eng, als er mich mit finsterer Miene ansah, bevor er ein entschlossenes »Heil Hitler« herausbrachte.

Ich erwiderte den Gruß mit wenig Enthusiasmus. Meine Kehle schnürte sich weiter zu. Ich hatte Angst, sagte mir aber, ich müsse mich nicht ängstigen.

»Tritt ein, Hans! Wir haben auf dich gewartet. Deine Mutter muss dir was sagen.« Herr Tremmel machte Platz, und ich schlüpfte in die Wohnung. Jacken und Mäntel hingen wie üblich an der Garderobe. Mutters Hüte lagen auf der hölzernen Ablage darüber. Die Schuhe standen aufgereiht im Flur. Alles war wie immer. Was um Himmels willen wollte Tremmel also von uns?

Ich schaute mich um, sah Mutter im Esszimmer am Tisch sitzen und erschrak. Helles Tageslicht fiel durch das Fenster auf ihr blasses Gesicht mit den geröteten Augen. Auf ihrer tränennassen Wange klebten zwei Locken, ihre Zähne hatten sich in der Unterlippe verbissen, und ihr Kinn zitterte. Sie hielt ein weißes Tuch in den Händen. Nichts erinnerte mehr an den Optimismus, der all ihr Tun in den letzten Wochen geprägt hatte. In ihren Zügen erkannte ich nur noch tiefe Traurigkeit und Ermattung.

Ich blieb stehen. Mutter starrte auf die Tischplatte, statt mich anzusehen.

»Mutter?«, sagte ich, erfüllt vom Wunsch, dass sich ihre Gesichtszüge erhellten, dass sie mich zu sich winkte und wie so oft in den letzten Tagen erklärte, ich solle mir keine Sorgen machen, alles würde sich finden.

»Mutter?«

Sie stöhnte. Ihre Zähne lösten sich von der Unterlippe. »Hänschen … o mein Hänschen …«, flüsterte sie. »Dein Vater … dein Vater …«

Der Boden unter mir gab nach, ich schwankte und ließ die Tasche los, die ich die ganze Zeit festgehalten hatte. »Was ist mit ihm, Mutter? Was ist mit Vater? Geht es ihm nicht gut?«, fragte ich erschrocken.

»Dein Vater …« Sie stockte, rang nach Luft und drohte, in sich zusammenzusacken. Und dann, nach einem scharfen Atemholen, brachte sie es heraus: »Hänschen, dein Vater ist gefallen …«

Ich starrte sie an. Ungläubig. Von einem einzigen Satz getroffen wie von einer Kugel. Dieser Augenblick kam mir so unwirklich vor, dass ich wie gelähmt war, die Zeit stand für die Dauer eines endlos wirkenden Herzschlages still. »Vater ist … tot?«

Mutter hielt sich das Tuch vor den Mund und schluchzte auf, ein würgender Laut, der voller Leid war, eine Dissonanz, die in meinen Ohren dröhnte.

Ich schüttelte den Kopf. Mir wurde übel. Ich öffnete den Mund. Schrie ohne Ton und weinte lautlos, ohne Wimmern, während sich das Bild von Mutter verdoppelte, dann vervielfältigte, bevor es endgültig verschwamm. Eine Zeitlang vermochten weder sie noch Herr Tremmel oder ich etwas zu sagen. Erklärungen waren in diesem Moment nicht möglich und überflüssig. Die Welt erstarrte.

Es war Mutters Stimme, welche die Stille zerriss, irgendwann und irgendwo im zähen Nebel, schrill, fast hysterisch und sich vergewissernd. »Hänschen, hast du mich verstanden? Hänschen, hörst du mich?«

Ich konnte nicht antworten.

»Dein Vater ist gefallen. Er ist tot. Tot. Tot. Verstehst du denn nicht? Er kommt nie wieder. Nie wieder kommt er zurück zu uns …! Mein Hänschen, sag doch was …« Da war so viel Leid in ihrer Stimme, zu viel Leid.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Herr Tremmel. Auch er fing wieder zu reden an, doch seine Parolen drangen wie aus einem anderen Raum zu mir, dumpf, fern. Er sprach von meinem Vater als heroischem Krieger, der an der Bzura nahe der Stadt Kutno gekämpft habe, wo sich die polnischen Armeen Poznan und Pomorze vereint hatten, um unsere Achte Armee unter General Johannes Blaskowitz zu überraschen. Aber mit Hilfe der Vierten und der Zehnten Armee sei es gelungen, die Polen einzukreisen und vernichtend zu schlagen. Viele polnische Soldaten seien in dieser entscheidenden Schlacht getötet worden, viele von ihnen seien nun in Gefangenschaft. Auf unserer Seite habe es nur wenige Verluste gegeben.

Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.

Herr Tremmel tätschelte meine Schulter. Ich schüttelte seine Hand ab. Er redete weiter, bezeichnete meinen Vater immer wieder als tapferen Soldaten und einen Mann der Tat. Hier, in unserem Esszimmer, galt dem Blockleiter offensichtlich nichts mehr als die eigene Erregung und Auffassung, auf die deutschen Soldaten stolz sein zu müssen, auch oder besonders auf die Gefallenen im Feld. Unsere Verzweiflung war für ihn nur der Nachhall großen Heldentums. Dafür hasste ich ihn. Und ich hasste ihn, weil er von meinem Vater sprach, als hätte er keinen Namen und mit dem Tragen der Uniform das Recht verwirkt, über das eigene Handeln, das eigene Leben zu entscheiden. Als hätte Vater der Gedanke gefallen, für das Reich zu sterben. Ich zeigte meine Verachtung, indem ich Herrn Tremmel ignorierte und dadurch zum Verstummen brachte. Als ihm das neuerliche Schweigen im Raum unerträglich wurde, verabschiedete er sich mit belanglosen Sätzen und verließ die Wohnung ohne den üblichen Gruß.

Nach einer Weile fragte ich Mutter, was wir nun tun sollten. Ich war ratlos und benommen von der Größe dessen, was geschehen war und noch geschehen würde. Das Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Mutter rührte sich nicht. Ich wollte, dass sie mit Stärke antwortete. Dass sie mich in ihre Arme nahm und wiegte und mir die Haare aus der Stirn wischte. Dass sie wie ein Fels war, mein Fels.

Doch sie tat nichts und war nichts.

Wieso tat sie nichts? Und warum war sie nichts?

Meine Arme und Beine wurden schwer. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr halten und verlor das Gleichgewicht. Aber statt mich zu setzen, stürzte ich mich auf Mutter und riss sie mit dem Stuhl um. Am Boden liegend schlang ich meine Arme um ihren Körper, drückte mich an ihn, heulte voller Schmerz und forderte von ihr, etwas zu sagen, irgendetwas, das wiedergutmachen und heilen sollte, was zerstört und nicht mehr heilbar war. Ich spürte ihren Atem auf meiner Haut. Vater atmete nicht mehr. Er würde nie mehr atmen! Erst nach einer Weile reagierte Mutter und umklammerte mich so fest, wie sie konnte. Ihre Tränen vermischten sich mit meinen.

So blieben wir liegen, stundenlang, darum bemüht, die Erkenntnis über den schrecklichen Verlust einfach zu verdrängen und die Wirklichkeit von uns fernzuhalten.

Es war ein sinnloses Bemühen.

Regen klopfte unablässig auf Vaters Sarg. Ich stand neben dem aufgeschütteten Erdhaufen vor der Grube und hielt Mutters Hand, folgte aber nicht ihrem Blick ins Grab, sondern sah in die Ferne, zu den Ahornbäumen am Rand des Friedhofs, deren Kronen bereits ihr sattes Grün verloren und ein zartes Goldgelb angenommen hatten. Unter den Bäumen wirbelten Winde die herabgefallenen Blätter von moosigen Pfaden empor und trugen sie wie mit Zauberhänden über die Dornengebüsche in den Park hinter der Begräbnisstätte. Mit schwerem Herzen sog ich tief die Luft ein, die bereits eine erste Ahnung von bitterer Kälte mit sich trug. In wenigen Wochen würden die Gräber, Hecken und Bäume unter einer weißen Frostschicht erstarren. Der Gedanke, dass weder das Wetter, die Jahreszeiten noch das Leben selbst innehielten, obwohl Vater gestorben war, verunsicherte mich. Mir wurde klar, dass auch mein eigenes Leben weitergehen würde, egal, auf welche Weise.

Als die Trauergäste nacheinander mit einer kleinen Schaufel Erde vom Haufen nahmen, ins Grab schütteten und stille Andacht vor der Stätte hielten, befürchtete ich, die Beerdigung würde noch ewig dauern. So viele waren gekommen, um uns ihr Beileid auszudrücken. Freunde meiner Eltern, Hausbewohner, Nachbarn, einige Parteifunktionäre und Rolf Kistner, der Inhaber der kleinen Schreinerei in unserem Hinterhof. Sogar Erwin Kroschke, dessen Blicken ich geflissentlich auswich, und seine Eltern hatten sich auf den Weg gemacht, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Genauso wie meine Großeltern vom Rhein, die vergeblich versuchten, Mutter zu überreden, wieder mit ihnen zu kommen.

»Du hast doch hier niemanden mehr, Lenie, nicht nur Gerhard ist gefallen, auch seine Eltern sind schon lange tot. Also, was willst du mit deinem Jungen in einer Stadt wie Berlin? Hier ist es anonym und kalt. Kommt mit uns, bei uns habt ihr es besser«, sagte Großvater ernst und fügte hinzu, es sei ein Fehler gewesen, dass Mutter in die Ferne gegangen war, nachdem sie Vater in den Goldenen Zwanzigern in Berlin kennen- und lieben gelernt hatte. Großvater bereute es schon längst, seine Tochter damals mitgenommen zu haben, um mit ihr die erste Grüne Woche in der Reichshauptstadt zu besuchen. Aber nun sollte sie ihren Fehler korrigieren und in den Schoß des elterlichen Hofs zurückkehren. Um heimatliche Gefühle in ihr zu wecken, beschrieb mir Großvater in ihrem Beisein, wie sich das landwirtschaftliche Gut im Schutz der steil aufragenden Felsabhänge des Rheinischen Schiefergebirges rund um ein historisches Bauernhaus erstreckte. Wie sich der große Fluss durch die Täler wand, vorbei am großelterlichen Anwesen, an Obstgärten, abschüssigen Weinbergen und Burgen, malerischen Dörfern mit gemütlichen Wirtschaften und Städten mit liebenswerten Menschen darin. Von dort käme Mutter und dort gehöre sie auch hin.

Aber Mutter wollte nicht zurück. »Der Hof ist schon lange nicht mehr meine Heimat. Mein Junge und ich bleiben in Berlin. Hier war Gerhard zu Hause, hier sind wir zu Hause. Du vergeudest deine Zeit mit unnützen Reden, Vater. Ich werde nie wieder an den Rhein zurückkehren«, betonte sie trotzig. Auch wenn es ihr schwerfiel, Großvaters Wunsch auszuschlagen, blieb sie standhaft. Als sie sah, wie verletzt er von ihrer Unnachgiebigkeit war, legte sie beide Arme um seinen Nacken und schaute ihn um Verständnis bittend an. »Ich muss mich doch um Gerhards Grab kümmern, Vater. Wer sollte es denn sonst tun? Und was würde aus Hänschen, wenn er seine Heimat verlöre? Der Junge vermisst seinen Vater, das ist schon genug für ihn. Mehr kann er nicht verkraften«, sagte sie sanft und fügte noch hinzu, dass sich Großvater keine Sorgen machen müsse, da uns die Kriegsrente eine ausreichende materielle Sicherheit bot.

Ich wurde nicht gefragt. Ich sagte aber auch nichts und hätte nichts gesagt, wenn ich gefragt worden wäre. Ich konnte doch nicht wissen, was gut für mich war. Schließlich war ich erst elf. Nach ein paar Tagen reisten meine Großeltern ohne uns ab.

In den Wochen nach Vaters Beerdigung suchte Mutter Trost in meiner Nähe, als betäubte meine Gegenwart ihren Schmerz. Mir kam der Gedanke, dass sie etwas von Vater in mir sah und fühlte, wenn sie mich anschaute oder berührte. In dieser Zeit setzte sie alles daran, nicht völlig aus der Balance zu geraten. Zu sehen, wie sehr sie sich anstrengte, ihren Kummer niederzukämpfen und die Stunden und Tage in eine Gleichmäßigkeit zu gießen, als sei nichts Schlimmes geschehen, war für mich nur schwer zu ertragen. Ständig war sie in Bewegung. Putzte, kochte und verließ gelegentlich das Haus, um mit den zugeteilten Lebensmittelkarten Fleisch, Käse, Butter, Milch und Zucker zu besorgen. Und Marmelade. Ich liebte Marmelade. Erst später begriff ich, dass sie in Bewegung bleiben wollte, um nicht ständig nachdenken zu müssen. Sie ruhte sich erst aus, wenn ich abends nicht einschlafen konnte. Dann kam sie zu mir und blieb so lange auf meiner Bettkante sitzen, bis sie davon überzeugt war, dass ich endlich Schlaf gefunden hatte. Ihre Lippen waren schmal geworden, tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben, sie wirkte hohlwangig und bleicher denn je. Einmal, als ich mich minutenlang in meinem Bett hin und her wälzte, sagte sie: »Frag ruhig, Hänschen. Frag ruhig!« Ich schaute sie erstaunt an. War ich derart durchschaubar für sie? Schließlich nickte ich und fragte, wie sehr sie Vater vermisse und wie sehr es ihr weh tue, dass er nie wiederkommen würde. Aber welche Antwort erhoffte ich mir? Glaubte ich denn ernsthaft, dass sie Vaters Tod schon überwunden hatte? Und das, obwohl ich doch hörte, wie sie nachts von Unruhe gepeinigt die Wohnung verließ, wenn sie glaubte, dass ich schlief. Ich meinte, sie spazierte durch die frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Aber ich irrte mich. Irgendwann später erzählte sie mir, dass sie in diesen Nächten mit der Straßenbahn zum Friedhof fuhr, weil sie einfach nicht aufhören konnte, darüber zu sinnieren, warum Vater nun an einem Platz lag, der keinen gesunden, vor Kraft strotzenden Mann wie ihn hätte aufnehmen dürfen. Wieso er nicht besser aufgepasst hatte. Weshalb er nicht rechtzeitig geschossen und den Feind getötet hatte, bevor dieser ihn tötete. Wie sie mit ihren Zukunftssorgen und ihrer Einsamkeit fertigwerden sollte. Darüber musste sie mit Vater reden. Deshalb besuchte sie ihn. Und weil sie sich nach seiner Nähe sehnte. Stundenlang stand sie im schwachen Schein der Friedhofslaternen an seinem Grab und erzählte ihm allerhand von unserem Leben, ohne Antworten zu erhalten. Manchmal nahm sie ein Tuch aus ihrer Manteltasche, wischte Schmutz und Nässe vom Grabstein und tastete mit den Fingern den Schriftzug seines Namens und die Ziffern seines Geburts- und Todesdatums ab. Sie konnte sich kaum von diesem Ort lösen. Erst wenn ihr Kälte und Feuchtigkeit in die Glieder krochen, der Morgen zu grauen begann und sie sich an mich erinnerte, machte sie sich wieder auf den Heimweg. Und jetzt wollte ich wissen, wie sehr ihr Vater fehlte! Mit einer leichten Bewegung, die ich eher ahnte als spürte, strich sie mir über die Stirn, die Brauen und die Wangen, bevor sie mir eine Antwort ins Ohr flüsterte, die ich bis heute nicht vergessen habe. »Ich fühle mich wie ein Mensch, der unheilbar krank ist, Hänschen. Dieser Mensch weiß, dass er mit seiner Krankheit leben muss. Manchmal quält ihn der Gedanke nur, aber manchmal verzweifelt er geradezu daran. Dennoch kämpft er gegen die Qual und die Verzweiflung an und gibt sich alle Mühe, die Krankheit als Teil seines Lebens zu akzeptieren, da er weiß, dass ihm nichts anderes übrig bleibt. Auch ich versuche, gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, Hänschen. Verstehst du? Ich versuche, stark zu sein. Weil es einen Grund dafür gibt. Und dieser Grund bist du. Denn du bist hier bei mir.« Sie zog die Knie vor die Brust und umschlang sie wie ein kleines Mädchen. Tränen funkelten in ihren Augen. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie weinte. Das wusste sie. Ich drückte mein Gesicht ins Kissen. Sie stand auf. Ich hörte, wie sie mit kleinen Schritten aus dem Zimmer ging. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wiederholte den letzten Satz, leise und liebevoll: »Denn du bist hier bei mir.«

Viele Wochen nach Vaters Beerdigung begann der Abschnitt, den ich nach all den Jahren als Mutters zweite Trauerphase bezeichne. Sie veränderte ihr Verhalten und entfernte sich zunehmend von dem, was sie einst ausgemacht hatte. Ständig gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, ließ ihre Kräfte schwinden. Sie ging nur noch vor die Tür, um Lebensmittel zu besorgen. Auch nachts verließ sie die Wohnung nicht mehr. Ihre schnellen Bewegungen erlahmten. Früher hatte ich ihre Leichtigkeit immer bewundert, wenn sie mit nackten Füßen über die knarrenden Dielen unserer Wohnung gehuscht war, flott und graziös, als wäre ihr Körper gewichtslos. Mitunter hatte Vater ihr bewundernde Blicke zugeworfen und sie voller Begeisterung darum gebeten, sich in ihrem schlichten Kleid um die eigene Achse zu drehen, bis sich der Tellerrock aufbauschte und um ihre schlanken Beine flatterte. Mutter lachte herzhaft, während ich auf den Moment wartete, in dem sie zu schweben beginnen würde. Wer sich so schnell drehen konnte, konnte auch fliegen, daran hatte ich geglaubt.

Nun litt ich darunter, dass sie ihre Leichtigkeit verlor und schwerfällig wurde. Zaghaft und grüblerisch. Dass sie plötzlich nur noch mit mir sprach, wenn sie ihre Sorgen um mich äußerte, dies allerdings in einem spitzen Ton, den ich nicht von ihr kannte. An manchen Tagen kam es vor, dass sie sich gleich mehrfach nach meinem Befinden und Verbleib erkundigte, als traute sie meinen Antworten nicht. Deine Wangen sind blass, Hänschen, wirst du etwa krank? Wenn du die Schrippen holst, kehrst du doch ohne Umwege wieder zurück, nicht wahr? Warum brauchst du nur immer so lange, bis du von der Schule nach Hause kommst? Die Fragen spiegelten ihre Befürchtungen wider, noch einen geliebten Menschen zu verlieren, sollte sie nicht gut genug aufpassen. Mich irritierten ihre Sorgen, als habe sie vergessen, dass ich ein vernünftiger, wohlerzogener Junge war, der durch den Tod des Vaters und die Erkenntnis, wie abrupt ein Leben enden konnte, ohnehin vorsichtiger, beinahe ängstlich geworden war. Diese Tage waren schlimm. Aber noch schlimmer waren die Tage, an denen sie lethargisch war und sich kaum noch regte. An denen sie am Esszimmertisch saß und wie entrückt zur Tür schaute, als träumte sie davon, dass Vater jeden Augenblick über die Schwelle treten und sie mit einem Kuss aus ihrer Starre befreien würde. Wenn ich in jenen Stunden neben ihr hockte, über meinen Hausaufgaben brütete und sie um Hilfe bat, verlor sie nie mehr als drei Sätze. Und manchmal, wenn sie mir gar nicht antwortete, wusste ich nicht, ob sie mich überhaupt hörte oder ob ihr nur die Anstrengung zu groß war, sich mit mir und meinen Aufgaben zu beschäftigen. Bisweilen schaute sie mich an, als erkenne sie mich nicht mehr und begreife nicht, dass wir zusammengehörten, woraufhin ich mich rasch zurückzog, aufs Bett legte und stundenlang der Stille in unserer Wohnung lauschte. Es kam vor, dass ich mein Zimmer an einem solchen Tag gar nicht mehr verließ, die ganze Nacht wach blieb und so lange in die Schwärze hinaus sah, bis der Morgen das Fenster mit einem trüben Grauton färbte, an den ich mich nur widerwillig gewöhnte. Er bedeckte die Tage, Wochen und Monate, in denen der Krieg immer heftiger wütete, die Begräbnisse und das Wehklagen der Eltern und Frauen über ihre gefallenen Söhne und Männer zunahmen und schließlich die ersten britischen Bombenangriffe auf Berlin erfolgten. Eine Antwort auf die vielen Attacken der deutschen Luftwaffe auf mehrere englische Städte. Um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, wurden viele meiner Mitschüler aufs Land geschickt. Ein Teil kam bei Verwandten unter, andere verbrachten die nächsten Monate in einem von der Hitlerjugend organisierten Lager in Schlesien. Das Klassenzimmer leerte sich. Ich hatte das Gefühl, zurückgelassen zu werden und wünschte mir insgeheim, mit meinen Freunden gehen zu können. Aber natürlich konnte ich Mutter nicht ohne ihre Einwilligung verlassen. Und sie wollte nicht, dass ich fortging. Als ich sie auf die Landverschickung ansprach, reagierte sie unerwartet schroff. Die Angst, dass ihr dann niemand mehr bliebe, schien übermächtig und riss sie aus ihrer Trägheit. »Einer ist schon gegangen und kam nicht zurück, das passiert mir nicht noch einmal. Wer kann mir denn garantieren, dass du auf dem Land sicherer bist als bei mir in der Stadt? Niemand kann das!« Sie sprach laut und hektisch, als hadere sie mit ihrer Entscheidung und wisse nicht recht, ob sie das Richtige tat. »Und wenn wir doch zu den Großeltern reisen? An den Rhein? Aber nein, auch dort gibt es genügend Städte und Brücken, die zu treffen es sich lohnen würde. Niemand kann wissen, wo die nächsten Bomben fallen. Gerhard würde nicht wollen, dass wir Berlin verlassen.«

Dass die Wohnungsbaugenossenschaft gleich nach den ersten Angriffen einen Luftschutzraum in unserem Hauskeller einrichtete, bestärkte sie in ihrer Meinung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Indem sie mir erlaubte, zuzusehen, wie die Kellergänge mit leuchtender Farbe gestrichen wurden, was ein Zurechtfinden auch bei Dunkelheit ermöglichen sollte, ein Durchlass in die Kellerwand zum Nachbarhaus gebrochen, die Decke des ausgewählten Raums mit zwei Pfeilern und vertikalen Stützbalken verstärkt, das Fenster zugemauert und die Holztür durch eine Tür aus Stahl ausgetauscht wurde, wollte sie mir zeigen, wie sicher unser Zuhause war. Am Ende des Kellergangs standen von nun an mit Wasser gefüllte Löscheimer und Kisten mit Kerzen, Verbandsmaterial, Hacken, Schaufeln, Sand und Feuerpatschen, deren Anwendung uns Herr Tremmel erläuterte. Er beaufsichtigte die Arbeiten im Keller. Alles sollte ausgeführt werden, wie es die Baugenossenschaft angeordnet hatte. Die Hausbewohner würden wieder ruhiger schlafen, wenn sie wüssten, dass der Kellerraum sie vor den Bomben schützte. Schlimm genug, dass der Feind die Bevölkerung verunsicherte. Aber sich wegen ein paar Bomben gleich in Angst und Schrecken versetzen zu lassen? Niemals! Nur die Ruhe bewahren und abwarten, bis die deutsche Luftwaffe die Kampfkraft der Royal Air Force gänzlich vernichtet hatte. Das könne nicht mehr lange dauern.

Doch Tremmel irrte. Die Kampfkraft der Royal Air Force wurde nicht zerstört. Es folgten weitere Angriffe auf Berlin, die zunächst einmal bis November 1941 andauerten und Mutter zum Handeln zwangen. Sie bereitete sich vor und packte alle wichtigen Papiere und ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, den sie griffbereit neben ihre Schuhe unter die Garderobe stellte. Wenn nun die Alarmsirenen ertönten, die inzwischen überall an höheren Gebäuden angebracht worden waren, verdunkelte sie mit schwarzen Papierrollos und Decken die Fenster, nahm den Koffer und hastete mit mir an der Hand durch das Treppenhaus in den Keller. Im Schutzraum besaß jeder Bewohner einen von Herrn Tremmel zugewiesenen Platz auf einem der abgenutzten Sessel, die in den Keller geschleppt worden waren. Im schummrigen Licht einer einzigen Glühbirne saßen Margarethe neben Ilse und Toni, Mutter zwischen Frau Buchner und mir und Herr Tremmel uns gegenüber. An der Längsseite des Raums hatte der Blockleiter noch Stühle für die Bewohner des Nachbarhauses bereitgestellt, welche durch den großen Zugang in der Kellerwand zu uns kamen. Luise und Alfred Hartmann, ein älteres Ehepaar, das sich immer freute, wenn ich es nett grüßte, sobald wir uns vor den Häusern begegneten. Frau und Herr Schmitt mit ihren beiden Kindern, Kurt und Otto, vier und sechs Jahre alt, und Rudolf Schultze, der seinen linken Arm im ersten Weltkrieg verloren hatte, als sie dem Franzmann vor Verdun eingeheizt hatten. Eine Unachtsamkeit, eine Detonation und wumms, sein Arm sei in tausend Fetzen gerissen worden. Aber letztlich hätte er sich an den Verlust gewöhnt, der eine Arm reiche ihm inzwischen aus, hatte er Mutter vor vielen Jahren erzählt, als sie mich noch zur Schule brachte und wir Herrn Schultze auf dem Weg dorthin trafen. Wir waren spät dran gewesen, weshalb Mutter das Gespräch rasch beendete und sich für ihre Eile entschuldigte, woraufhin Herr Schultze ein wenig mürrisch wirkte. Schließlich war auch er weitergegangen, die Zeitung der Partei, den Völkischen Beobachter, eingeklemmt in seiner verbliebenen Armbeuge.

»Unsere Nachbarn werden in unserem Haus Schutz finden. In ihrem Gebäude gibt es keinen geeigneten Raum. Und der nächste Bunker ist für sie zu weit entfernt. Das Risiko, zu spät zu kommen, vor verschlossenen Türen zu stehen und schutzlos in einen Bombenangriff zu geraten, ist zu groß für sie«, sagte der Blockleiter bei unserer ersten Zusammenkunft im neuen Luftschutzraum, ausgelöst durch ein weiteres nächtliches Sirenengeheul, das uns vor einem erneuten Angriff gewarnt hatte und mir durch Mark und Bein gegangen war.

»Deswegen der Durchlass …«, flüsterte Frau Buchner meiner Mutter zu. »Ja, der Krieg lässt die Menschen enger zusammenrücken.«

Mutter zog eine Braue in die Höhe.

Frau Buchner beugte sich dichter zu ihr und legte die runzligen Hände auf ihre Beine. »Wissen Sie, was gleich passiert?«

»Was meinen Sie?«, fragte Mutter irritiert zurück.

»Gleich kommen die Vorausflieger, das habe ich neulich nachts gesehen. Ich habe am Fenster gestanden und beobachtet, wie diese verfluchten Flugzeuge langsam an Fallschirmen niederschwebende Leuchtbomben abwarfen, die aussahen wie Tannenbäumchen. Weiß, rot und grün leuchtende Zeichen. Unheimlich war das.«

»Leuchtende Zeichen? Tannenbäumchen? Wozu?«

»Ich glaube, damit markieren sie die Ziele für die Bomber, die ihnen folgen …«

Mutter schluckte. Dann hörten wir das Feuer der Flakgeschütze in der Ferne. Die Luft im Raum wurde dicker. Meine Atemwege zogen sich zusammen. Der Geruch nach kaltem Schweiß stieg mir in die Nase. Steif saßen wir da, wie Puppen aus Porzellan. Niemand sagte mehr etwas. Niemand bewegte sich. Auch in jenen Augenblicken nicht, in denen wir das bedrohliche Summen der attackierenden Geschwader und die Explosionen der Bomben vernahmen, die zwar in einiger Entfernung erfolgten, unsere Hauswände dennoch zum Vibrieren brachten. Wir konzentrierten uns auf das Propellergeräusch der Flieger, um herauszuhören, ob sie sich uns näherten, über uns hinweg- oder davonflogen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Ilse nach Tonis Hand griff und diese umschloss. Wie Frau Buchner die Lider zusammenkniff. Wie Frau Schmitt ihre Kinder gequält anlächelte. Erst als eine heftige Explosion irgendwo in unserem Viertel die Stützpfeiler im Keller zum Schwanken brachte, wurde unser Schweigen von Frau Hartmann unterbrochen, die bestürzt zu beten anfing: »Du lieber Gott, schütze uns, bitte, schütze uns! Bitte! Ich flehe dich an, lieber Gott! Wir wollen noch nicht gehen …!« Die Bitte kam unscharf aus ihrem Mund, hastig, nuschelnd, verstört.

»Sei still, Liebes, es ist doch nichts passiert«, forderte ihr Mann sie auf. »Du erschreckst die anderen, die Kinder …«

»Die Kinder … o ja … die Kinder«, murmelte Frau Hartmann verwirrt.

Sie hörte auf ihren Mann und verstummte. Wir lauschten weiter.

Fortan einte dieses Band der Hilflosigkeit und der Furcht unsere kleine Gemeinschaft. Jeder hatte Angst verschüttet zu werden, zu ersticken oder zu verbrennen, während sich draußen immer größer werdende Flammenmeere durch die Stadt fraßen, gefolgt von dicker Asche, die sich auf Häuser und Bäume legte. Und so wurden die vielen Stunden, die wir in den nächsten Monaten und Jahren in unserem Luftschutzraum verbringen sollten, zu weiteren schattigen Grautönen in meinem Leben. So grau und trüb wie die abgedunkelten Straßen in den Abendstunden, wie mein Klassenraum, der auch an bewölkten Vormittagen nicht mehr beleuchtet wurde, und wie Mutters Seele, die ihre Helligkeit in jenen Nächten eingebüßt hatte, in denen sie zum Friedhof gefahren war, um an Vaters Grab zu stehen und mit ihm zu sprechen.

Briefe von Toni

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