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ОглавлениеBerlin, Ende August 1939
Ich sah Maria zum ersten Mal am Ufer des Wannsees. Sie stand nur ein paar Schritte von mir entfernt und sah mich vorwitzig an, dann blinzelte sie mir zu. Ich blickte zurück, scheu und neugierig zugleich, die feuchten Hände voller Sand. Weil das fremde Mädchen mich beobachtete, sich für mich und die Sandburg zu interessieren schien, die ich versuchte, nah am Wasser zu bauen, interessierte ich mich auch für das Mädchen. Aber im Gegensatz zu ihm hockte ich reglos da, verblüfft, wegen der ungewohnten Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde. Irritiert, weil ich nicht wusste, was das Mädchen von mir wollte.
Wollte es überhaupt etwas von mir? Sah es mich überhaupt an oder durch mich hindurch, weil es mit den Gedanken anderswo war?
Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher. Und unsicher war ich auch, was das Alter des Mädchens betraf. Ich richtete mich auf, neigte den Kopf und betrachtete es noch genauer. Sicherlich mochte es ein wenig älter sein als ich. Vielleicht zwölf oder dreizehn, bestimmt schon längst vom Jungmädelbund aufgenommen, aber noch zu jung, um beim Bund Deutscher Mädel mitzumachen. Schmal war es, aber nicht sonderlich hübsch, wie ich fand. Dafür hatte es ein zu pausbäckiges Gesicht, das von zahllosen Sommersprossen übersät war, zu helle, fast durchscheinende Haut und zu wirres Haar, das ihm über die Schultern bis auf den Rücken fiel und sich über seiner Stirn kräuselte. Sein dunkler Badeanzug war nass, die Arme und Beine mit Tropfen benetzt, und an seinen Füßen klebte Sand. Es war noch vor kurzem im Wasser gewesen, wie die meisten anderen Kinder auch, die sich darin übertrafen, Fröhlichkeit zu verbreiten und den warmen Tag zu genießen. Aber tatsächlich war diese Unbeschwertheit getrübt. Das Lachen der Kinder war gedämpfter als sonst, ihr Spielen zurückhaltender, der Umgang miteinander behutsamer. Ein Schatten trübte ihre gewohnte Ausgelassenheit. Sie spürten die Last, die ihre Eltern trugen, und deren innere Anspannung.
Ein heller Sonnenstrahl blendete mich. Ich legte die sandigen Hände schützend über die Augen.
Auch ich spürte die Anspannung meiner Eltern, von der sie schon seit Tagen immer wieder heimgesucht wurden. Ich hatte Mutters nervöse Blicke wahrgenommen und ihre ungewohnte Wortkargheit erlebt, welche schwer in den Räumen unserer Wilmersdorfer Wohnung hing. Ich bemerkte Vaters Gereiztheit und hatte das Gefühl, dass er etwas verbergen wollte, was nicht zu verbergen war. Denn überall wurde darüber gesprochen, auf den Straßen, in der Schule und auf den Treffen der Pimpfe des Deutschen Jungvolks. Auch wenn ich nicht alles verstand, was der Fähnleinführer uns eindringlich zu erklären versuchte, begriff ich zumindest, dass sich die Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen in den letzten Tagen zunehmend verschärft hatten. Hitler drohte damit, bei der nächsten polnischen Provokation zu handeln.
»Ein Feldzug liegt in der Luft«, hatte der Fähnleinführer uns mit unverhohlener Dramatik in der Stimme klargemacht. »Schon bald entscheidet sich, ob und wann der Führer zuschlagen wird. Aber egal, wie er sich entscheidet, wir werden ihm folgen.«
Die Sätze beunruhigten mich. Ohne es laut auszusprechen, fragte ich mich, wieso man sich für Krieg statt für Frieden entscheiden könne. Ich hatte Vaters Worte im Kopf, dass ein bewaffneter Kampf, und nichts anderes bedeutete doch ein Feldzug gegen Polen, immer Verluste mit sich bringe. Aber genauso wie die Parolen des Fähnleinführers beunruhigte mich, dass meine Eltern bei jeder Gelegenheit den kratzigen Stimmen des Großdeutschen Rundfunks lauschten. In letzter Zeit saßen sie schon frühmorgens vor dem nussbraunen Radio. Mutter biss sich auf die Lippen und rieb die Daumen an den Zeigefingern. Ihre Nervosität hing greifbar im Raum. Vater saß stocksteif da, ohne jede Regung, und manchmal befürchtete ich, er könnte das Atmen eingestellt haben. Sie warteten auf die Ansprache des Führers. Auf eine Entscheidung. Darum konnten sie auch diesen warmen Tag nicht genießen, den wolkenlosen Himmel nicht und nicht den See, der im Licht der Sonne silbergrau schimmerte.
Meine Eltern hatten keine Freude am Baden. Ich schaute mich um. Kein Erwachsener war im Wasser, auch das beunruhigte mich, denn das Wasser war weder zu kalt noch zu warm.
Eine Möwe flog dicht über meinen Kopf hinweg und riss mich aus den Gedanken. Sie kreischte schrill, als sei sie in Panik und auf der Flucht. Ich zuckte heftig zusammen. Das Mädchen lachte augenblicklich los, und die Möwe verschwand so plötzlich im Sonnenlicht, dass ich nicht hätte sagen können, wo und ob sie überhaupt noch einmal auftauchen würde. Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich unbehaglich, weil ich nicht wusste, ob das Mädchen mich an- oder auslachte. Als sein Lachen abebbte und schließlich ganz verstummte, war ich erleichtert. Seine blonden Wimpern flatterten. Dann zuckte es mit den Schultern und winkte mir zu, obwohl es doch so nah bei mir stand und ein Winken deshalb eher komisch als freundlich wirkte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass das Mädchen genauso unsicher war wie ich. Jetzt musste ich lachen. Es war ein Lachen, das mir heftig und unaufhaltsam aus der Kehle sprudelte. Ich trat zwei Schritte auf das Mädchen zu und winkte zurück.
Das Mädchen schnitt eine Grimasse und streckte mir die Zunge raus. Als es jedoch die Gestalt sah, die sich mir von hinten näherte, lief es unvermittelt fort. Ich drehte mich um und hielt die Luft an, als ich Vaters nachdenklichen Blick bemerkte, der vom Badetuch aufgestanden war und nach Osten starrte, als ahnte er von dort eine Gefahr.
Lag Polen im Osten? Ich überlegte. Polen lag im Osten, ganz sicher.
Was, wenn die Polen wieder provozierten? Was, wenn sie die Worte des Führers nicht ernst nahmen? Müsste Vater, gemeinsam mit den anderen Soldaten, die Provokationen beenden? Vater war bestimmt einer der kräftigsten von ihnen, er war breit gebaut, hatte starke Arme, ein kantiges Gesicht und leuchtendblaue Augen – ein Mann, der andere mit seiner Erscheinung beeindruckte und in Uniform sogar noch imposanter wirkte als üblich. Dennoch trug er sie nicht gerne, wenngleich er sie in jüngster Zeit häufiger anziehen musste. Er sei ein Schreiner, kein Soldat. Er stelle Dinge her und wolle keine Dinge zerstören. Ich glaubte ihm, denn wenn er die Uniform und die braunen Stiefel trug, war sein Gang schwerfälliger als sonst, fast schleppend, der Klang seiner Schritte dumpfer, und seine Stimme erhielt einen rauen Unterton, in dem die Abneigung mitschwang, die er beim Tragen der Uniform verspürte.
Ganz bestimmt mochte Vater die Uniform auch deshalb nicht, weil sie ihn schon bald von uns wegbrächte. Dann käme er nur noch selten nach Hause. Er sagte es mir gestern Abend, nachdem er sich an den Esstisch gesetzt und die Hände ineinander gefaltet hatte. Nie zuvor hatte ich einen solchen Ausdruck in Vaters Augen gesehen, so sorgenvoll und traurig. Für einen kurzen Moment ergriff mich die Ahnung, dass sich die Welt, wie ich sie bislang kannte, bald ändern würde. Kein Zweifel. Wenn Vater so verdrießlich dreinschaute, rollte etwas sehr Unheilvolles auf uns zu.
Als Mutter aus der Küche kam und den Tisch mit dem alten Porzellangeschirr eindeckte und mit zwei Messingleuchtern schmückte, sah sie mich an. Aber sie forderte mich nicht auf, ihr zu helfen, wie sie es normalerweise tat. Es machte mir nichts aus, ihr beim Eindecken zu helfen. Im Gegenteil, es war eine stille Übereinkunft zwischen uns beiden. Ich half ihr, den Tisch zu richten, und sie strich mir dafür sanft durch den blonden Schopf. Manchmal schloss sie dann die Augen, neigte sich zu mir und küsste mich auf die Stirn. Das gefiel mir. In diesem Augenblick dachte ich, dass ich nicht nur die schönste, sondern auch die liebevollste Mutter der Welt hatte.
»Bald wird es dir nicht mehr gefallen, wenn ich dir durchs Haar streiche oder dich auf die Stirn küsse«, sagte sie in letzter Zeit häufig und bedachte mich mit einem wehmütigen Blick, woraufhin ich lachend erwiderte, dass es mir immer gefallen würde.
Gestern half ich Mutter nicht beim Eindecken, und sie fuhr mir weder mit der Hand durch den Schopf, noch küsste sie mich auf die Stirn. Wohl deswegen nicht, weil sie das Gespräch zwischen Vater und Sohn nicht unterbrechen wollte. Es stand noch etwas Unausgesprochenes zwischen uns. Aber die Unterhaltung war durch ihr Eintreten unterbrochen worden, und Vater nahm sie nicht mehr auf. Irgendwie war ich darüber froh. Daran, wie er zu mir gesprochen und mich mit gerunzelter Stirn angesehen hatte, merkte ich, dass ich eigentlich gar nicht hören wollte, was ihm auf dem Herzen lag.
Ich hatte es gestern nicht hören wollen, und ich wollte es auch an diesem Tag nicht hören, aber tief in mir wusste ich, dass ich es noch erfahren würde.
»Packen wir unsere Sachen zusammen und gehen, Hans«, sagte Vater bestimmt und schaute zu mir herunter. »Wir waren lange genug am See. Es wird allmählich kühler.«
Ich nickte. Auch wenn ich gerne geblieben wäre und von der Kühle noch nichts spürte, wagte ich es nicht, Vater zu widersprechen. Also faltete ich meine Decke und das Handtuch zusammen, steckte beides in die Badetasche und blickte mich unauffällig und in der Hoffnung um, das Mädchen noch einmal zu sehen.
Ich sah es nicht mehr. Es blieb inmitten der unzähligen Menschenleiber verschwunden.
Wir liefen den mit Gras bewachsenen Weg zurück, der neben dem Strandcafé durch ein Dickicht von Stämmen und Büschen entlangführte. Über uns sahen wir keinen Himmel, nur ein Dach aus Blattwerk, bis wir zum Ausgangstor gelangten.
Vor uns lag jetzt noch ein längerer Fußweg bis zur Haltestelle, von der die Straßenbahn nach Wilmersdorf fuhr.
Ich blieb stehen, drehte mich ein letztes Mal um und sah im Westen die Sonne zwischen zwei Birken leuchten. In den Laubbäumen zwitscherten die Amseln, und auf den noch freien Flächen der teils mit Büschen und Gehölz zugewachsenen Wiese hinter dem Strandcafé ließ sich ein größerer Entenschwarm nieder. Die Terrasse des Cafés war voll besetzt, aber noch immer strömten Leute dorthin.
Ein schöner Tag, dachte ich und seufzte kaum hörbar auf. Ich schloss die Augen und genoss ein Weilchen die warme Luft auf meiner Haut. Bis ich Mutter rufen hörte, ich solle nicht träumen, sondern weitergehen.