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Juli 1979

An einem kühlen Herbstabend im Jahr 1943 flog die sechzehnjährige Maria Buchner über die Welt, und ich konnte sie nicht daran hindern.

Ich weiß noch genau, wie sehr ich sie bewunderte, aber auch wie groß meine Angst war, als sie sagte, dass sie gleich vom Brett springen und Berlin und diesem furchtbaren Krieg entfliehen würde. Zuvor wolle sie sich allerdings noch in Ilse Göldner verwandeln. Das sei sie ihr schuldig. Sie lächelte mich gequält an. Ich solle sie auf ihrer Reise begleiten. Dann wäre ich kein Junge mehr, sondern ihr Mann, zwischen uns wäre es so wie zwischen Ilse und Toni. Nach diesen Worten wandte sie sich von mir ab. Ich blieb unmittelbar hinter ihr auf dem Sprungbrett stehen und schaute durch die Dunkelheit nach unten, dorthin, wo der Mond einen schwachen Lichtschein auf die sich kräuselnde Oberfläche des Gewässers warf. Links und rechts am Ufer standen Bäume, schwarze Schatten, die sich emporreckten und finstere Gewölbe aus Ästen, Zweigen und Blättern schufen. Ein frischer Wind blies über den Badestrand und streifte meinen bloßen Oberkörper und die nackten Beine. Ich fror, auf meinen Armen und meinem Rücken breitete sich eine Gänsehaut aus.

Als Maria nach einer Weile auf das Ende des Sprungbretts zuging, folgte ich ihr nicht. Stattdessen blieb ich stehen. Ich betrachtete ihre zerzausten Haare, den angespannten Nacken, ihren entblößten Rücken, der mit jedem Schritt steifer zu werden schien, und dachte daran, dass es noch nicht lange her war, dass ich ihr die Haare vom Nacken gepustet und diesen Rücken mit Küssen bedeckt hatte.

Als sie das Ende des Bretts erreichte, drehte sie sich noch einmal zu mir um und sah mich bittend an. Sie streckte die Hand nach mir aus. Ich zögerte und fragte mich, ob ich ihr diesen Gefallen schuldete, ob sie meine Hilfe überhaupt benötigte und ich tatsächlich mutig genug war, in das Dunkel zu springen. Dann wartete ich darauf, dass sie noch etwas sagen würde, doch wir standen einfach nur stumm da. Bis ich beschämt auf das Brett blickte.

Das Vergangene ruhen zu lassen, habe ich mir mehr als drei Jahrzehnte lang immer wieder vorgenommen. Aber das Vergangene hat mich nicht ruhen lassen. Ich konnte die Erinnerungen nie völlig vergessen oder auslöschen, auch wenn es mir zuweilen gelang, sie in den Hintergrund zu drängen, sodass sie mit der Zeit verblassten wie ein Traum. Gleichwohl prägten sie all die Jahre meine Art zu denken, zu handeln und zu lieben. Schließlich waren sie kein Traum, sondern eine Glück bringende und am Ende auch grauenvolle Wirklichkeit.

Im Frühjahr letzten Jahres brauchte es nur ein einziges Telefonat, um mich in diese Wirklichkeit zurückkehren zu lassen. Es war Margarethe Stettnich, die mich anrief. Sie sagte, dass sie erst kürzlich mein letztes Buch gelesen und überall verbreitet habe, dass sie vor langer Zeit mit mir unter einem Dach gelebt hatte. Mit einem heute bekannten Schriftsteller, das hätte sie damals nicht für möglich gehalten. Während ich im Arbeitszimmer stand, den Hörer fest ans Ohr gedrückt und den Blick durch die Fensterscheiben auf die Grenzmauer meines Grundstücks gerichtet, hörte ich zu, ohne sie zu unterbrechen. Anfangs zaghaft, beinahe verlegen, redete sie im Laufe des Telefonats immer schneller und bekannte, alle meine Romane gelesen zu haben, die seichten genauso wie die tiefgründigen. Romane über Schicksale in der Nachkriegszeit, über Liebe und Verzweiflung, über unerfüllbares Verlangen und unwillkommene Verwirrungen. Als sie bemerkte, wie still ich war, wurde sie wieder zaghafter. Einen Moment lang schwieg sie, bevor sie fragte: »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, eine Geschichte zu erzählen, die du selbst erlebt hast? Deine und Marias Geschichte? Ich könnte dir verraten, was Ilse an dem Tag gesagt hat, an dem sie starb. An dem Tag, an dem … na ja, du weißt schon … du könntest es verwenden.«

Ich schloss die Augen. Ich wollte ihr nicht länger zuhören. Zumindest bildete ich mir ein, ihr nicht länger zuhören zu wollen. Ich bedankte mich für ihren Anruf und legte auf.

In den nächsten Tagen und Wochen ließen mich ihre Worte jedoch nicht mehr los. Immerzu begleiteten sie mich und ständig drehten sich meine Gedanken um Maria. Um Ilse und Toni. Um Erwin. Um Wilmersdorf, unsere Straße und den Luftschutzkeller in unserem Haus.

Zwei Monate nach dem Telefonat hielt ich es nicht mehr aus, setzte mich ins Auto und fuhr nach Berlin.

Briefe von Toni

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