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Wie an jedem anderen Morgen rüttelte mich Mutter wach. Vorsichtig öffnete ich die Augen und blinzelte gegen das noch matte Tageslicht an, das durch den schmalen Spalt der beiden nur unzureichend zugezogenen Vorhänge in mein Zimmer fiel. Dann zog ich die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass Mutter sie mir wegriss. Eine alltägliche Gewohnheit wie das gemeinsame Eindecken des Abendtischs, ein schelmisches Spiel. Ich versteckte mich unter der Decke, und sie zerrte die Decke fort, nahm meinen Kopf in beide Hände und drückte ihre Lippen kräftig auf meine Stirn.

Das tat sie auch an diesem Morgen, aber nur mit halber Entschlossenheit. Ich schaute sie an. Ein Streifen Licht fiel auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren ohne jeden Glanz. Ich wollte ein Blinzeln und ein Lächeln erkennen, aber sie blinzelte und lächelte nicht. Ihr lockiges Haar war noch ungekämmt. Außerdem war sie noch nicht für den Tag angezogen, trug lediglich Nachthemd und Nachtrock und den weißen Morgenmantel darüber.

»Dein Vater ist fort«, sagte sie leise.

»Vater ist fort?«

»Du weißt, er hatte keine Wahl.«

»Er musste schon gehen?«

»Ja.«

»Ist er in der Nacht gegangen?«

Mutter nickte.

Ich atmete tief durch. Empörung und Enttäuschung stiegen in mir auf, sie schmeckten bitter. Ich dachte an unser unterbrochenes Gespräch und die Ankündigung seiner Abreise. Hatte er schon zu diesem Zeitpunkt gewusst, wann er aufbrechen musste? Waren es Worte des Abschieds gewesen, die er aussprechen wollte, die jedoch unausgesprochen geblieben waren? Und wollte er nur deshalb noch einmal einige Tage mit uns verbringen? Um sich gebührend verabschieden zu können?

Aber er hatte sich nicht von mir verabschiedet, er war davongeschlichen wie ein Dieb.

Mutter zog die Brauen in die Höhe. »Er war noch einmal bei dir im Zimmer und hat nach dir gesehen. Doch er wollte dich nicht wecken. Glaub mir, Hans, nur deswegen ist er ohne Gruß gegangen.«

»Wann kommt er wieder?«

»Ich will dich nicht belügen, ich weiß es nicht.«

»Sind die anderen Väter auch fort?«

»Viele Väter sind fort, ja, einige schon seit Tagen, andere sogar schon seit Wochen. Wiederum andere folgen ihnen nun.«

»Also kämpfen wir«, stellte ich fest. »Die Polen haben wieder provoziert. Muss Vater dorthin? Nach Polen?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Ist es geheim?«

»Das ist es, ja.« Mutter presste die Lippen zusammen. Schließlich wandte sie sich von mir ab, zog die Vorhänge beiseite und ließ das Tageslicht vollends herein. Feine Staubkörnchen tanzten in den ersten Sonnenstrahlen des Morgens. »Steh auf und wasch dich, Hans. Du musst zur Schule.« Nach dieser Aufforderung ging sie in die Küche.

Mein Zimmer war ein Durchgangszimmer, mit einem Fenster zur Straße und zwei Türen; eine führte in die Küche und die andere in den winzigen Waschraum mit der Toilette. Dorthin ging ich, nachdem ich aufgestanden war und der heiseren Stimme des Radiosprechers in der Küche gelauscht hatte, ohne genau verstehen zu können, was er sagte. Ich nahm Seife und ein Handtuch aus dem Regal, zog mich aus und wusch mich. Wie immer waren zuerst mein Kopf und die Haare dran, danach mein Oberkörper, die Beine und zum Schluss mein Unterleib. Ein Ritual, das Mutter mir beigebracht hatte. Mein Leben schien aus einer Aneinanderreihung von Gewohnheiten zu bestehen. Auch der Gang zur Schule und die zweimal in der Woche stattfindenden Treffen des Deutschen Jungvolks waren Teile davon.

Nachdem ich angezogen war, ging ich in die Küche und umarmte Mutter. Ich sog ihren Körpergeruch ein und einen eigentümlichen Duft nach würziger Seife, den ich schon immer gemocht hatte. Einen Augenblick lang verharrte sie, ohne die Umarmung zu erwidern. Ich wurde unsicher, doch ich ließ sie nicht los. Ich schmiegte mich noch fester an sie, stellte mich auf die Zehenspitzen und barg mein Gesicht in ihrer Achselhöhle. Die Sekunden quälten sich dahin, jede einzelne ließ mich die Sorge der Mutter spüren, bis auch sie mich umarmte.

»Hänschen, mein hübscher Junge«, sagte sie zärtlich.

Ich war erleichtert. Sie strich mir über den Kopf. »Mein hübscher, großer Junge.«

Gewiss war ich in ihren Augen schon recht groß, aber nur, weil sie mich groß sehen wollte. Ich ließ sie gewähren, obwohl ich es besser wusste. Jeder Hinweis darauf, dass ich in meiner Klasse zu den Kleinsten zählte, wäre sinnlos gewesen. Letztlich war ohnehin nur wichtig, was Mutter glaubte.

Aber trotz meines Mangels an Größe meinte es die Natur offenbar gut mit mir, glich sie diesen Makel doch aus, indem sie mich mit den breiten Schultern und kräftigen Armen meines Vaters, einem schönen Gesicht und blondem, dicht gewachsenem Haar bedacht hatte. Meine braunen Augen waren die Augen meiner Mutter, sie blickten warm und freundlich. Dass mein Profil eine ähnliche Schärfe wie die des Jägers auf dem gusseisernen Bild in unserem Esszimmer besaß, lag an meinen ausgeprägten Wangenknochen, dem spitzen Kinn und der Nase mit dem geraden Rücken.

Viele mochten mein Gesicht, das bekam ich oft zu hören. Auch von meiner Lehrerin und Frau Schöneweck, die Besitzerin der kleinen Bäckerei in unserer Straße. Während die Lehrerin es nur verhalten andeutete, wurde Frau Schöneweck deutlicher.

»Herrgott, Hans, dein Aussehen ist ein Geschenk unseres Schöpfers. Wirst sehen, schon bald werden die Mädchen dir nachstellen. Und ein Seufzen wird durch ihre Reihen gehen, wenn sie dich nur anschauen«, sagte sie jedes Mal, wenn ich samstags bei ihr im Laden auftauchte und Schrippen kaufte.

Ich nahm das Gesagte eher verlegen als stolz hin. Stolz war ich nur, wenn ich Vater gefiel. Eines Abends, als ich durch die Küche in mein Zimmer ging, hörte ich ihn mit Mutter im Esszimmer reden. Ich presste mein Ohr an die geschlossene Tür und lauschte. Was ich vernahm, beseelte und wärmte mich. Mit gedämpfter Stimme sagte Vater, dass ich ein kühnes Gesicht mit scharf geschnittenen, klaren Linien habe, die nicht einmal der begnadetste Künstler besser hätte zeichnen können. Es sei das Gesicht seines Vaters Hagen, der im ersten Weltkrieg gefallen war. Außerdem sei er froh, dass ich auch charakterlich gut geraten sei, ein Junge, der leicht erlernen würde, dass ein Mann alles, was er beginne, mit Würde und Anstand erledigen müsse. Am Schluss dankte er Mutter, dass sie ihm einen so prächtigen Sohn geschenkt habe.

Als ich an diesem Morgen mit dem Schulranzen auf dem Rücken vor unserem Haus stand, um mich auf den Weg in die Mittelschule zu machen, kamen mir Vaters Worte noch einmal in den Sinn. Doch dieses Mal begeisterten sie mich nicht. Stattdessen spürte ich einen Kloß im Hals. Ich schaute noch einmal in den zweiten Stock hinauf. Mutter stand am Küchenfenster und hob die Hand, was ihr sichtlich schwerer fiel als all die Tage und Wochen zuvor.

Bevor ich mich abwandte, erwiderte ich ihren Gruß und bemühte mich um ein aufmunterndes Lächeln.

Natürlich war das schnörkellose Gebäude mit der grauen Fassade und dem aus Eisen gegossenen Relief über der Haustür, auf dem das Baujahr mit 1867 angegeben wurde, nicht unser Haus, auch wenn ich es immer als unser Haus bezeichnete. Wir wohnten nur darin. Und mit uns noch andere Mieter. Im Parterre lebten die Zwillingsschwestern Margarethe und Ilse mit deren Mann Toni; alle drei waren noch recht jung, hatten die zwanzig erst kürzlich überschritten. Ilse war blind, ob von Geburt an oder ob eine Krankheit, vielleicht sogar ein Unfall ihr das Augenlicht geraubt hatte, wusste ich nicht. Ich erinnere mich allerdings noch genau, wie sehr mich ihre milchigen Augen faszinierten. Gleich, wo ich ihr begegnete, im Treppenhaus, im Hinterhof oder auf der Straße, immer suchte ich ihren Blick, der im Nirgendwo zu schweben schien. Aber trotz ihrer Behinderung wirkte Ilse mit ihrem aufreizenden Gang, den schönen Hüten und farbenfrohen Kleidern aus dünnem Stoff, die sie bei jedem Wetter trug, liebreizender und lebendiger als ihre Schwester, um deren dünne Beine stets nur dunkle Röcke flatterten und die ihren Rücken immer ein wenig krümmte, als wolle sie keine Blicke auf ihre großen Brüste ziehen. Margarethe wirkte unauffällig und spröde, wie eine Blume kurz vor dem Verwelken. Dann war da noch Frau Buchner, eine ältere Frau mit strenger Miene, die über uns lebte. Sie verließ ihre Wohnung nur, wenn sie es musste, weshalb ich sie selten zu Gesicht bekam. Ganz im Gegensatz zu unserem glatzköpfigen Blockleiter, der unterm Dach wohnte und stets geschäftig war, weil er keine Versammlung, keine Aktivität seiner Partei in unserem Viertel verpassen wollte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit demonstrierte Herr Tremmel seine Begeisterung für die politische Entwicklung in unserem Land, indem er die Hacken fest zusammenschlug, den rechten Arm mit flacher Hand auf Augenhöhe schräg nach oben riss und mit funkelnden Augen den deutschen Gruß zelebrierte, in heller Vorfreude auf dessen prompte Erwiderung.

Aber ich habe nicht nur das Haus als unser Haus bezeichnet, ich habe auch die Schreinerei im Hinterhof, in der Vater arbeitete, immer als unsere Schreinerei, die Straße, in der wir lebten, als unsere Straße und das Wohngebiet in Wilmersdorf als unser Viertel bezeichnet. Das war meine Welt, zu der auch mein Schulweg gehörte, der durch unseren Bezirk mit seinen prächtigen Kastanienbäumen und den gepflegten Mehrfamilienhäusern auf beiden Seiten der Straßen führte, vorbei an Frau Schönewecks Bäckerei, dem Gemüsegeschäft an der Ecke und der zerstörten Synagoge in der Prinzregentenstraße, die mit ihrem einst runden, überkuppelten Zentralbau eines der auffälligsten Gebäude in unserem Stadtteil gewesen war. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatte sie gebrannt, wie die Synagoge in der Franzensbader Straße und der jüdische Friedenstempel in der Markgraf-Albrecht-Straße auch. Ihre Überreste waren nicht beseitigt worden, die Fragmente der Grundmauern standen noch da wie ein drohender Fingerzeig, eine dunkle Prophezeiung, dass die inzwischen zum Alltag gehörenden Übergriffe auf Juden noch lange nicht enden sollten. An jedem Morgen, an dem ich die Ruine passierte, machte mich ihr Anblick traurig; sie verursachte eine seltsame Melancholie in mir, als spürte ich das Unrecht ihrer Zerstörung, das in den vom Brand geschwärzten Steinen einen stillen Ausdruck fand. Stets erinnerte ich mich daran, wie die Flammen aus dem Gebäude geschlagen waren und graue Rauchschwaden den Nachthimmel vernebelt hatten. Dann tat ich mich schwer, den Weg zur Schule fortzusetzen und mich nicht in meinen Gedanken zu verlieren. Ich versuchte, mir vorzustellen, was die Juden angesichts ihres zerstörten Bethauses fühlen mochten.

In Wilmersdorf lebten viele von ihnen. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass es damals hieß, unser Stadtteil habe den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil aller Berliner Bezirke. Es gab einen jüdischen Sportplatz in der Nähe des Bahnhofs Grunewald und einige jüdische Privatschulen, die jedoch wegen Überfüllung nicht alle Anmeldungen berücksichtigen konnten, weshalb auch in unserer Klasse ein jüdischer Junge saß.

Als David eines Tages nicht mehr zum Unterricht erschien, fragten wir unsere Lehrerin mit gebotener Zurückhaltung, warum er nicht mehr komme. Frau Friedrich antwortete, dass es jüdischen Kindern nun endlich nicht mehr erlaubt sei, die öffentlichen Schulen zu besuchen. Sie beugte sich verschwörerisch nach vorne. Der Jude sei von Beginn an unser geschichtlicher Feind gewesen, körperlich und geistig von Eigenschaften bestimmt, die uns völlig fremd seien. Die Trennung wäre ein weiterer und bedeutsamer Schritt, um die jüdische Rasse in letzter Konsequenz aus unserem Volkskörper auszuscheiden. Wie Kot, fügte sie grinsend hinzu. Das war im selben Jahr, in dem die Synagogen brannten, als das Leben Juden zunehmend schwieriger wurde und man immer mehr von ihnen zur polnischen Grenze brachte.

Ich begriff nicht, was sie angestellt haben sollten, dass wir sie derart verabscheuen mussten. Auch hatte ich bei David keine fremden Eigenschaften erkannt, er hatte einen völlig normalen Eindruck gemacht. Dennoch stellte ich Frau Friedrich keine weiteren Fragen, sondern schwieg, wie alle anderen auch.

»Ich hasse sie nicht, und du musst sie auch nicht hassen, aber du darfst niemandem erzählen oder durch Taten zeigen, dass wir sie nicht hassen«, erklärte Mutter mir, als ich sie einmal fragte, ob sie die Juden hasse und ob auch ich die Juden hassen müsse.

Mehr brauchte ich nicht zu wissen, um Erleichterung zu empfinden, weil ich nicht fähig war, David gering zu schätzen oder gar zu verabscheuen. Ich sah in ihm einen netten, wenn auch wortkargen Burschen, der sich von Anfang an alle Mühe gab, unsichtbar zu sein. Doch weil er jüdisch war, war er sichtbar. Von einigen Schülern wurde er gemieden, von anderen getreten und hin und wieder auch geschlagen. Und niemand stand ihm bei, auch ich nicht. Ich gehörte zu denen, die sich bereitwillig den Normen des Viertels und der Schule fügten. Und dazu passte es keinesfalls, sich für einen Juden einzusetzen, auch dann nicht, wenn ihm ein anderer Junge mit einem Messer einen Davidstern in die Brust ritzte.

An jenem Tag, kurz vor Weihnachten im Jahr 1937, war die Luft besonders frostig. Der in der Nacht gefallene Schnee glänzte auf den Bäumen und Dächern, und der undurchlässig graue Himmel versprach noch mehr Niederschlag, worüber ich mich freute. Mir gefiel es, wenn es schneite. Ich war vergnügt, wenn die Straßen aussahen, als wären sie mit Puderzucker bedeckt, meine Schritte frische Abdrücke im Schnee hinterließen und ich Eiszapfen von den Vordächern abbrechen und in den Mund stecken konnte, um die Kälte auf der Zunge zu spüren. Aber die größte Freude bereitete es mir, wenn der Schnee in dicken Flocken fiel und diese leise im Wind gegen die Fenster unseres Klassenzimmers stießen, als würden sie um Einlass bitten. Dann stellte ich mir vor, wie schön es jetzt sein müsse, in einem gemütlichen Raum am Feuer zu sitzen, das in einem Kamin flackerte, und von dort aus zu beobachten, wie die Welt draußen immer weißer wurde, bis das Weiß in den Augen brannte.

Als der Gong das Ende des Unterrichts verkündete, packten wir hastig unsere Schulsachen und eilten aus dem Gebäude, um vor dem schmiedeeisernen Tor der Schule eine Schneeballschlacht zu beginnen. Ein Haufen Schüler, die mit lautstarkem Gejohle einander jagten, sich mit Schneebällen bewarfen, jubelten, wenn sie trafen, und fluchten, wenn sie getroffen wurden. Manche zankten sich, nur um kurz darauf wieder zusammenzustehen und sich zu versöhnen. Die Luft war erfüllt von heiterem Lachen und Geschrei. Aber das Treiben dauerte nicht lange. Unsere Hosen, Jacken und Handschuhe waren bald schon nass. Schnell sehnten wir uns nach Wärme und fingen an, unsere vor Kälte schmerzenden Gesichter zu reiben. Vielleicht war ich nasser als die anderen und sehnte mich noch mehr als die anderen nach Wärme und war deshalb der Erste, der sich verabschiedete. Aber gerade, als ich mich auf den Heimweg machen wollte, sah ich in der Ferne eine Gestalt, die mit hängenden Schultern davonging. Es war David, ohne jeden Zweifel. Er hatte sich der Schneeballschlacht entzogen. Wieder einmal war er bemüht gewesen, jeder Aufmerksamkeit zu entgehen. Er wollte unauffällig verschwinden, doch zwei größere Gestalten verfolgten ihn. Mir wurde flau im Magen, als ich in ihnen die Oberschüler Erwin Kroschke und Franz Ziegler erkannte.

Erwin stammte aus einer wohlhabenden Metzgerfamilie, die etliche Geschäfte in mehreren Berliner Bezirken betrieb und einige Straßen von uns entfernt in einem imposanten Haus inmitten eines gepflegten Parks mit verschlungenen Wegen und einem großen Fischteich lebte. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, zählten Erwins Eltern Mitglieder der obersten Parteiführung zu ihrer Kundschaft, und manch einer flüsterte, sie würden sogar die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße mit Fleisch beliefern. Außerdem gab es unter den Kindern das Gerücht, dass der Metzgersohn nie ohne sein Schweizer Messer mit Griffschalen aus geschwärztem Eichenholz das Haus verließ. Er trüge es immer in seiner rechten Hosentasche, jederzeit bereit, anderen, vor allem jüngeren Kindern, furchtbare Angst einzujagen, indem er es vor ihnen aufklappte und mit der Klinge wild durch die Luft schnitt, als handelte es sich bei dem Messer um einen Degen. Erwin war zwei Jahre älter als ich, ein unberechenbarer Junge, dem ich möglichst aus dem Weg ging, wenn er durch die Straßen schlenderte, fortwährend auf der Suche nach einer Gelegenheit, seine Stärke und Unerbittlichkeit zu demonstrieren. Manchmal fand er sie, manchmal auch nicht.

An diesem Tag fand er sie. Ich beobachtete, wie er und Franz losliefen, bis sie David, der die Gefahr zu spät erkannt und deshalb auch zu spät zu fliehen begonnen hatte, in Höhe eines Pritschenwagens stellten. Sie blieben vor dem Jungen stehen und bauten sich bedrohlich vor ihm auf. Inzwischen hatten sich mehrere Klassenkameraden zu mir gesellt, und als auch sie begriffen, was sich in einiger Entfernung zutrug, rannten sie in der Erwartung los, dass Erwin ein Opfer gefunden hatte und zumindest heute alle anderen in Ruhe lassen würde. Niemand wollte ein mögliches Spektakel verpassen. Ohne zu überlegen, lief ich mit.

Im Nachhinein habe mich gefragt, was geschehen wäre, wenn wir ignoriert hätten, was am anderen Ende der Straße geschah. Ich habe mich gefragt, ob wir Erwin durch unser Erscheinen erst zum Handeln motivierten, ob er sich durch unser Auftauchen verführen ließ, wie sich ein Athlet verführen lässt, den Jubel und Applaus im Stadion zur Bestleistung tragen. Vielleicht hätte der Metzgersohn den jüdischen Jungen nur bedroht, ihn aber nicht verletzt und gedemütigt, wenn wir dem Geschehen ferngeblieben wären.

Nachdem wir die drei Jungs erreicht hatten, bildeten wir einen Kreis um sie, ohne uns bewusst zu sein, dass wir David auf diese Weise jede Fluchtmöglichkeit raubten.

Erwin legte den Kopf schräg, musterte sein Opfer und setzte ein breites Grinsen auf. »Ich habe gehört, du heißt David. Stimmt das? Heißt du wirklich so wie der Schafhirte, der den Riesen besiegt hat?«

Obschon David erschrocken und ängstlich wirkte, nickte er und sagte leise: »Ja, so heiße ich …«

»David wurde zum König gekrönt, nachdem er den Riesen getötet hatte, richtig?« Erwin kannte Davids Namen, er kannte die Geschichte von dem Schafhirten, der den Riesen besiegt hatte, und er wusste, dass dieser einst König der Israeliten gewesen war. Plötzlich verstand ich. Alle verstanden es. David schaute Erwin an, mit flehenden Augen. Lass mich in Ruhe, sagten diese Augen. Lass mich bitte in Ruhe, ich bin kein mutiger Hirte, ich bin nur ein verängstigtes Schaf auf dem Weg nach Hause …

»Du musst stolz sein, den Namen eines Königs zu tragen«, sagte Erwin und verzog abermals den Mund zu einem herablassenden Grinsen. »Ich wäre stolz darauf.«

»Ich … nein …«, stotterte David.

»Nein? Du bist nicht stolz darauf? Du bist nicht stolz, einen Namen zu tragen wie ein jüdischer König? Bist du etwa auch nicht stolz darauf, ein Jude zu sein?« Erwin tat überrascht. Er schob seine Hand in die rechte Hosentasche. Ich hielt die Luft an, weil ich ahnte, was sich darin befand. »Der Riese, verflucht, wie hieß der Riese noch mal? Weißt du es noch?«

»Goliath«, stieß David hervor. »Der Riese hieß Goliath.«

»Goliath, richtig. Könntest du einen Riesen wie Goliath besiegen, David?« Erwin ließ nicht locker. »Ihn töten?«

David schüttelte den Kopf. »Nein, ich könnte keinen Riesen besiegen …«

»Und wenn ich Goliath wäre? Glaubst du, du könntest mich besiegen?«

David schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal noch heftiger.

»Du bist feige, David. Dein Volk ist feige, und das ist schlecht für dich und alle Juden.« Erwin zückte das Messer und klappte es auf. Dann leckte er mit der Zunge über die scharfe Klinge. Franz lachte schallend los.

Davids Gesicht wurde blass, auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken, und aus seinem Mund kam ein pfeifender Ton.

Ich biss auf meine Lippen und rieb die Daumen mit den Zeigefingern, wie Mutter es tat, wenn sie dem Radiosprecher lauschte. Ich litt mit David, aber ich war voller Angst, und deshalb nicht fähig, einzugreifen. Mein Herz sandte ein Signal aus, dass ich Mut aufbringen, das Richtige tun und dem Unterlegenen beistehen sollte, aber mein Verstand wies das Herz zurück, weil Mut allein nicht ausreichen und der eigene, zu erwartende Schmerz ein Eingreifen nicht verzeihen würde. Ich war stark, aber sicher nicht stark genug, um Erwin entgegenzutreten. Also sah ich mit aufgerissenen Augen und halb offenem Mund zu und klammerte mich an dem fest, was Mutter mir eingebläut hatte: Ich hasse sie nicht, und du musst sie auch nicht hassen, aber du darfst niemandem erzählen oder durch Taten zeigen, dass wir sie nicht hassen.

»Ich werde dir jetzt zeigen, wohin es führt, wenn man feige ist. Ich werde dir einen Judenstern in die Brust ritzen, David. Kapierst du, was ich sage? Einen verdammten Judenstern werde ich dir ins Fleisch schneiden«, verkündete Erwin mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er es ernst meinte. Er trat einen Schritt auf sein Opfer zu.

David wollte ausweichen und ging rückwärts, aber er stieß gegen eine Wand aus eng beieinanderstehenden Körpern. Franz schnellte vor und trat mit voller Wucht in die rechte Kniekehle des bedrängten Jungen. David stürzte zu Boden. Ein paar Jungs aus dem Kreis johlten, andere blieben stumm.

Wie ein Raubtier stürzte sich Erwin auf den am Boden Liegenden, riss ihm die Jacke auf und zerschnitt seinen Pullover und das Unterhemd. Er setzte sich auf ihn, während Franz sich auf die Knie fallen ließ und Davids Kopf zwischen seine Oberschenkel presste. Dann griff er nach Davids Handgelenken, umschloss sie und fixierte seine Arme am Boden.

Ich sah schreckliche Panik in den Augen des jüdischen Jungen lodern, als er bemerkte, dass er sich nicht mehr wehren konnte. Er steckte fest, eingezwängt wie in einem Schraubstock. Dennoch wollte er seine Angst nicht zeigen und sog stoßweise Luft zwischen seinen zusammengepressten Zähnen ein, aber als Erwin die Klinge auf seine linke Brust setzte und zu ritzen begann, kamen ihm die Tränen. Zunächst schluchzte er nur, doch schon bald übermannte ihn der Schmerz. Er heulte los und schrie. Es klang erbärmlich, und sogar die, die eben noch höhnisch gelacht hatten, schwiegen plötzlich. Die Lust am Zuschauen verwandelte sich in lähmendes Entsetzen.

»Du brüllst wie ein Schwein, das mein Vater auf die Schlachtbank führt«, grölte Erwin triumphierend. Blut rann über die Schneide seines Messers. Sein feistes Gesicht, von glühender Röte überzogen, war von einschüchternder Wildheit. Er schnitt weiter, voller Entschlossenheit, sein Werk zu vollenden. Er wollte David eine bleibende Wunde zufügen, eine Verletzung, die eine wulstige Narbe hinterlassen und den Juden ein Leben lang an diese besondere Schmach erinnern sollte. »Schrei, König von Israel, ich will, dass du noch viel lauter schreist …!«

Davids Gesicht war verschmiert von Dreck und Tränen, als Erwin sein Werk vollbracht hatte, aufstand und den blutverschmierten Stern auf Davids linker Brust und den dunklen Fleck zwischen dessen Beinen begutachtete. Zufrieden klappte er sein Messer zusammen, steckte es in die Hosentasche und bedeutete Franz, sein Opfer loszulassen und ebenfalls aufzustehen. Dann sah er jedem von uns in die Augen, prüfend, argwöhnisch. Wir erstarrten unter seinem kalten Blick.

»Schaut ihn euch an, den nach Pisse stinkenden König der Juden. Schaut ihn euch genau an …!« In seine Stimme mischte sich Zynismus, der grausam klang. Langsam stolzierte er im Kreis umher, ungeniert und im Bewusstsein einer infamen Tat setzte er Fuß vor Fuß, fühlte sich offensichtlich beschwingt, energisch und siegestrunken. Franz folgte ihm wie ein Schatten. Als sie sich mir näherten, hoffte ich, dass sie mir nicht ins Gesicht blicken und meine Angst und die schlecht unterdrückte Missbilligung sehen würden. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und wäre am liebsten im Boden versunken, vor lauter Scham und Furcht. Wie erleichtert ich doch war, als Erwin und Franz an mir vorübergingen. Und noch erleichterter war ich, als sie verschwanden. Mit federnden Schritten und hochgereckten Hälsen spazierten sie durch die Lücke des sich widerstandslos öffnenden Kreises, ohne noch etwas hinzuzufügen, als sei alles gesagt und jedes weitere Wort zu viel.

Ich war wütend, ich war aufgebracht, ich fühlte mich von der eigenen Mutlosigkeit gebrandmarkt und wollte nur schnell nach Hause. Leise stahl ich mich davon, passierte den Pritschenwagen, überquerte die Straße, fing an zu laufen, stolperte, fiel auf den schneebedeckten Asphalt, stand wieder auf und lief weiter. Mein Ranzen war schwer, ich spürte sein Gewicht auf meinem Rücken, so wie ich das Gewicht der Schuld auf meinen Schultern spürte. Ich versuchte, das Bild von Davids Angst aus meinem Kopf zu bekommen, seine vor Schrecken geweiteten Augen, seine Schreie und die blutende Wunde auf seiner Brust. Aber es gelang mir nicht. Genauso wenig gelang es mir, meine eigene Furcht vor Erwin Kroschke einzudämmen. Ich hoffte inbrünstig, nie wieder seinen Weg zu kreuzen.

Am nächsten Morgen erlebte ich eine Überraschung. David Bloch saß wieder in unserem Klassenzimmer. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, dass er nicht wiederkommen oder dem Unterricht zumindest für ein paar Tage fernbleiben würde. Bis der Schrecken ein wenig von seiner Kraft eingebüßt hatte. Aber David war gekommen, er saß an seinem Platz, zwei Reihen vor mir. Und weil ich nicht anders konnte, beobachtete ich ihn fortwährend, unauffällig und tatenlos wie am Vortag. Dabei hätte ich die wenigen Gelegenheiten in den Pausen nutzen sollen, hätte ihn ansprechen und sagen müssen, was in einer solchen Situation zu sagen war. Dass es mir leidtue, was geschehen sei. Dass meine Nichteinmischung keineswegs an ihm gelegen habe, vielmehr sei ich an meiner eigenen Angst gescheitert. Dass ich etwas für ihn tun wolle, wenn er mich um etwas bitte. Doch ich konnte mich nicht überwinden, brachte die Worte einfach nicht über meine Lippen und beschränkte mich aufs bloße Starren, wobei ich bemerkte, wie fahl David war, wie glanzlos seine Augen blickten, wie in sich gekehrt er dasaß, noch in sich gekehrter als sonst, und wie leblos er wirkte, als wäre etwas in ihm gestorben. Als hätte Erwin Kroschke nicht nur ein blutiges Mal in seine Brust geschnitzt, sondern ihm auch noch den letzten Rest von Lebenslust geraubt. Und erneut spürte ich die Last der Scham, denn ich wusste, dass ich diesen Raub durch meine Untätigkeit gebilligt hatte.

Briefe von Toni

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