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1 - Ein Spross am Hofe

Als ich das Zischen der Herdplatte hörte, wusste ich, dass ich ein Problem hatte. Es war eine Verwicklung auf einer Liste von vielen Problemen. Es wurden einfach nicht weniger. Ganz im Gegenteil. Es wurden von Tag zu Tag mehr Probleme. So kam es mir zumindest vor. Dabei war dieses Geräusch aus der Küche wohl das kleinste Problem. Gut, ich würde mal wieder den Herd sauber machen müssen und wir hätten heute nichts zu essen, aber war das wirklich so wichtig? Natürlich war Essen wichtig, aber war es so wichtig wie die eigene Freiheit? Wohl kaum. Jetzt mag man sich selbstredend denken, was um Gottes willen übertreibt der denn? Aber ich kann mit Fug und Recht behaupten, hier wird nicht übertrieben. Nun, vielleicht sollte ich ganz von vorne anfangen. Und ganz von vorne heißt in diesem Zusammenhang vor ungefähr sechs Wochen.

Es war ein Sonntagmorgen im April. Sechs Wochen und einen Tag ist es her, als meine Frau Petra und ich nach dem gemeinschaftlichen Frühstück ein wenig in der Küche sitzen geblieben waren. Isabel, unsere beinahe zehnjährige Tochter, war bereits auf ihr Zimmer gegangen, um dort ein Hörbuch zu hören. Aber vielleicht sollte ich noch etwas weiter ausholen.

Petra und ich kennen uns seit fünf Jahren. Vor drei Jahren haben wir geheiratet. Als wir uns damals kennengelernt hatten, habe ich noch bei der Klabautermann GmbH in Bremen Mahndorf gearbeitet. Mein ehemaliger Chef, F.S. Mester, war allerdings nur stark eingeschränkt für eine Geschäftsführung geeignet, was sich letztlich nicht nur in einer Insolvenz, sondern auch in meiner Kündigung geäußert hatte. Nach kurzer Arbeitslosigkeit fand ich eine Anstellung bei einem noch kleineren Unternehmen, aber mit wesentlich größerem Chef. Leider musste ich feststellen, dass Körpergröße nicht alles ist. Es kommt auch auf die geistige Kompetenz an. Wie aber jeder weiß, ist diese Fähigkeit von der Körperbeschaffenheit vollkommen unabhängig. Ja, bei genauer Betrachtung muss man obendrein feststellen, dass sich für den Intellekt des deutschen, vielleicht sogar weltweiten, Unternehmertums ein Mittelwert ergibt. Der eines Reiskorns, also eines sehr kleinen Objektes, das sich mit Flüssigkeit vollsaugt, um größer zu wirken. Wie ein Schwamm. Lange Rede, kurzer Sinn: Vom Schwamm aus Platzmangel gefeuert, verlor ich auch jene Arbeitsstelle kürzlich. Nun bin ich gesellschaftlich wieder vollkommen nutzlos und parasitär. Aber das sind soziale Nuancen.

Während der ersten Beschäftigung also habe ich meine große Liebe Petra kennengelernt. Petra Renneisen ist ungefähr ein Meter und achtzig Zentimeter groß, schlank, mit schulterlangen, blonden Haaren und ostfriesischer Herkunft. Zur Zeit unseres Kennenlernens war sie eine selbstständige alleinerziehende Mutter einer pfiffigen Fünfjährigen. Heute ist sie nicht mehr alleinstehend, sondern meine Frau, aber die Kleine ist immer noch pfiffig. Zudem sind beide meiner ›Frauen‹, die Kleine und die Große, schön, warmherzig und intelligent. Was unsere Tochter noch nicht ist, ist eine ausgebildete Ingenieurin, so wie Petra, die beim örtlichen Landkreis in Osterholz-Scharmbeck arbeitet.

Isabel besucht mittlerweile das hiesige Gymnasium. Petra und ich hegen den schwindenden Glaube, dass das Kind wenigstens dort lesen, schreiben und rechnen lernt. Aber die Hoffnung hatten wir von der Grundschule auch.

Der letzte Familienangehörige in unserem Eigenheim, neben mir, ist Lina, eine dreijährige, schwarz-weiße Dackelmischlingshündin. Mit braunem Fell sähe sie aus wie ein Erdmännchen. Alle anderen Eigenschaften der Nicht-Artverwandten hat sie schon. Sie steht oft auf zwei Beinen, um über die Rasenkante schauen zu können, und verkriecht sich bei aufkommender Gefahr unmittelbar in der nächstgelegenen Höhle. Dabei sind Licht, Luft, Wasser und alle sonstigen Dinge in ihrer Umgebung grundsätzlich potenziell bedrohlich. Auch das eigene Futter.

Mein Name, der letzte im Bunde, ist Tobias Renneisen. Vor gut acht Jahren aus meiner alten Heimat Aachen nach Bremen gezogen, bin ich mittlerweile Osterholz-Scharmbecker. Etwas größer als meine Frau, mit bräunlichem Haar und ohne ostfriesische Wurzeln, erinnert meine äußere Erscheinung so manchen Großwildjäger eher an einen Bären, als an einen Aachener. Das mag an der üppigen Brustbehaarung liegen, aber versuchen Sie das einmal einem Intelligenzverweigerer mit Gewehr zu erklären, der Ihnen im Wald über den Weg läuft. Da laufen Sie besser, schnell wie ein Bär. Trotz meiner Geburt in einer Karnevalsstadt, verbindet mich im Übrigen nichts mit dieser Tradition. Wenn ich fröhliche, feiernde, betrunkene Hohlbirnen in absurden Kostümen jedes menschenwürdige Verantwortungsgefühl aufs Kreuz legen sehen will, dann schau ich um 20 Uhr die Nachrichten. Aber, es ist ja, wie es ist, nicht wahr?

Vor etwa vier Jahren bin ich dann zu meiner Frau gezogen, die zu jener Zeit mit Isabel bereits in einer Neubausiedlung in Osterholz-Scharmbeck, nördlich von Bremen, beheimatet war. Das kleine 30.000 Seelen Dorf, obwohl ja eigentlich eine Kreisstadt, war für mich zunächst eine große Umstellung, war ich doch voluminösere Städte gewohnt. Doch das ländliche Ambiente hat viele Vorzüge. Auch wenn sich in meinem Herz und Hirn der jetzt heimische Straßenname, die ›Schwarzbraune Haselnussgasse Nr. 3‹, nur schwer verankern lässt. Wie dem auch sei, man sagt ja: »Wo die Liebe hinfällt ...!« Bei mir fiel sie in etwas Schwarzbraunes.

Die ›Schwarzbraune Haselnussgasse‹ ist seit nunmehr vier Jahren meine Heimat. Da es für den Fortlauf der Geschichte nicht unerheblich ist, lassen Sie mich noch einige Worte zu den örtlichen Gegebenheiten erklären. Die ›Schwarzbraune Haselnussgasse‹ ist eine Sackgasse. Dabei umfasst das ›Sträßchen‹ sieben Einfamilienhäuser. Hausnummer 3 ist unser Heim, das der Familie Renneisen. Links nebenan wohnt ein erst seit kurzem verheiratetes Paar, Sybille Renata und Peter Rennspieß, wobei nach der Hochzeit beide ihre Familiennamen behalten haben. Zu unserer rechten Seite wohnen die Chiffons, wo ebenfalls die Ehepartner ihre Namen nicht geändert haben. Die Mutter der vierköpfigen Familie heißt Bernadette Chiffon, der Vater Samuel Winter, beide Ende zwanzig. Die zwei Töchter, Estelle und Elisabeth, sind etwas jünger als Isabel. Neben den Chiffons steht noch ein weiteres Haus, mit dessen Bewohnerin, Frau Agnieszka Schmidthuber-Schtscherbakow, mich eine ganz persönliche Vergangenheit verbindet. Das wichtigste in Kürze, sie war meine Sachbearbeiterin auf dem ortsansässigen Arbeitsamt und ich habe ihr mal in den Hausflur gekotzt. Aber was soll man in den schönen Zeiten der Vergangenheit leben, wenn die Zukunft doch so viel neue Möglichkeiten bietet?

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befinden sich drei weitere Häuser. Im vordersten Anwesen, also Hausnummer 2, wohnen die Pfeffers, Anneliese und Hans-Jürgen, Ende sechzig und im Ruhestand. Neben den Pfeffers residieren die Winklers, Andrea und Jens, beide Mitte dreißig und stolze Eltern ihres kleinen Sohnes Justus. In Hausnummer 6 neben den Winklers wohnt Judith de Haan, ungefähr vierzig, mit ihren Kindern Florentin und Saskia, die als Schüler des örtlichen Gymnasiums höhere Jahrgangsstufen besuchen als Isabel.

Abgesehen von dem Namen, ›Schwarzbraune Haselnussgasse‹, ist es ein schöner und ruhiger Ort zum Leben. Frische Landluft, kein ohrenbetäubender Straßenlärm der Großstädte und viele Möglichkeiten für die verschiedensten Aktivitäten, im eigenen, und auch in anderen Gärten. Ja, meine neue Heimat.

Und so saßen wir und genossen unsere zweite Tasse Kaffee, nachdem wir die Zeitung und die Reklame des heutigen Tages studiert und die Angebotsjagd der kommenden Woche eingängig besprochen hatten. Im Anschluss nahmen wir jeder unser Tablet und machten dieses und jenes. Ich musste auf der digitalen Farm dringend die Hühner füttern, und auch die Kühe gucken hungrig.

»Komisch«, kam es von meiner Frau.

»Was?«

»Das hier«, bemerkte Petra und zeigte dabei auf ihr Tablet.

»Geht es etwas genauer?«, erwiderte ich. Was sie auf ihrem Gerät meinte, konnte ich nicht erkennen.

»Rüdiger hat gestern Abend noch eine E-Mail geschickt«, antwortete meine Frau. »Der Elternsprecher, du weißt?«

Ich zog die Augenbrauen hoch und deutete meiner Frau damit, dass ich wusste. Rüdiger, ja, der war mir seit dem letzten Elternabend, an dem ich anwesend gewesen war, im Gedächtnis geblieben. »Und?«, fragte ich.

»Wegen des Elternabends, letztens, als wir keine Zeit hatten. Er hat das Protokoll geschickt.«

»Das hat er aber fein gemacht«, sagte ich, während ich meinen Hühnern das Korn hinwarf. »Und?«

»Und eigentlich steht gar nichts drin.«

Ich nahm den Blick von dem elektronischen Geflügel und schaute zu Petra.

»Das hat er aber nicht fein gemacht, oder?«

»Na ja«, zögerte sie, »ich leite dir die Mail mal weiter. Kannst es dir ja mal anschauen.«

Ich ließ mich nicht lange bitten. Dinge, die unsere Tochter angingen und die Schule, standen für mich immer an erster Stelle. Ich ließ die Pixel-Schweine daher noch ein wenig hungern, schloss das Programm und öffnete die weitergeleitete E-Mail meiner Frau.

»Wenn ich so darüber nachdenke«, meine Frau stutzte kurz, »bin ich gar nicht so sicher, ob es klug ist, wenn du das Protokoll liest.«

Ich wollte hierauf schon etwas erwidern, sah dann aber beim zweiten Nachdenken davon ab, denn im Grunde wusste ich, dass sie recht hatte. Jede Nachricht aus der Schule unserer Tochter war für mich Brennholz, um den in mir brodelnden Kessel zu heizen. Es hat eine lange Zeit in meinem Werdegang gegeben, da hatte mich das deutsche Bildungssystem schlichtweg nicht interessiert. Nun befand ich mich in einer Phase des Lebens, da gleich zwei Katastrophen auf einmal über mich hereinbrachen. Unsere Tochter Isabel besuchte das ansässige Gymnasium und ich hatte eine Stelle als Lehrbeauftragter an der Hochschule in Bremen angetreten. Zunächst hatte ich mich noch gewundert, warum die Studenten die deutsche Orthografie in etwa so gut beherrschten, wie senegalesische Ochsen, aber da jetzt meine kleine Tochter aktiver Teil des deutschen Bildungssystems war, kannte ich die Gründe dafür. Ich hatte unlängst die Gemeinsamkeit von Bulimiekranken und Eltern mit schulpflichtigen Kindern in Deutschland gelernt. Beide wollten sich zum Kotzen den Finger in den Hals stecken. Da gab es, wie ich meinte, nichts zu beschönigen. Aus diesem Grund vermutete ich schon länger, dass Petra mir keinesfalls alle Nachrichten aus der Schule mitteilte. Ich war deswegen nicht sauer, ich konnte sie verstehen. Wenn es so manches Mal aus mir heraus brach, wollte ich im Grunde selbst nicht mit mir in einem Zimmer sein. Ähnlich erging es mir wieder, als ich die Mitschrift des Elternabends öffnete.

»Du hast das ganze Protokoll schon gelesen, Schatz?«

»Weitestgehend«, antwortete Petra vorsichtig.

»Du hättest es mir nicht weiterleiten dürfen.«

»Habe ich mir auch gedacht, aber warum sollte diesmal nur ich mich aufregen. Lass uns beisammen stehen«, meine Frau klimperte mit den Augen, »Schatz!«

»Ja, Schatz, gerne!« Ich wischte über mein Tablet und blätterte in dem sechsseitigen Dokument zurück. »Also, hier steht, die Klasse ist eine Klasse mit netten und größtenteils leistungsstarken Schülern und Schülerinnen.« Ich schaute zu meiner Frau auf. »Ich glaube, nett ist die kleine Schwester von Scheiße, oder?« Petra erwiderte nichts. »Das Arbeitsverhalten der Klasse ist aber schon seit langem gar nicht gut. Die Leistungen sind zum Teil nicht ausreichend, so dass befürchtet werden kann, dass einige die Lernziele nicht erreichen.« Ich machte eine kurze Pause und überlegte. »Ist das in einem Klassenverband nicht ganz normal?«

»Du meinst, gute und schlechte Schüler in einer Klasse?«

»Ja.«

»Sowas gab es nur zu unserer Zeit, Tobi.«

»Ach so«, ich schmunzelte und überflog noch einmal schweigend das Dokument. Gelegentlich genehmigte ich mir einen Schluck Kaffee.

»Die Hausaufgaben werden vielfältig nicht gemacht«, stellte ich fest. »Und was ist das mit der Hausaufgabenbetreuung?« Ich schaute fragend zu meiner Frau. »Ah, hier steht es. Das machen Obenstufenschüler und -schülerinnen für einen gewissen Obolus. Das ist jetzt aber mal genial. Das nennt sich ›Arbeit delegieren‹. Das kennt man aus der Arbeitswelt auch. Da lernt man direkt was fürs Leben.«

»Und?«, fragte Petra.

Ich schaute meiner Frau in die Augen und spürte deutlich meinen inneren Kessel brodeln. Doch noch hielt ich dem psychischen Druck stand.

»Na ja, ist ja auch egal«, ich schüttelte den Kopf und ersparte mir eine bissige Bemerkung über Sinn und Zweck des Berufsstandes eines Lehrers. »Offensichtlich«, ich ließ den Blick wieder auf das Protokoll sinken, »ist es in der Klasse viel zu laut.«

»Ja?«, meine Frau lächelte mir wissend entgegen.

»Ja, hier kommt der Absatz zum Arbeitsverhalten im Klassenzimmer und dem Geräuschpegel. Warte mal!« Ich überflog den kleinen Passus. »Die Lautstärke ist zu hoch weil, andauernde Gespräche mit Sitznachbarn stattfinden, Redebeiträge anderer Schüler kommentiert werden, mit Gegenständen herumgespielt wird, wie Flaschen, Fußbällen?« Ich schaute Petra fragend an. »Kannst du mir mal verraten, was Fußbälle im Klassenraum zu suchen haben?« Petra zuckte mit den Schultern. Ich schüttelte erneut den Kopf. »Herumlaufen im Unterrichtsraum?« Wieder blickte ich zu meiner Frau, die mir mit der gleichen Verständnislosigkeit in den Augen, den Spiegel vorhielt. Ich war tatsächlich versucht, mich auf den Küchenboden zu setzen. »Und hier, ganz wichtig, häufige Toilettengänge?«

»Ja, das war in der Grundschule dasselbe Trauerspiel«, bemerkte Petra.

»Dort haben die Schüler ja das ganze Verhalten gelernt. Ich möchte auf der weiterführenden Bildungseinrichtung auch nicht Lehrer sein und die Missstände der Grundschule ausbügeln. Da lernen in der Schule die Schüler alle ihre Rechte jeweiligen, aber an ihre Pflichten werden sie nur selten erinnert. Müssen die armen Kinderchen heutzutage immer im Unterricht auf die Toilette. Können die nicht in den Pausen und dann zwei Stunden dichthalten?« Ich erwartete selbstverständlich keine Antwort. »Ich meine, wenn was Spannendes im Fernsehen läuft oder die gerade vor einem tollen Computerspiel hocken«, ich gab mit einer kurzen Unterbrechung der Aussage Nachdruck. »Die Kinder würden dabei eher in die Hosen pinkeln, als eine Pause einzulegen.«

»Ich geb dir ja recht, aber was sollen die Lehrer denn machen? Den Gang aufs Klo verbieten, dürfen sie ja nicht.«

»Windeln! Das ist die Lösung. Verpass den Kids während des Unterrichts wieder Windeln und du wärst überrascht, wie lange die auf einmal dichthalten können und nicht mehr Müssen müssen!«

Petra senkte den Blick.

»Du bleibst nicht ernst, Tobi!«

»Wieso vermutest du eigentlich immer, ich würde sowas nicht ernst meinen?«

»Was soll ich dazu sagen, Schatz?«

»Sag's einfach!«

»Tobi, du schweifst ab! Ich nehme dich nicht beim Wort, weil du heutzutage Kinder eines Gymnasiums nicht mit Windeln ausstaffieren kannst.«

»Nicht?«

»Nein!«

»Schade.«

»Toilettengänge dürfen aus rechtlichen Gründen nicht untersagt werden. Es ist ein Grundbedürfnis.«

»Das ist Vögeln auch!«, stellte ich missbilligend fest.

»Ja, ja«, kommentierte Petra abfällig. »Du bist mit deinen Argumenten immer sehr treffsicher«, wies sie mich mit deutlich sarkastischem Unterton zurück.

»Deshalb mag mich keiner.«

»Ich dich schon«, Petra schlug die Augen auf. »Nur nicht im Moment.«

»Na ja«, ich ließ von dieser Argumentationsspirale, die meinen charakterlichen Tod bedeutet hätte, besser ab. »Es gibt aber glücklicherweise jetzt Verhaltensregeln«, bemerkte ich mit erneutem Blick in das Protokoll.

Ich war schon wieder versucht, mich auf den Küchenboden zu setzen. Diesmal aber, weil ich das Bedürfnis verspürte, zu weinen.

»Und ich hatte anfangs noch gehofft, diese Regeln würden in der ersten Klasse bereits vermittelt. Wie naiv ich doch war.«

»Man möchte heulen, oder?«

Ich stutzte. Meine Frau war wieder bei mir und hatte in mir gelesen, wie in einem offenen Buch.

»Gruselig. Weißt du, letztens, auf der Abiturzeugnisvergabe, wo wir waren?« Petra nickte. »Die Schüler bekamen Auszeichnungen in Physik, Mathe, Biologie, Deutsch, Englisch, Französisch, Musik, Geschichte, habe ich noch was vergessen? Dann sitzen die bei mir später in der Klausur und schreiben so schwere Fachbegriff, wie ›nämlich‹, mit ›h‹. Anschließend kommen sie dann noch zu mir, um sich über die Note zu beschweren. Herrje, dabei wird die Rechtschreibung nicht mal bewertet. Ich prüfe nur den fachlichen Inhalt der Werkstofftechnik. Wenn ich die Orthografie und die Grammatik in die Wertung mit einbeziehen würde, es würde ja keiner mehr bestehen. Aber nein, die kommen dann mit ihren Handys an und zeigen mir abfotografierte Klausuren ihrer Vorgänger, von denen sie wahrscheinlich in der Prüfung abgeschrieben haben, und beschweren sich, dass ich ihnen nun einen halben Punkt weniger gegeben habe. Tja, hab ich halt den Anspruch erhöht. Aber Herr Renneisen, das können Sie doch nicht.« Ich atmete noch einmal tief ein. »Doch, das kann ich. Ich bin mich nämlich, ohne ›h‹, der verfickte Prüfer und solange sie in meiner Prüfung sitzen, kann ich mit ihnen machen, was ich will!«

»Manchmal bist du ziemlich gemein, oder?«, fragte Petra, obwohl es eher eine Feststellung war. Ich nahm es sogar als Kompliment.

»Erwachsen, Schatz, das Wort, das du eigentlich meintest, ist erwachsen. Ich übe nur meine Aufgabe aus. Ich vermittle Inhalte, die ich dann, entsprechend dem von mir angelegten Maßstab, abfrage und prüfe. Das ist der Job. Master und Diplome an lernfaule Hohlbirnen zu verteilen, ist nicht mein Job. Ich weiß, ich schweife ab.«

»So sieht es aus!«, bestätigte meine Frau. Dabei war mir schon bewusst, dass sie im Grunde ebenso dachte, wie ich. Wir hatten zwar gelegentliche Differenzen und abweichende Meinungen, was Schulsystem und Lernprinzipien anging, doch letztendlich kamen wir aus derselben Generation. Natürlich fragten wir uns manches Mal, was wohl unsere Eltern gedacht haben, als sie sich mit dem Jahrgang von Petra und mir herumschlagen mussten. Aber wir gelangten stets zu dem Schluss, dass diese neuerliche Mutation, der einst hoch anerkannten, deutschen Bildung, nur ungebildeten, kranken Gehirnen entsprungen sein konnte. Und das war ja dann wieder unsere Generation. Vielleicht traute sich deswegen niemand etwas zu sagen und den Missstand zu beheben.

Tuppeshuus

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