Читать книгу Tuppeshuus - Frank Didden - Страница 6

Оглавление

3 - Nachbarschaftshilfe

An diesem Morgen war ich, wie aktuell bei uns üblich, mit dem Dackelmischling Lina unterwegs. Zur Zeit hatten meine Frau und ich die Vereinbarung, dass ich morgens mit dem Hund Gassi ging, während sie sich um die morgendlichen Vorbereitungen mit Isabel kümmerte, beide zusammen frühstückten und letztlich zur Arbeit oder zur Schule, das Haus verließen. Unser Hund Lina war natürlich jeden Morgen sehr aufgeregt, wenn es nach einer langen Nacht vor die Tür ging. So konnte sie es folgerichtig nicht abwarten, endlich ein kleines als auch ein großes Geschäft zu erledigen. Da hüpfte und sprang der Hund ausgelassen, während der Hundehalter sich mühte, dem Tier die vorgeschriebene Leine anzulegen. War Herrchen dieses Letztenendes gelungen, konnte es hinaus an die frische Luft gehen.

Es regnete. Der Erwartung entsprechend regnete es. Es regnete momentan jeden Tag durchschnittlich 60 Minuten. Um wie viel Uhr konnte man nicht exakt sagen, aber definitiv fiel mein Spaziergang mit Lina genau in diese Zeitspanne. So zog ich notwendigerweise stets Jacke und Hut an, bevor ich mich an die frische, und insbesondere feuchte Luft begab. Und obschon Lina es kaum abwarten konnte, die nächste Wiese zu erreichen, versuchte ich, dafür zu sorgen, dass mir der Hund nicht vollends durchging. In solchen Momenten war ich dankbar, dass wir uns damals für einen Hund in der Größe eines Dackels entschieden hatten. Eine wirklich weise Entscheidung, zumal gleichermaßen die Haufen von kleinen Vierbeinern überschaubarer waren. Die Wiese unweit unseres Hauses erreichten wir unmittelbar zu Beginn des Spaziergangs und Lina konnte endlich ihre Geschäfte verrichten.

Es war gegenwärtig jeden Morgen das gleiche Prozedere. Ich kramte in einem kleinen Stoffbeutel nach einem noch kleineren Plastikbeutel, um den Haufen zu entfernen, was wegen des Regens nicht so einfach war, wie es bei trockenem Wetter hätte sein können. Dieses nervige Gefummel trieb mich regelmäßig zu der Überlegung, wieso jene absurde Kotentfernung eigentlich vorgesehen war. Nun, die Antwort war die, dass es der Gesetzgeber eben in öffentlichen Bereichen vorsah, dass ich mich jeden Morgen um die Scheiße meines Hundes zu kümmern hatte. Dabei fragte ich mich allerdings ebenso regelmäßig, warum sich die Legislative überhaupt um die Scheiße meines Hundes scherte? Waren dies die einzigen Sorgen der Volksvertreter? Da gab es umweltverschmutzende Kriegsmaschinerien weltweit, von industriellen Betrieben verschmutzte Flüsse und Meere, Wälder abholzende Energiekonzerne und die systematische Rodung ganzer Erdteile. Und nichts veränderte sich. Aber gesetzliche Vorschriften zur Reinhaltung öffentlicher Plätze von den Verdauungsprodukten meines Dackels, dazu reichte die legislative Führungskompetenz. Gleich und gleich gesellt sich halt gern. Den Umstand, dass ich die Exkremente des kleinen Hundes in einer Plastiktüte wegräumen muss, das hatte man durchgesetzt. Ich möchte an dieser Stelle verdeutlichen: Der Haufen des Vierbeiners ist biologisch abbaubar, die Tüte, in der sich nun der Haufen meines Hundes befand, nicht. Es lebe der Klimaschutz. Aber aus besagtem Ärgernis erwog ich vor einiger Zeit halt meine eigene kleine Klimaschutzkampagne. Jeden Freitag ließ ich die Dackelscheiße liegen, wo sie war. ›Fridays for future!‹

Schließlich macht es ja auch Sinn, Hundekot von einem gedüngten Maisacker entsorgen zu müssen. Wer will schon Hundekacke an seinem Maiskolben, wenn es auch Schweinescheiße sein kann. Kann man voll verstehen. Ebenso zu begreifen ist für mich die Tatsache, dass zu diesem vorgeschriebenen Akt der Umweltverschmutzung ausschließlich Hundebesitzer aufgerufen sind. Jetzt erkennt man auch, warum Schweine als Haustiere immer beliebter werden. Die können nämlich wie Kühe, Pferde, Katzen und alle übrigen Tiere, die in der freien Wildnis unterwegs sind, zum Beispiel den Maisacker, defäkieren, bis die Nachbarschaft zum Himmel stinkt. Wegräumen muss da keiner. In genau diesen Momenten der frustrierenden Erkenntnis, sich doch das falsche Haustier zugelegt zu haben, dachte ich häufig, was wohl meinem eigenen Hund durch den Kopf ging, wenn er mich seinen Haufen wegpacken sah. Ob es wohl ein Zeichen von Linas Unverständnis war, dass sie hierbei stets mit dem Kopf schüttelte? Oder lag das am Regen und dem nassen Fell? Ich wusste es nicht. Der Hund sprach ja nicht mit mir.

So spazierten wir weiter unsere allmorgendliche Runde an umliegenden Wiesen vorbei und ein kleines Stückchen durch das Wohngebiet, während Lina, stets damit beschäftigt war, die neusten Nachrichten aufzusammeln. Da wurde an jedem Baum geschnuppert, jeder zweite Grashalm begutachtet und hie und da ein Zaunpfosten gelesen. Unwillkürlich fragt man sich als Hundebesitzer, was Hunde wohl für Informationen austauschten? Wahrscheinlich waren es so außergewöhnliche Sachen wie:

»Mein Herrchen hat jetzt rosa Kotbeutel. Ich glaube, der ist schwul.«

oder

»Grizzly, der Golden Retriever, ist schon wieder durch die Hundeschule gefallen. Zum dritten Mal. Jetzt muss er zum Idiotentest.«

oder

»Das Pudelpärchen, Nuff und Naff, sind gestern Abend stolze Eltern geworden. Ihre sechs Kinder sind gesund und munter.«

oder, top aktuell,

»Verdi H.u.n.d. ruft zum Generalstreik auf. Ihre Forderungen: 15% mehr Fleisch zu den Mahlzeiten, 5,7% täglich mehr Ausgang und Ausarbeitung von Maßnahmen, damit die Rückführung von geflohenen syrischen Katzen und Katern binnen 152 Gassiminuten umgesetzt werden kann. Als Fußnote wird vom Gewerkschaftsmitglied Grizzly, dem Golden Retriever, die weitere Forderung eingebracht, die Hundeschulpflicht um ein Jahr zu verkürzen. Als Streikmaßnahme ist vorgesehen, dass mindestens drei Tage lang nicht mit Menschenkindern gespielt und jeden morgen um 4 Uhr für zehn Minuten gebellt wird.«

Speziell bei dieser Nachricht sah ich, wie Lina das Bein hob. Während ich mich noch fragte, was sie auf die geforderten Maßnahmen antwortete, drehte sie sich nochmal um und schnuppert erneut an der Stelle, wo sie gerade gepinkelt hatte. Dann hob sie abermals das Bein. Muss ihr wohl ein Rechtschreibfehler unterlaufen sein.

Ich schlenderte also mit unserem Hund weiter und genoss das allmorgendliche wunderschöne Regenwetter. Als ich ungefähr eine halbe Stunde später wieder zu Hause eintraf, verabschiedete ich mich auf die Schnelle von Isabel und Petra, die beide eben aufbrechen wollten. Danach trocknete ich den Hund und mich ab, und ging gedanklich meinen Arbeitsplan für diesen Vormittag durch. Obligatorisch zog ich den zweiten Becher Koffein und beobachtete, wie Frau und Tochter die Auffahrt herunterfuhren und das Grundstück verließen. Die Kaffeemaschine gurgelte den letzten Rest Kaffee in die Tasse, da hatte es auch schon zu regnen aufgehört. Natürlich. Als ich meinen Plan für den heutigen Vormittag gefasst hatte, ebenso wie ich den Becher ergriffen hatte, klingelte es überraschend an der Haustür. Das war um 7:45 Uhr in der Früh ziemlich ungewöhnlich. Unser gut erzogener Hund bellte aus dem Stegreif wie von der Tarantel gestochen los. Den Dackel in seinen Käfig schickend und meine Kaffeetasse stehenlassend ging zur Tür, öffnete diese und wer stand dort? Die freundliche, etwas untersetzte alte Dame mit grauem Haar, welche kürzlich mit ihrem Gatten in die ›Schwarzbraune Haselnussgasse‹ eingezogen war und deren Name ›von Landgraf‹ war, wie ich mittlerweile erfahren hatte. Vor unserer Eingangstür stehend lächelte sie mich mit einem durchaus warmen Gesichtsausdruck an. Zwar etwas überrascht von diesem frühen Erscheinen und noch gleichwohl zerzaust und derangiert, versuchte ich desgleichen, freundlich zurückzulächeln.

»Guten Morgen, Herr Renneisen«, begrüßte mich meine Nachbarin mit warmer mütterlicher Stimme..

»Guten Morgen, Frau von Landgraf.« Die Erwiderung war ungewollt kühler, als ich mir vorgenommen hatte. Ich war zu solch linden und freundlichen Äußerungen am frühen Tag erwartungsgemäß einfach nicht fähig.

»Ach bitte«, winkte sie ab, »nennen Sie mich ruhig Ophelia.«

Ich stutzte kurz, wobei ich mich fragte, ob mir dies tatsächlich leichter fallen würde, nickte dann aber und sagte: »Danke, gerne, ich bin Tobias.«

Ophelia reichte mir die Hand.

»Entschuldige bitte die frühe Störung, Tobias, aber ich bin schon so lange auf den Beinen, weil ich noch etliches im Haus verrichten wollte und komme bei einer Sache nicht weiter. Nun habe ich gerade gesehen, wie du mit deinem Hund unterwegs warst.« Bei dieser Bemerkung bekräftigte Lina aus dem Nachbarraum kläffend ihre Anwesenheit. »Da dachte ich mir, ich kann dich vielleicht mal fragen.«

»Aber sicher«, nickte ich verständnisvoll. »Worum geht's denn eigentlich?«

»Es ist eine Kleinigkeit. Ich möchte nur schon so gerne ein bestimmtes Bild bei uns aufhängen, aber ich traue mich einfach nicht, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Meine Kraft und die Treffsicherheit sind nicht mehr die, die sie einmal waren. Ob du wohl Zeit hättest und mir eben helfen könntest? Das wäre furchtbar lieb.« Ophelia strahlte mich herzerwärmend an.

»Nun«, ich zögerte flüchtig und dachte an meine Kaffeetasse, die trinkbereit in der Küche stand. »Aber gerne.«

»Ich hab auch Kaffee aufgesetzt«, bemerkte Ophelia und nahm mir dabei eine kleine Last von den Schultern. Die Last der Koffeinsucht.

»Einen Augenblick, ich zieh mir nur ein paar Latschen an.« Ich drehte mich zum Hauswirtschaftsraum, um mir dort meine Schuhe anzuziehen. »Werkzeug und Nägel hast du, Ophelia?«

»Ja, ja. Doch das haben wir wohl.«

»Okay, ich bin soweit.« Ich nahm noch den Hausschlüssel und zog die Tür hinter mir zu, bevor wir zum Haus der von Landgrafs gingen. Von außen hatte sich das ehemalige Haus der Schmidthuber-Schtscherbakow kaum gewandelt. Der Vorgarten, in dem ich mich seinerzeit volltrunken noch kurz erleichtert hatte, bevor ich der Ex-Besitzerin meine Aufwartung gemacht hatte, machte einen akkuraten und beinahe unveränderten Eindruck. Vereinzelt waren neue Blumen gepflanzt und die Büsche, sowie der Rasen schienen ordentlich geschnitten. Einzig augenscheinliche und darüber hinaus herausragende Neuerung im Vorgarten meiner Nachbarn war eine unübersehbare Kanone. Ziemlich groß und alt. So ein Ding wie man es aus den Filmen kannte, zum Beispiel Piratenfilmen. Die hatten solche Kriegsutensilien immer auf ihren Schiffen. Ich war mit derlei Sachen nicht vertraut. Ophelia, die in kurzem Abstand vor mir ging, äußerte sich nicht zu meinem fragenden Gesichtsausdruck, der beim Anblick der Kanone zweifellos zutage getreten war. Kommentarlos schritten wir den Weg zu ihrer Haustür ab und traten ein.

»Warst du schon mal hier im Haus, Tobias?«

»Nein, nein«, antwortete ich schnell, während ich meinen Blick von dem Vorgartengebilde löste. »Ich kenne nur den Flur. Ich gestikulierte etwas abweisend mit der Hand. »Sagen wir mal so, die Vorbesitzerin des Hauses und ich, wir hatten nicht unbedingt das beste Verhältnis.«

»Ach«, erwidert Ophelia, »ich fand sie eigentlich ganz nett. Angenehme junge Frau.«

»Ja, möglich, wir hatten wohl einfach keinen Draht zueinander.«

»Na ja, sowas gibt's.« Meine Nachbarin schmunzelte wissend. Der alten Dame brauchte man die Zwischenmenschlichkeit wohl nicht mehr zu erörtern. »Magst du vielleicht mal ein bisschen von dem Haus sehen?«

Ich überlegte einen Augenblick, bevor ich antwortete, denn im Prinzip kannten wir uns ja nicht. Die von Landgrafs waren eben erst in unsere Nachbarschaft gezogen. Auf der anderen Seite hatte Ophelia mich gefragt, und neugierig war ich ja auch. Was war höflich? Ja zu sagen, oder war es höflich, nein zu sagen? Ich vermochte mit diesen Dingen der Etikette, selten etwas anfangen. Hinzu kam, dass Ophelia von Landgraf einen - wie konnte man es formulieren - reservierten und dann doch wieder einen sehr kontaktfreudigen und warmherzigen Eindruck machte. Sie ging für ihr Alter sehr stolz und sehr aufrecht und wirkte in ihrer ganzen Erscheinung zwar betagt, aber sehr vornehm. Der Name ›von Landgraf‹ tat natürlich sein übriges. So kam es mir, als ich den Flur betrat, vor, ein Reich der gehobenen Bevölkerung zu betreten. Ob dies nun den Tatsachen entsprach, oder nicht, wusste ich nicht. Was ich aber wusste, war, dass in eben jenen mutmaßlichen Gesellschaftskreisen meistens viel Wert auf Gesellschaftliche Umgangsformen gelegt wurde. Erst recht, wenn es sich um die ältere Generation dieser Kreise handelte, die meistenteils mit noch mehr Wert auf Etikette großgezogen worden war. Jene Gegebenheiten, gepaart mit der offenen freundlichen Art der Gastgeberin, verunsicherten mich. Was war also die diplomatische Antwort? Ich antwortete letztlich mit: »Ja, gerne.«

»Komm ruhig rein«, sagte Ophelia. »Also hier vorne links ist das WC. Solltest du mal Müssen müssen, dann hier.« Sie öffnete schmunzelnd eine verhältnismäßig unscheinbare Tür zur Linken und ich blickte in das WC. »Die Gästetoilette«, wie Ophelia noch ergänzte, war in etwa so groß wie unser Badezimmer, nur mit dem Unterschied, dass sich in unserem Badezimmer ein ausladendes Waschbecken, ein breiter Schrank, eine Badewanne und eine großräumige Dusche befand. Und wir hatten trotzdem ausreichend Platz für alle Badezimmerangelegenheiten. Im Gäste-WC der von Landgrafs stand lediglich ein kleines Waschbecken mit einem golden, schimmernden Wasserhahn, eine Toilette und ein Eckschrank von geringem Ausmaß. Und das war's.

»Ganz schön«, meinte ich zu Ophelia und meine Stimme hallte dabei durch den großen, gefliesten Raum wider, als hätte ich soeben den Kommentar von einem Berggipfel in die Täler der Alpen gerufen.

»Findest du?«, erwidert Ophelia fragend. Ich zog nur die Schultern hoch, nickte abermals und sagte nichts weiter, während sie die Tür schloss. Sie wies auf eine gegenüberliegende, offen stehenden Tür. »Dort hinten ist die Küche.« Sie ging ein paar Schritte vor und kurze Zeit später standen wir am Eingang der Kochstube. Auch hier war alles deutlich größer und überdimensionierter als bei uns. Der ganze Raum schien gut dreimal so geräumig wie unsere Küche und war an zwei Wänden mit Arbeitsplatte, Ober- und Unterschränken in einem sehr edel wirkenden Landhausstil eingerichtet. Dabei wirkte die Einrichtung aber nicht ansatzweise altbacken, denn wie man es von modernen Küchen heutzutage kannte, befand sich in der Mitte des Raumes eine Kochinsel. Eine schwere Marmorarbeitsplatte, in der zentral ein Herd eingelassen war, unterbaut mit einigen weißen Landhausschränken. Darüber eine moderne Abzugshaube in Edelstahloptik. Für manchen ein Paradies, für mich ein Möbelstück in der Mitte eines Raums, um das ich herumlaufen müsste, um den Hund zu fangen. Ich zog, von Ophelia unbemerkt, eine Augenbraue hoch, verwarf dann aber diesen nervigen Fanggedanken und kommentierte den Raum nur lapidar mit: »Sehr schön. Sowas hätten wir auch gerne, aber unsere Küche ist ein wenig zu klein dafür.«

»Ja, ja«, winkte Ophelia ab, »aber wie ich zugeben muss, ist, na ja, die Küche ist zu sehr«, meine Nachbarin schien, für mich unverständlich, in Erklärungsnöte zu geraten. »Sagen wir so: In unserem Alter isst man gar nicht mehr so viel, und da braucht man dann auch gar nicht mehr so viel.« Sie wies ausschweifend auf die Küchenschränke. »Mehr als die Hälfte der Schränke hier, inklusive dem Kühlschrank, stehen leer. Aber ansonsten«, sie zeigte kurz auf die Kücheninsel in der Mitte, »eigentlich mögen Karl und ich diesen neumodischen Kram nicht so, aber das Ding hier finde ich dann doch ganz schick.«

Ich lächelte.

»Hier drüben«, Ophelia drehte sich und ging auf die gegenüberliegende Seite des Flures zu, wo eine Schiebetür in einen großen Raum führte, »ist das Wohnzimmer.«

Ich folgte der Dame und blieb staunend am Eingang des Wohnraumes stehen. Der Raum, genau wie der restliche Teil des Hauses, den ich bisher gesehen hatte, war grundsätzlich so, wie man es immer vermutet hatte. Wenn man das Anwesen von außen sah, so wirkte es um einiges größer als alle übrigen Gebäude der Straße. Dass hierin aber so viel großzügiger Platz zu finden war, damit hatte ich nicht gerechnet. Die gute Stube, die mir Ophelia von Landgraf zeigte, hätte auch als Volleyballplatz ihre Berechtigung gehabt. Und dies traf ohne weiteres auf alle Raumrichtungen zu, denn das Wohnzimmer war nicht nur von der Grundfläche enorm, nein, es besaß auch eine viel höhere Decke. Man hatte hier zwischen Erdgeschoss und erster Etage die Zwischendecke weggelassen. Stattdessen lag linker Hand eine kleine Treppe, die zu einer Empore führte.

»Dort oben geht es zu unseren Schlafzimmern. Außerdem noch ein Badezimmer und das Arbeitszimmer von Karl Alexander. Du siehst ja, auf der Galerie selbst haben wir ein großes Bücherregal eingerichtet.«

Ein ›großes Bücherregal‹ war weit untertrieben. Die ganze Empore war so lang wie der übrige Raum, und ebenso stattlich war auch die Bücherwand, vom Fußboden jener Galerie bis zur Decke des Hauses. Ich mochte nicht einmal ansatzweise abschätzen, wie viele Bücher sich in diesem Regal befanden. Von der Empore selbst konnte man wunderbar das ganze Wohnzimmer überblicken, das selbstverständlich an der rechten Wandseite stilecht einen großen offenen Kamin aufwies. Die übrige Einrichtung des Raumes entsprach ziemlich genau dem Bild, das ich mir ausgemalt hatte, als ich die von Landgrafs zum ersten Mal gesehen hatte. Ich sah eine alte antike Sitzecke aus Eichenmöbeln, wozu auch das Sofa gehörte, das Obelix von der Umzugsfirma ganz alleine in das Haus gewuchtet hatte. Jetzt, da ich das Ding aus der Nähe sah, konnte ich noch weniger begreifen, wie ein scheinbar menschliches Wesen so ein ›Etwas‹ im Alleingang hatte tragen können. Ich machte mir da gar nichts vor. Für eine solche Aktion hätte ich mindestens einen Gabelstapler gebraucht. Das dunkle Eichenholz der Sitzgarnitur und des davor platzierten Tisches wirkten sehr edel und hundert Jahre alt. Als moderner, stets von Zahlen abhängiger, aber auch immerfort nach Zahlen strebender Mensch, schätzte ich den Wert der Möbelstücke laienhaft als schlichtweg unbezahlbar ein. Mit einer demzufolge großen Erleichterung erkannte ich, dass an den Wänden im Wohnzimmer alle Bilder ihren Platz hatten. Natürlich waren es ausnahmslos sehr alte Gemälde. Auf Zweien sah man irgendwelche Schlachten, mit Soldaten, Schwertern, Säbeln und Offizieren hoch zu Ross. Vier weitere Bilder zeigten Porträts, die wirkten, als wären hierauf Adlige gemalt worden. Drei Darstellungen von Männern und ein Porträt einer Frau. Ich sah in diesem Moment allerdings davon ab, nachzufragen, um wen es sich bei den jeweiligen Persönlichkeiten handelte. Für mich wogen das Gefühl der Befreiung und das sprichwörtliche Aufatmen zu schwer, im Rahmen meiner bereitwilligen Nachbarschaftshilfe nicht für das Aufhängen eines wahrscheinlich unbezahlbaren Bildes im Schlosssaal angesprochen worden zu sein. Man musste sein Glück ja nicht unbedingt herausfordern. Ein beschädigtes Gemälde in diesem Raum, wär für Petra und mich unumstößlich der finanzielle Ruin. Da war ich mir sicher.

Unweit des Kamins war noch eine kleine Sitzecke mit Beistelltisch eingerichtet. Der Tisch war ebenfalls in dunklem Eichenholz gestaltet und wirkte nicht weniger altertümlich, als die beiden beistehenden, dunkelbraunen Ledersessel, die man rechts und links des Möbelstückes postiert hatte.

»Das ist unsere Leseecke«, kommentierte Ophelia von Landgraf.

»Ah«, entgegnete ich fachmännisch und hätte noch fast angemerkt, dass ich selbst meistens nur im Bett lese. Ich verkniff mir jedoch diese nicht standesgemäße Bemerkung. Stattdessen kam ich zwischenzeitlich auf den Kern meines Besuchs zurück. »Hier scheinen aber alle Bilder zu hängen, oder?«

»Oh, ja, ja.« Ophelia schaute mich kurz von der Seite an. »Nein, nein, hier hängt alles. Die hat unser Sohn aufgehängt, aber der ist jetzt die kommenden zwei Wochen in Frankfurt. Er wohnt und arbeitet dort.« Sie deutete in Richtung der ersten Etage. »Er meinte zwar, die restlichen Kleinigkeiten würde er bei seinem nächsten Besuch herrichten, aber ich dachte mir«, sie zögerte, »das ein oder andere können wir auch selbst. Weißt du, wir machen möglichst alles ohne fremde Hilfe, wenn es denn noch geht. So kleine Dinge halten jung und gesund.« Ophelia lächelte beiläufig und stupste mich mit dem Ellenbogen kurz in die Seite, eine Aktion, die mich doch stark überraschte. »Nun, ist auch nur noch ein Bild. Aber das dieses eine Bild jetzt als einziges noch fehlt, wurmt mich dann doch zu sehr, als dass ich abwarten möchte, bis unser Sohn wieder in Osterholz-Scharmbeck ist.«

»In Ordnung«, bestätigte ich ihre freundschaftliche Geste mit einem verständnisvollen Schmunzeln.

»Dafür müssen wir aber ins Obergeschoss. Das Bild, das ich im Sinn habe, ist im Arbeitszimmer von meinem Mann Karl Alexander.«

»Okay«, bestätigte ich und kurzzeitig spürte ich wieder tiefe innerliche Erleichterung, dass besagtes Bild nicht im Schlafzimmer anzubringen war.

Bei diesem Gedanken ging die Hausherrin zur Treppe, welche aus dem Wohnzimmer hinauf zur Empore führte. Erst jetzt fiel mir am oberen Ende der Stufen ein Durchgang auf.

»Man kommt auch hier auf die erste Etage«, erläuterte Ophelia. »Oder aber über den Aufgang im Flur.« Ich folgte ihr zur Treppe in der Stube. Als wir oben angelangt waren, erkannte ich links einen kleinen Gang, von dem direkt beidseitig jeweils eine Tür abging. Ebenso sah ich geradeaus am Ende eine geschlossene Tür. »Rechts liegt unser Schlafzimmer und gegenüber ist das Badezimmer.« Ophelia öffnete die Tür zum Bad.

Wieder blickte ich von der Tür in einen riesigen gefliesten Raum. »Grundgütiger«, dachte ich mir. »Wer um Himmelswillen braucht ein solches Badezimmer?« Hier konnte eine zehnköpfige Familie gleichzeitig ihre Morgentoilette verrichten. Wenn die Erscheinung eine andere gewesen wäre, hätte man den Raum für eine Doppelgarage halten können. Schließlich war ohnehin absolut alles doppelt vorhanden. Zwei gewaltige Badewannen, zwei große Duschkabinen, zwei Waschbecken, etliche ausladende Schränke und von überall her blinkten mich Wasserhähne und Duschköpfe in goldener Optik an. Das Badezimmer als solches war sehr modern, mit großen Fliesen gefliest. Der Boden war dunkelgrau, beinahe schwarz und die Wände in einem schneeweißen Weiß gehalten.

»Entschuldige«, fragte ich Ophelia, »habt ihr das neu machen lassen oder war das vorher schon so, als ihr eingezogen seid?«

»Nein, nein«, antwortete meine Nachbarin, »das war schon so.«

Ich blickte mich erneut im Badezimmer um und war dabei versucht, die Hände vor die Augen zu nehmen, um nicht vom Gold geblendet zu werden. Bestürzt überkam mich der Gedanke, dass ich in meinem Leben definitiv den falschen Karriereweg eingeschlagen hatte. Sachbearbeiter bei der Agentur für Arbeit. Das schien sich zu lohnen.

»Die Vorbesitzerin war auf dem Arbeitsamt tätig, soviel ich weiß.« Ich schüttelte, für Ophelia deutlich sichtbar, den Kopf. »Ich glaube, ich hab den falschen Job«, rutschte es mir raus.

»Naaa«, kommentierte die neben mir stehende Dame. »Ich nehme an, die Vorbesitzerin hatte geerbt. Aber du hast recht. Sie hat auf dem Arbeitsamt gearbeitet. Da kann man sich sowas wohl eher nicht leisten.«

Ich nickte zögerlich.

»Das glaube ich auch nicht«, erwiderte ich. »Es sei denn, man hat das Arbeitsamt geerbt«, nuschelte ich vor mich hin, was die neben mir stehende Dame allerdings nicht mitbekam.

»Na ja,« meinte Ophelia, während sie langsam die Badezimmertür schloss, »da drüber ist das Arbeitszimmer.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und wir schritten zum Arbeitszimmer. Ganz offensichtlich wollte sie mir nicht das Schlafzimmer zeigen, und das konnte ich nicht nur verstehen, ich war sogar dankbar für die Wahrung der Privatsphäre.

So erreichten wir Karl Alexander von Landgrafs Büro, und trotz der übrigen Räume, die ich in den vergangenen Minuten gesehen hatte, war dieses Arbeitszimmer unzweifelhaft der Höhepunkt der Hausbesichtigung. Der Gebäudeteil wirkte beinahe so groß wie das Wohnzimmer. Er war zwar ein wenig kleiner, allein schon, weil die Decke nicht so hoch war, dennoch wirkte das Zimmer riesig. Es befanden sich an zwei Wänden riesengroße Bücherregale, gefüllt mit Büchern, Folianten und Druckwerken, die zuweilen um ein Vielfaches älter anmuteten wie ihre Besitzer. Einige Bände waren sogar in klassische, braune Ledereinbände eingeschlagen. Ich begutachtete oberflächlich die Werke, als ich vorsichtig durch das Arbeitszimmer ging. Ophelia hatte mir derweil die Stelle gewiesen, an der das Bild aufgehängt werden sollte. Neugierig blickte ich durch die Regale. Die meisten Schriften schienen einen geschichtlichen Hintergrund zu haben. Bücher über die alten Griechen, Rom, das europäische Mittelalter, die Französische Revolution und noch vieles mehr. Ich fragte mich, ob das einfach ein Hobby, oder ob die Hausbesitzer vielleicht sogar Teil jener Geschichte gewesen waren. Wie dem auch sei, geschichtsträchtig schien hier in dem Anwesen etliches, ja beinahe alles. Das traf auch auf das für mich am beeindruckendste Objekte des Hauses zu. Dieses war ein riesiger Tisch in der Mitte des Arbeitszimmers von Karl Alexander. Ein Möbelstück, den ich auf ungefähr drei mal fünf Meter schätzen mochte und auf dem ein nahezu perfektes Modell irgendeiner Schlacht aufgebaut war. Meine Geschichtskenntnisse reichten beileibe nicht aus, um erkennen zu können, was für ein Kriegsschauplatz dargestellt war, aber das brauchte ich auch gar nicht.

»Ich glaube, es ist die Schlacht von Waterloo«, sagte Ophelia und wies auf das gigantische Modellbauwerk. »Diesmal«, ergänzte sie.

»Diesmal?«, ich schaute die Gastgeberin fragend an.

»Ja, Karl baut solche Modelle, seitdem ich ihn kenne. Jahrelang. Dann lässt er sie eine Zeit lang stehen und irgendwann baut er sie wieder ab und errichtet die nächste Schlacht. Na, ich glaube, es ist Waterloo, wenn ich nicht irre. Manchmal komme ich schon durcheinander.« Ophelia besah sich den großen Tisch nachdenklich. »Ich wundere mich eigentlich, dass er sie nicht abgebaut hat, bevor wir umgezogen sind. Du glaubst gar nicht, was das für ein Aufwand für das Umzugsunternehmen war. Aber Karl ließ sich nicht davon abbringen. Zu meiner Überraschung haben die Jungs von der Firma das ziemlich gut hinbekommen. Karl hat nur 20 oder 30 mal gemeckert. Sonst ging's.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er hat mittlerweile die kleineren Schäden repariert.«

Ich blickte fassungslos auf den riesigen Tisch. »Alle Achtung«, dachte ich mir, »sowas würde ich nie hinbekommen. Und ich kannte auch niemanden, der so etwas bewerkstelligen könnte.«

Ich hatte zwar keine Ahnung von der Darstellung der Schlacht von Waterloo, aber genau so wie sie hier aufgebaut war, würde ich sie mir vorstellen. Man sah kleine Hügel, auf denen winzige Bäume standen. Dort war grünes Gras, man sah Miniaturen von geringem Ausmaß von Fußsoldaten, von Soldaten auf Pferden, man sah Kanonen, Modelle um kleine Zelte stehend. Ich war zwar ein Laie, aber dieses Modell schien nahezu perfekt. Ja, es gibt Leute auf der Welt, die können so etwas richtig gut. Ich gehörte sicherlich nicht dazu. Karl Alexander von Landgraf schon. Respekt.

Mit einem gebührenden Abstand von diesem Tisch – aus schierer Angst traute ich mich nicht, auch nur eine der kleinen Figuren umzuwerfen - ging ich vorsichtig um das Modell und versuchte, so viele Einzelheiten wie möglich zu erkennen. Die Miniaturen waren bis ins winzigste Detail bemalt. Selbst aus der Distanz meinte ich, grimmige Gesichter auf den kleinen Kämpfern zu identifizieren. Sogar das Blut auf den verwundeten Soldaten war modelliert, und man hätte meinen können, man hört hie und da einen Schrei und Schlachtgebrüll. Beängstigend realistisch. Ich war schwer imponiert. Nicht nur von diesem Tisch, nein, das ganze Haus der von Landgrafs war imposant. Es war teilweise alt und antik, in gewisser Hinsicht modern, gemütlich und gediegen, aber in vollem Umfang professionell und eindrucksvoll. So professionell und eindrucksvoll, dass es mir schon beinahe wieder kalt den Rücken herunterlief, als ich daran dachte, weswegen ich eigentlich hier war. Um ein Bild aufzuhängen.

Und ja, genau das tat ich dann auch. Ich hatte in der Vergangenheit schon unfreiwillig Hecken umgepflügt, Carports demoliert, Häuser beschädigt und in den Hausflur dieses Gebäudes, wovon die von Landgrafs hoffentlich nichts wussten, gekotzt. Doch an jenem Tag bei den neuen Nachbarn, mit Ophelia von Landgraf an meiner Seite, war es mir tatsächlich gelungen. Ich hatte fehlerfrei einen Nagel in die Wand geschlagen. Bämm. Ich hatte es drauf. Ein Bild gerade an die Wand zu hängen.

Manchesmal war ich halt doch ein Profi. Der Druck musste nur groß genug sein. Und irgendwie schien mir der Druck bei genauer Begutachtung des Bildes ganz schön groß. Ich konnte das zwar nicht begründen, aber der goldene, klassische Rahmen dieses offenkundigen Ölgemäldes bestätigte den Eindruck hoher Wertigkeit. Der Detailgrad, mit dem der Reiter im Vordergrund des Werkes gemalt war, verblüffte mich. Der mit der Figur ringende Löwe wirkte stark und gefährlich. Nein, Tiger, das war ein Tiger. Ein sehr schönes Bild, wie ich zugeben musste, auch wenn ich mit derartiger Kunst gewöhnlich nicht all zu viel anfangen konnte. Dieses Werk war aus der Nähe betrachtet tatsächlich ein Meisterwerk.

»Ist schon seit ewigen Zeiten im Besitz meiner Familie«, riss mich Ophelia aus meinen Gedanken.

»Ah«, kommentierte ich geistesabwesend.

»Ganz bekannter Maler.«

»Ah.«

Mit diesem Wissen der Unwissenheit ließ mich die Nachbarin in meinen Gedanken zurück. Weder teilte sie mir mit, wer der Maler war, noch wie das Bild hieß. Doch sie tat es nicht auf unhöfliche Weise, sondern wechselte einfach das Thema und geleitete mich zur Haustür, um sich dort noch einmal herzlich bei mir für die liebe Nachbarschaftshilfe zu bedanken. Es fing selbstverständlich genau in diesem Moment wieder an zu regnen, so dass ich mich rasch von Ophelia von Landgraf verabschiedete und mich sputete, um nach Hause zu kommen.

Tuppeshuus

Подняться наверх