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VOR ANPFIFF

Ein langhaariger Recke im Tor meines Herzensvereins

von Frank Nussbücker

Fußballverrückt bin ich, seit ich denken kann. Nichts fand ich spannender, als auf dem Bolzplatz ein paar Jungs kicken zu sehen oder am frühen Samstagabend erst „Sport Aktuell“ auf DDR 1 und anschließend die ARD-„Sportschau“ zu verfolgen.

Mein erstes Fußballidol hieß Herr Pechmann. Das war unser freundlicher Werken-Lehrer, von dem es hieß, er habe ganz früher bei Hertha gespielt. Ihm folgten Jürgen Croy, Hansi Kreische, Jürgen Sparwasser, Paule Seguin, Uwe Seeler, Tröli Trölenberg von Stahl Oranienburg und Pelé. Nach kurzer Zeit als Erfolgsfan der ostdeutschen Europacup-Teilnehmer Dynamo Dresden und 1. FC Magdeburg entwickelte ich Sympathien für den Verein meiner Geburtsstadt, den FC Carl Zeiss Jena.

Mittlerweile hatte ich hautnah erlebt, dass Fußball live im Stadion noch zigmal packender ist als im Fernsehen. Da ich meine Schulzeit im Norden Berlins in Oranienburg verbrachte, rückten nun zwei andere Vereine ins Visier meiner Aufmerksamkeit. Der eine Ostberliner Erstligaklub schwang sich schon bald zum Serienmeister auf. Zu seinen Anhängern zählten mein Schuldirektor, Staatsbürgerkundelehrer Hennecke sowie fast alle Jungs aus meinem Bekanntenkreis, die später Offizier werden wollten.

Allein schon weil ich bereits elf Jahre vor meiner Einberufung alles verabscheute, was mich in irgendeiner Weise daran erinnerte, dass auch ich eines Tages zur „Asche“ musste, blieb meinem Herzen gar nichts anderes übrig, als sich für den anderen, den zivilen Ostberliner Fußballklub zu interessieren. Inspiriert von meinem Schulfreund Berge und den langhaarigen Rabauken aus der Zehnten, die mit rot-weißen Fußballschals zur Schule gingen und regelmäßig zu Spielen ins Stadion fuhren, entschied es sich für den 1. FC Union Berlin.

Dessen Mannschaftskapitän Joachim Sigusch bewunderte ich für seine Kampfkraft, und das Tor hütete ein bärenstarker Langhaariger, der durch die Luft flog wie ein Pegasus. Ein Kerl, der eine ungeheure Energie ausstrahlte, die wohl jeden Angreifer in die Flucht schlagen musste, oder? Ein Mann, der wild herumbrüllte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, der seine Mitspieler geradezu nach vorn peitschte und immer wieder höchstselbst aus seinem Kasten herauslief, um Bälle zu verteilen oder von der Seitenlinie aus wuchtige Einwürfe zu vollführen.

Es hatte mich erwischt: Ich wurde ein Fan von Wolfgang Matthies. Meine Augen und mein Herz sahen ihn als einen strengen Erwachsenen, der zugleich cooler drauf war als alle langhaarigen Zehntklässler zusammen. Eine Respektsperson, mit der man Pferde stehlen und vielleicht sogar heimlich ein Bier trinken konnte. Ein Mann, der mit Typen wie meinem Schuldirektor oder Stabü-Hennecke so gar nichts gemein hatte. Union verehrte ich vor allem, weil dort dieser Wolfgang Matthies im Tor stand.

Pubertät, Armeezeit und die politische Wende in meinem Heimatland führten mein Herz weit weg von den Fußballstadien dieser Welt und dem 1. FC Union Berlin. Erst viele Jahre später, am 21. März 2009, betrat ich erneut ein Stadion, um den Lieblingsverein meiner Kindheit wiederzusehen.

Union spielte vor 8.560 Zuschauern gegen den FC Carl Zeiss aus meiner Geburtsstadt Jena. Nicht im Stadion An der Alten Försterei, denn die wurde gerade von Tausenden Unionern renoviert, sondern bei mir um die Ecke, im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Obwohl ich zunächst wider besseres Wissen glaubte, in diesem Spiel neutral zu sein, hatte ich mir meinen alten Union-Schal umgebunden, den mir Tante Renate Ende der 1970er auf ihrer Strickmaschine gefertigt hatte.

Ich jubelte, als Torsten Mattuschka in der 79. Minute vom Elfmeterpunkt das 1:0 für Union erzielte, doch weit mehr berührte mich etwas anderes. Der erste Stadiongesang, der an jenem Tag in meine Ohren drang, machte mich wieder zum Unioner, auch wenn unser Tor längst kein Wolfgang Matthies mehr hütete: FC Union, unsre Liebe, unsre Mannschaft, unser Stolz, unser Verein: Union Berlin … Union Berlin!

Durch meine Arbeit als Ghostwriter lernte ich Unions langjährigen Trainer Heinz Werner kennen. Zwar wurde nichts aus dem Traumjob, seine Autobiografie zu schreiben. Wohl aber erlaubte mir Herr Werner, einige der Geschichten, die er mir erzählt hatte, in meinen Büchern über den 1. FC Union zu verwenden.

Etliche seiner Erinnerungen drehten sich um „seinen“ Torwart, den von mir dereinst verehrten langhaarigen Recken Wolfgang Matthies, der unter Werners Fittichen seinen Durchbruch als Torwart erlebte. Sofort rückte Matthies wieder in den Fokus meines Interesses. Wie toll wäre es, etwas über ihn zu schreiben! Überhaupt, was machte mein Kindheits-Idol jetzt eigentlich?

Er gehe wieder zu Spielen in unser Stadion, erfuhr ich von älteren Eisernen – und schließlich nahm mich im Spätsommer 2017 mein Union-Freund Ingo Freund zur Seite: „Du willst was über Potti machen? Er kommt manchmal zu mir in den Biergarten, wenn du willst, organisiere ich ein Treffen!“

Ingo hatte kurz zuvor zusammen mit seiner Frau Petra das Bootshaus Sportdenkmal übernommen – von niemand Geringerem als Unions langjährigem Vorstopper Rolf Weber, genau wie Matthies und Sigusch ein Eiserner Held der 1970er Jahre.

Und wie ich wollte! Als mir Ingo verriet, dass zum Stelldichein in seinem Biergarten sowohl Wolfgang Matthies als auch Joachim Sigusch und Rolf Weber erscheinen würden, war ich völlig von den Socken.

Im Oktober 2017 traf ich dann in Ingos Langhaus jene drei Eisernen Helden von damals. Sie behandelten mich nach kurzem Abchecken wie einen guten Bekannten. Genau das waren ja zumindest sie für mich auch.

Über ihr Leben, vor allem jenes beim 1. FC Union, wollte ich sie befragen – und erlebte augenblicklich mit, wie sich die drei ehemaligen Mannschaftskameraden beim Erzählen die Bälle zuspielten und einander frotzelten, dass mir das Zuhören eine reine Freude war. Seit Mitte der 1970er bilden die drei – zunächst auf dem Platz und bald weit darüber hinaus – ein Team. In guten wie in schlechten Zeiten.

Nun lade ich Dich, liebe Leserin und lieber Leser, herzlich ein, an alledem teilzuhaben. Die Geschichte Unions und auch die des DDR-Fußballs sind anderenorts gebührend und wissenschaftlich fundiert in die Schrift gestellt. Dieses Buch hingegen lebt von den Erinnerungen und Anekdoten, die mir Wolfgang Matthies, Joachim Sigusch, Rolf Weber, Heinz Werner und bald auch viele weitere Wegbegleiter Pottis erzählten. Lauter Geschichtchen, die auf ihre eigene Art über jene größtenteils längst vergangenen Zeiten berichten. Diese Erinnerungen festzuhalten war und ist meine Motivation für dieses Buch – und nun genug Vorgeplänkel. Der Pfiff ertönt, das Spiel beginnt!


Fan und Autor Frank Nussbücker mit seinen Helden Wolfgang Matthies, Joachim Sigusch und Rolf Weber, Oktober 2017 im Bootshaus Sportdenkmal

Bedingungsloser Kämpfer und grundehrlicher Typ

von Wolfgang „Maxe“ Steinbach 1


Als Wolfgang Matthies im Sommer 1983 zu uns nach Magdeburg kam, war er für uns alle eine feste Größe. Wir kannten ihn von Union, wo er bereits etliche Jahre zwischen den Pfosten gestanden hatte. Es überraschte mich nicht, dass er zu uns stieß. Von seinem Können her war es für ihn ein einfacher Schritt zu einem der DDR-Spitzenklubs. Aus sportlicher Sicht ein wichtiger und guter Schritt für ihn, denke ich.

„Bei uns hatteste endlich mal ‘ne richtige Mannschaft!“, ziehe ich ihn bis heute auf. Die Köpenicker spielten ja bestenfalls um Tabellenplatz acht. Auf der anderen Seite galt Union schon zu Ostzeiten als ganz besonderer Klub. Es gab in der DDR zwei Vereine, bei denen ich liebend gern mal gespielt hätte: die BSG Chemie Leipzig und der 1. FC Union Berlin. Union war allein schon wegen des Stadions und seiner Atmosphäre etwas ganz Besonderes.

Auch der FCM hatte schon immer eine hervorragende Fanszene, aber in einem weiträumigen Leichtathletik-Stadion mit Laufbahn und Marathontor kam das nie so rüber wie in einem echten Fußballstadion. 5.000 Zuschauer bei Union waren lauter, als wenn in unserem Ernst-Grube-Stadion 25.000 drin waren. Die Atmosphäre im Stadion An der Alten Försterei war einfach anders, genau wie in den englischen Stadien jener Jahre.

Ich weiß, wovon ich da spreche. Als der FCM 1979 im Europapokal der Pokalsieger bei Arsenal London gastierte, machten wir uns fast in die Hose. Hattest du Einwurf, fühlte sich das geradewegs so an, als hielten die Zuschauer von hinten den Ball fest. In einem solchen Hexenkessel zu bestehen war nicht einfach.

Und ich bin beim besten Willen kein Hasenfuß. Am wohlsten fühlte ich mich, wenn die gegnerischen Fans pfiffen. Da wusste ich: Du machst ein gutes Spiel, und das ärgert die Leute. Pfiffen sie uns aus, legte ich immer noch ‘ne Schippe drauf, besonders auswärts. Darauf bilde ich mir nichts ein. Ich glaube, das geht jedem Fußballer so, der ein bisschen Ehre im Leib hat. Zu diesen gehört in jedem Fall ein Wolfgang Matthies!

Was uns zudem verband, war die große Klappe aufm Platz. Ist ja klar: Wenn du wie ich bloß 1,66 hoch bist, musst du dich eben lautstark bemerkbar machen. Natürlich muss da auch was dahinterstecken! Auf der Straße zeigte ich mich merklich ruhiger. Aufm Platz hatte ich manchmal das Gefühl, ich bin mindestens 1,80 groß.

Auch Potti verwandelte sich, sobald er zwischen den Pfosten stand, in einen anderen Menschen. Sonst ein dufter Kumpel mit reichlich Humor, zeigte er sich auf dem Rasen äußerst ehrgeizig, geradezu verbissen. Sagtest du da was Falsches, rastete er mitunter regelrecht aus. Nach dem Spiel oder in der Freizeit war das ein völlig anderer Typ.

Potti beim 1. FC Magdeburg, das passte wunderbar! Wir wussten, dass er ein hervorragender Torwart ist, jederzeit drauf geeicht, Höchstleistung zu bringen. Das wusste auch Dirk Heyne, der andere Stammtorhüter in unserem Kader, und es stachelte ihn an. Der Lange, wie wir Dirk wegen seiner 2,01 Metern Körpergröße nannten, war ebenfalls ein Top-Tormann. Für uns machte es keinen Unterschied, ob Potti oder Heyne zwischen den Pfosten stand. Beides überragende Leute auf ihrer Position, auf die wir uns jederzeit verlassen konnten! Wie sie bei aller Konkurrenz miteinander umgingen, davor ziehe ich meinen Hut. Nie hörte man einen der beiden schlecht über den anderen reden. Es war ein gesunder Konkurrenzkampf, die Leistungsunterschiede zwischen ihnen waren minimal. Potti zeigte sich mutiger beim Rauskommen, während sich Dirk oft auf seine Länge verließ.

Wenn Potti rauskam, nahm er auf nichts und niemanden Rücksicht, am wenigsten auf sich selbst. Da knallte er alles weg, was sich ihm in den Weg stellte. Das ist für einen Torhüter gefährlich. Während seiner zwei Jahre bei uns verletzte er sich mehrere Male schwer.

Generell erlebte ich Potti als bedingungslosen Kämpfer, der nie ganz mit sich zufrieden war. Selbst wenn wir zu null gespielt und gewonnen hatten, wirkte er mitunter so, als hätte er das Spiel verloren. Auch nach einer Niederlage suchte er die Schuld zuallererst bei sich selbst, nicht etwa bei einem seiner Mitspieler.


Potti wirft sich zwischen Freund und Gegner, hier beim Oberliga-Spiel BSG Wismut Aue – 1. FC Union Berlin 3:0 am 26. April 1986.

Das alles ist von der Grundeinstellung her ja erst mal richtig, aber aus meiner Sicht stand ihm sein Übereifer, immer alles richtig machen zu wollen, so manches Mal im Weg. Irgendwann verkrampfst du dabei – und merkst es gar nicht mehr. Eine gewisse Lockerheit gehört einfach dazu. Natürlich auch Ernsthaftigkeit, aber Potti war in dieser Beziehung nicht zu bremsen. Im Spiel sowieso nicht, aber auch beim Training wurmte es ihn fürchterlich, musste er dann doch mal hinter sich greifen.

Als ich später Trainer war, riet ich meinem Torhüter mitunter: „Du kannst dich nicht bei jedem Schuss werfen! Such dir beim Torschuss-Training vier, fünf Bälle raus, und dann nimmst du mal wieder die Arme runter. Du kannst nicht nach jedem Ball fliegen. Das geht nicht, das stehst du nicht durch!“

Potti indes wollte auch beim Training partout jeden Ball halten! Ging dann doch mal einer rein, konnte er sich ewig daran hochziehen. Wie ich schon sagte: Stand Potti aufm Platz, egal ob Spiel oder Training, war das ein komplett anderer Mensch.

Allerdings muss ich zugeben: Mir ging‘s in der Hinsicht nicht viel anders. Von Hause aus verliere ich höchst ungern. So konnte es schon mal passieren, dass ich beim Training einen Mitspieler wegkloppte. Mitunter hätte ich dafür vom Trainingsplatz fliegen müssen. Dass ich so ein schlechter Verlierer bin, trieb mich auf der anderen Seite enorm an. So sorgte mein Ehrgeiz mit dafür, dass ich als Spieler einiges erreichte. Kurz und gut, auch hier gibt es gewisse Ähnlichkeiten zwischen Potti und mir.

Einmal flog ich in der Oberliga vom Platz. Erinnere ich mich richtig, war das zu Hause gegen den BFC Dynamo2, nach einem Foul an Terletzki. Eine Freundschaft zum BFC pflegte damals wohl kaum einer von uns Fußballern. Nun ist Fußball ja auch kein Zuckerschlecken. Was die Zweikampfhärte angeht, ist das heute eine andere Nummer. Allein schon die vielen Kameras im Stadion sorgen dafür, dass das Körperliche weit runtergefahren ist. Das war früher schon anders, da hast du eher mal ‘nen Ellenbogen ausgefahren. Heute darfst du den Gegenspieler ja nicht mal mehr am Jersey zupfen.

Wie auch immer, ich war also gegen den BFC vom Platz geflogen. Mein erstes Spiel nach der Sperre fiel auf den 6. September 1986 – ausgerechnet gegen Union im Stadion An der Alten Försterei. Bei dieser Gelegenheit haute ich Potti, der inzwischen längst wieder bei seinem Heimatverein im Tor stand, einen Freistoß in den Winkel.3 An unserer Freundschaft änderte das nichts … hoffe ich mal. Bis heute verstehen wir uns wunderbar, der olle „Fliegenfänger“ und ich …

Und jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen der Erinnerungen von und um Wolfgang „Potti“ Matthies!

1Offensiver Mittelfeldspieler beim 1. FC Magdeburg von 1971 bis 1987 sowie von 1989 bis 1990. „Maxe“, Jahrgang 1954, bestritt insgesamt 337 Erstliga-Spiele für den FCM, in denen er 75 Tore schoss, dazu 28 A-Länderspiele (1 Tor) sowie sechs Einsätze in der DDR-Olympia-Auswahl. Dreimal wurde er mit dem FCM DDR-Meister (1972, 1974, 1975), viermal FDGB-Pokalsieger (1973, 1978, 1979, 1983). Genau wie Wolfgang Matthies bei Union gelang Wolfgang Steinbach beim FCM nach seinem „ersten“ Abschied ein Comeback. Doch auch damit war für ihn noch nicht Schluss – erst nach weiteren 104 Zweitligaspielen für den VfB Oldenburg beendete er 1994 seine Spielerkarriere und wurde Trainer. 2006 kürten ihn die Fans des 1. FC Magdeburg zum „besten FCM-Spieler aller Zeiten“, quasi genau wie die Unioner ihren Wolfgang Matthies.

2BFC steht für „Berliner Fußballclub“ und war schon lange vor der DDR gebräuchlich, so beispielsweise bei BFC Hertha 1892 oder BFC Alemannia 1890. Heute der bekannteste BFC ist allerdings zweifellos jener der Sportvereinigung Dynamo der inneren Sicherheitsorgane der DDR.

3Letztlich gewann der 1. FC Union mit 2:1, Steinbachs Anschlusstreffer – wie bereits Unions 2:0 durch Uwe Borchardt ein direkt verwandelter Freistoß und von den Rängen sofort mit einem kämpferischen „Eisern Union!“ quittiert – markierte den Endstand.

Eisern zwischen den Pfosten

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