Читать книгу Eisern zwischen den Pfosten - Frank Nussbücker - Страница 7
ОглавлениеABC DES STRASSENFUSSBALLS
Adlershof liegt malerisch an der Köllnischen Heide. Wohl weil seine Häuser auf Feuchtwiesen erbaut wurden, betrug deren Traufhöhe lange Zeit nur zwölf statt der nebenan in Berlin üblichen 22 Meter. Einst lediglich von ein paar Kleinstbauern bewohnt, sorgten unter anderem der Ausbau der Bahnlinie Berlin–Görlitz 1866/67 sowie der vierzig Jahre später errichtete Teltowkanal für die Industrialisierung des Orts. 1912 nahm die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt ihren Betrieb auf. Seit 1920 gehört Adlershof zu Berlin.
1946 fand hier die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (ab 1972 Akademie der Wissenschaften der DDR) ihren Sitz, eine Nachfahrin der einstigen Preußischen Lehranstalt. Eines ihrer Institute widmete sich der Erforschung des Kosmos, zu ihm gehörte ein Radioteleskop mit stattlichen 36 Metern Durchmesser. Am 21. Dezember 1952 ging das ebenfalls hier angesiedelte Fernsehzentrum des Deutschen Fernsehfunks (DFF) auf Sendung.
Zahlreiche Berühmtheiten wohnten oder wirkten in Adlershof, unter anderem Ernst Lau, Erfinder der Gleitsichtbrille, die Schriftstellerin Anna Seghers, Fernseh-Pionier Ernst Augustin oder Filmregisseur Wolfgang Kohlhaase. Dazu kommen mit Willi Schwabe und dem als „Sudel-Ede“ verschrienen DFF-Chefideologen Karl-Eduard von Schnitzler zwei Fernsehstars, wie sie unterschiedlicher kaum hätten sein können – Schwabe erfreute sich besonders dank der von ihm von 1955 bis 1990 alle zwei Wochen moderierten Fernsehsendung „Willi Schwabes Rumpelkammer“, in der er Ausschnitte aus Filmklassikern präsentierte, größter Bekanntwie Beliebtheit; Schnitzler wiederum kommentierte von 1960 bis 1989 im Politmagazin „Der schwarze Kanal“ in linientreuester Manier Ausschnitte mit „Bild und Ton: original BRD-Fernsehen“, was selbst überzeugtesten Genossen Gelegenheit zum ungestraften Reinschauen beim Klassenfeind gab.
Die Atmosphäre in Berlin, Nahtstelle zwischen den einander im Kalten Krieg gegenüberstehenden politisch-ideologischen Blöcken, zeigte sich im Jahr von Wolfgang Matthies‘ Geburt als äußerst konfliktgeladen.
Am 24. Februar 1953 melden sich (laut Chronik der Internetseite berlingeschichte.de) 2.600 Flüchtlinge aus Ostberlin im Westteil der Stadt. Keine zwei Monate später eröffnet BRD-Bundespräsident Theodor Heuss das Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge in Marienfelde. Auf ostdeutscher Seite wiederum beschließt der Ministerrat, dass unter anderem sogenannte „Grenzgänger“, die in Ostberlin wohnen und in Westberlin arbeiten, keine Lebensmittelkarten mehr erhalten.
Nachdem Anfang des Jahres in der neu errichteten Stalinallee die ersten Wohnungen bezogen worden sind, verstirbt am 5. März der Namenspatron dieses sozialistischen Pracht-Boulevards. Während in der DDR Staatstrauer befohlen wird, entfernt die Westberliner Polizei am Tag nach Stalins Tod in Tiergarten, Kreuzberg und Zehlendorf etliche rote Fahnen, die mit Trauerflor versehen sind.
Derweil erreicht die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft die Stadt. In Marzahn und Wartenberg gründet sich je eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, die ersten beiden LPGs auf Berliner Boden. Und während die Verbindungen nach Westen immer mehr eingeschränkt werden, eröffnet die sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot am 29. März den Flugverkehr zwischen Moskau und Berlin-Schönefeld.
Am 16. Juni legen auf mehreren Ostberliner Baustellen, unter anderem einem Block der Stalinallee, Bauarbeiter aus Protest gegen die Erhöhung der Leistungsnormen die Arbeit nieder. Ihrer Forderung nach Rücknahme der Normerhöhung folgt alsbald der Ruf nach dem Rücktritt der Regierung, Streiks und Demonstrationen wachsen binnen eines Tages zum Aufstand an. Von Moskau aus wird über Ostberlin der Ausnahmezustand verhängt, die Unruhen werden von den Panzern der Roten Armee beendet.
Vier Tage später gewinnt der 1. FC Kaiserslautern das Endspiel um die (west-)deutsche Fußballmeisterschaft gegen den VfB Stuttgart mit 4:1 im Berliner Olympiastadion.
Sechs Tage vor Matthies‘ Geburt hebt der sowjetische Stadtkommandant, Generalmajor Pjotr Akimowitsch Dibrowa, den über Ostberlin verhängten Ausnahmezustand auf.
Am 16. Juli findet der letzte Spieltag der DDR-Oberligasaison 1952/53 statt. BSG Motor Oberschöneweide, einer der Vorläufer des 1. FC Union Berlin, steigt als 15. der Abschlusstabelle in die DDR-Liga ab. Höchste Zeit also, dass Wolfgang Matthies am 17. Juli das Licht dieser Welt erblickt.
Der kleine Wolfgang jagt dem Ball hinterher, sobald er sich halbwegs sicher auf seinen Beinen halten kann: „Schon als Piepel spielte ich am liebsten Fußball, gleich bei uns auf der Straße. Ich bin ein richtiger Straßenfußballer. Gegenüber war eine Tischlerei, eingezäunt, eine lange gerade Fläche. Oder wir spielten auf dem Bürgersteig. Weil der nicht breit genug war, gehörte auch die Straße zu unserem Spielfeld. Schnell ein paar Jacken als Tore hingelegt, los ging’s. Auf der Straße herrschte kaum Verkehr. Kam doch mal ein Auto, mussten wir eben kurz warten – und das Spiel lief weiter. Die Tore mussten wir zum Glück nicht jedes Mal wegräumen, denn sie befanden sich auf dem Bürgersteig. Zumindest dafür war der breit genug.“
An ein fußballerisches Vorbild aus dieser Zeit kann sich Wolfgang heute nicht mehr erinnern, bevor ihm doch noch jemand einfällt: „Vielleicht Uwe Seeler?“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nur, ich spiele Fußball, solange ich denken kann.“
Auch an seiner Schule, der 10. Polytechnischen Oberschule (POS) Berlin-Adlershof in der Radickestraße, jagten Wolfgang und seine Kumpels dem runden Leder hinterher, wie sein Schulfreund Bernd Müller zu erzählen weiß: „Ich ging in Wolfgangs Parallelklasse und war fußballverrückt wie er – wie wir alle! Früher durfte man ja erst mit acht Jahren im Verein kicken. Weil es für uns noch nicht so weit war, spielten wir ab der ersten Klasse zusammen in der Schulmannschaft. Herr Kopittke, unser Zeichenlehrer, leitete das Training, zusammen mit Sportlehrer Jabbusch.
Hier lief das Ganze organisierter als zuvor auf der Straße. Wir bekamen sogar eine vollständige Spielkleidung. Unsere Jerseys waren grün, mit einem weißen V vorne drauf. Das hatte keine tiefergehende Bedeutung, es war grad modern. Von sechs bis acht Jahren, also in der ersten und zweiten Klasse, spielten wir hier zusammen, Wolfgang noch als Feldspieler. Wir traten auch gegen andere Schulen an.“
Als Feldspieler in der Schulmannschaft der 10. POS Adlershof, Wolfgang obere Reihe, 3. von rechts, um 1960
„Es gab eine Adlershofer Meisterschaft“, ergänzt Claus-Peter Oehmcke, Urgestein des Adlershofer Ballspielclubs 08. Er ist sechs Jahre älter als Bernd und Wolfgang und war damals wie diese geradezu besessen von dem einst als „englische Krankheit“ verschrienen Sport: „Ich spielte für die 12. Oberschule, und wir hatten ebenfalls eigene Jerseys, Stutzen – alles, was dazugehört. Unsere Sportlehrerin war Frau Jabbusch, die Gattin des Sportlehrers von der 10. POS. Wir waren begeistert von ihr! Aufm Platz legten wir uns besonders für sie ins Zeug und gaben alles, die anderen wegzuhauen. Dreimal hintereinander gewannen wir den Pokal. Das war eine schöne Zeit. Die Schule blieb immer im Hintergrund, also das Fachwissen. Hauptsache, wir gewannen beim Fußball!“
Mit acht Jahren wechselten Bernd, Wolfgang und ihre Mannschaftskameraden schließlich rüber zu Oehmcke in den Adlershofer Ballspielclub 08. Endlich waren sie alt genug, dort bei den Knaben mitzumischen.
Gegründet am 9. November 1908, firmierte der bis zum heutigen Tage durchgängig von kleinen Privatsponsoren am Leben gehaltene Club in der DDR lange Zeit unter dem Namen SG Adlershof – 1945 waren in der sowjetischen Besatzungszone auf Weisung der Militäradministration alle Sportvereine aufgelöst worden und hatten sich auf kommunaler Ebene als „Sportgruppen“ (SG) neu gegründet. Von 1948 bis 1955 trug der ABC auch offiziell wieder den Namen Adlershofer Ballspiel Club, anschließend firmierte er jedoch bis 1989 „gegen den Willen des Clubs“, wie die Vereinschronik vermeldet, erneut als SG Adlershof.
„Aber das sagte keiner von uns“, betonen Potti, Bernd und Claus-Peter wie aus einem Mund, „wir spielten beim ABC, Punkt!“
Auch hier war Wolfgang zunächst noch Feldspieler. Doch schon bald nach seinem Start im Verein geschah es: „Bei einem Hallenturnier fiel unser Torwart aus. Weil ich groß war, stellten sie mich in den Kasten. Ich muss wohl ganz ordentlich gehalten haben, denn dabei blieb es von nun an. Ich hatte kein Problem damit, im Gegenteil.“
Wolfgang fühlte sich sichtlich wohl als Torhüter, und schon bald hatte er auch klare Vorstellungen davon, wem er auf seiner Position besonders nacheiferte: „Mein erstes Vorbild als Torhüter war Enrico Albertosi, der viele Jahre beim AC Florenz und danach bei Cagliari Calcio und AC Mailand spielte.“
Später kam noch Rudi Kargus vom Hamburger SV hinzu. Der galt etliche Jahre als der „Elfmetertöter“ der Bundesliga. Sage und schreibe 23 Mal traten Strafstoßschützen vergeblich gegen Kargus an, der wie Matthies eine Vorliebe für längeres Haupthaar zeigte. Dieser wiederum eiferte Kargus beim Entschärfen von Elfmetern nach.
Sein erster Trainer beim ABC hieß Klaus Drescher. Schon bald jedoch bekamen Wolfgang und die anderen „kleenen Piepel“ ihr Fußball-Einmaleins von einer Frau vermittelt: „Wir hatten eine Trainerin. Sie hieß Marita und brachte uns eine Menge bei. Marita war sehr gut, nur ihren hohen, blonden Dutt mochte ich nicht so. Eine Fußball-Lehrerin, das war schon ungewöhnlich. Ich jedenfalls kannte keine zweite. Außerdem war sie Schiedsrichterin.“
Bernd Müller zeigt sich in Bezug auf ihre gemeinsame Trainerin Marita Ralf weniger kühl: „Marita war zielstrebig, sie sah furchtbar gut aus, und wir gingen nicht nur aus Freude am Bolzen so gern zum Training, sondern auch, weil wir so eine junge, schicke Trainerin hatten. Marita war klasse! Wir machten widerspruchslos alles, was sie verlangte. Es war nicht so, dass wir bei ihr rumgealbert hätten oder so. Eine Übungsleiterin, dazu eine, die so toll aussah, das gab es weit und breit nicht. Wir waren stolz, bei ihr zu trainieren!“
Mindestens eine, vielleicht sogar zwei Spielzeiten betreute Marita Ralf die Knabenmannschaft des ABC. Hans-Joachim Matthies, Pottis vier Jahre älterer Bruder und seit 1964 im Verein aktiv, erinnert sich ebenfalls an sie: „Marita war schon eine Respektsperson. Später ging sie rüber zum TSC, nach Köpenick.“
„Ich war sehr traurig, als sie zum TSC wechselte“, bekennt Bernd Müller, „und Wolfgang garantiert auch!“
Beim Training, links Marita Ralf, Trainerin der Jungenmannschaft, Wolfgang vordere Reihe, 2. von rechts, hier schon als Torwart
EXKURS: Frauenfußball beim ABC
Nicht nur bei den Adlershofer Knaben und Männern hinterließ Marita Ralf einen bleibenden Eindruck. Anfang 1966 erschien sogar in der Frauenzeitschrift „Für Dich“ ein Artikel über sie. Zwei Schwarz-Weiß-Fotos zeigten sie bei ihrer Arbeit als Fußball-Referee. Union Berlins Vereinschronist Gerald Karpa kommt 2019 im Stadionheft in einem Text über die Historie des Frauen- und Mädchenfußballs beim 1. FC Union auf besagten Artikel zu sprechen und weiß zu berichten, dass Marita 1962 ihre Schiedsrichter-Prüfung bestanden habe. Der „Für Dich“-Artikel führte sie als „der einzige aktive weibliche Schiedsrichter in Berlin“ auf, und Karpa fügt hinzu: „Sie ist beim TSC Berlin aktiv und mit der Klubgründung bald nach Erscheinen des Artikels Unionerin.“
Dass die Fußball-Pionierin vom ABC kam, dürfte kein Zufall gewesen sein. „Anhand eines Fotos vom 07.04.1950 läßt sich der Beginn des Damenfußballs beim ABC 08 nachweisen“, vermeldet die Vereinschronik eine frühzeitige Vorreiterrolle des Klubs, und gut sechs Jahre später, „am 21.11.1956[,] stellte man sich der Öffentlichkeit vor. Die Presse – Wochenschau und Fernsehen – waren hochgradig interessiert. 350 Zuschauer sahen das Spiel ,Frühlingsduft‘ – ,Herbststurm‘, welches nach 2 x 30 min mit 0:2 ausging.
Wir waren sozusagen der Vorläufer des Frauenfußballs im Osten. Doch das paßte nicht ins Bild des Bundesvorstands des DTSB und der Führung des Deutschen Fußball-Verbandes. Man teilte uns mit, daß unser kühnes Vorhaben der ,Moral und Ethik‘ des Frauensportes nicht entspricht und bei Zuwiderhandlung die Sportgemeinschaft Adlershof aus dem DTSB ausgeschlossen werden würde.“
Die aufmüpfigen Adlershoferinnen und Adlershofer blieben jedoch am Ball, und spätestens zum 70. Vereinsgeburtstag stieg am Lohnauer Steig das nächste offizielle Frauenfußballspiel: „Am 13.11.1978 wurde von unseren Damen gegen die BSG Fernsehelektronik vor fast 500 Zuschauern ein 1:0-Sieg erzielt.“
Diese Mannschaft spielte zwei Jahre zusammen, dann zwang sie der Mangel an jungen Spielerinnen zum Aufhören. Fortan dauerte es bis nach der Wende, doch spätestens 1997 war der Ball wieder am Rollen, und mittlerweile sind Frauenmannschaften des Adlershofer BC seit September 1999 am Punktspielbetrieb beteiligt.
Ab 1966 wurden Wolfgang Matthies und seine Mannschaftskollegen von Claus-Peter Oehmcke und dem heute seit vielen Jahren beim SV Empor Berlin tätigen Rainer Hartpeng trainiert: „Rainer und ich waren jungsche Kerle von 18 Jahren“, erinnert sich Oehmcke. „Wir spielten gerade erst in der 1. Herrenmannschaft und trainierten nebenbei die Jungs. Das machte Spaß, und die Truppe um Wolfgang und Bernd hatte es in sich. 1966 wurden sie Schülermeister. Ich weiß noch, bei Aufbau Rüdersdorf gewannen wir 19:0, zum Rückspiel bei uns traten die Rüdersdorfer gar nicht mehr an. Viele unserer Ergebnisse waren sehr hoch, etliche der Jungs spielten später bei ABC in der 1. Männermannschaft.“
Ihre Lauf-Trainingseinheiten absolvierten die Fußballer des ABC im Stadtwald Köllnische Heide. „Der Trainer auf dem Fahrrad, wir Jungs auf unseren Füßen, so ging es durch den Wald“, erinnert sich Claus-Peter Oehmcke. Als er Wolfgang, Bernd und deren Mannschaftskameraden unter seinen Fittichen hatte, lief er jedoch selbst mit. „Rainer Hartpeng und ich spielten gerade frisch in der 1. Männermannschaft, da nutzten wir das Ganze gleich als Training für uns.“
„Waldläufe waren an der Tagesordnung“, bestätigt Bernd Müller, „und wir hatten einen alten Bunker im Wald an der Friedlander Straße. Da ging es hoch und runter und im Winter mit dem Schlitten.“
Selbst Wolfgang Matthies erinnert sich übrigens bis heute ganz gern an jene Waldläufe in der Heide. Viel lieber jedenfalls als an alle späteren Laufeinheiten beim 1. FC Union.
Wolfgang wusste seit jeher, dass er Fußballer werden würde, und in seinem Zeichenlehrer und Fußball-AG4-Leiter Hermann Kopittke hatte er von Anfang an einen begeisterten Förderer: „Kopittke ließ mich eine Stunde früher nach Hause gehen, wenn zu Weltmeisterschaften oder bei der Olympiade die Spiele schon mittags angepfiffen wurden.
Schulschluss war ja erst 14 Uhr, da hätte ich die Übertragung im Fernsehen ja größtenteils verpasst.“
Wolfgang Matthies im Tor des ABC, Anfang/Mitte der 1960er
Potti als Steppke stelle ich mir als ähnliche Type wie einen Max Kruse vor, der laut Interview im Unionprogramm seine Lehrer einst wissen ließ: „Macht euch keine Sorgen, ich werde sowieso Fußball-Profi.“
Allerdings trat Wolfgang in der Schule nicht nur gegen den Ball: „Kopittke betreute die verschiedensten Arbeitsgemeinschaften, unter anderem ,Junge Philatelisten‘ und natürlich Kunst. Seitdem interessiere ich mich für Briefmarken! Was die Kunst angeht, hatte ich nachweislich nicht das große Talent. Ich machte trotzdem mit, weil das so ein toller Lehrer war!“
Die stellvertretende Schuldirektorin überreicht Wolfgang eine Auszeichnung, ganz sicher für Leistungen auf dem Fußballrasen, Fritz-Lesch-Sportplatz in der Dörpfeldstraße, Adlershof um 1963.
Später unterrichtete Hermann Kopittke Wolfgangs Klasse in ESP, sprich: „Einführung in die sozialistische Produktion“. Ein Fach mit großem Langeweile-Potenzial, aber nicht bei Herrn Kopittke: „Der fuhr mit uns in den Betrieb, dort gingen wir auf den Hof – und spielten Fußball!“
Nicht nur bei Wolfgang Matthies drehte sich fast alles um den magischen Lederball, wie sein Schulfreund Bernd Müller bestätigt: „Kamen wir von der Schule nach Hause, hieß es: Mappe in die Ecke, Ball geholt, ab zum Knödeln! Hinten aufm Hof hatten wir zwei Tore, da haben wir gespielt. Straßenmannschaft gegen Straßenmannschaft, alles selbst organisiert, bolzten wir bis zum Abend herum.“
„Auch bei mir ging‘s in der Schulzeit nur um Fußball!“, wirft Claus-Peter Oehmcke ein. „Wir spielten jeden Tag auf dem Nebenplatz bei ABC. Als ich Jugendweihe hatte, fuhr mich mein Onkel zum Sportplatz, damit ich wenigstens noch in der zweiten Halbzeit auflaufen konnte. Es interessierte mich gar nicht, ob die da feiern oder weiß ich was machen. Sofort rüber, Klamotten angezogen und ruff uffn Platz!“
Ahnten seine Sportskameraden bereits, dass es bei Wolfgang Matthies einmal bis in die oberste Liga raufgehen würde? „Ehrgeizig war Wolfgang schon immer“, erinnert sich Bernd Müller, „sonst wäre er am Ende ja nicht bei Union gelandet. Aber ich kann nicht sagen, dass er sich aufm Platz nun ausgesprochen fanatisch gebärdet hätte. Wir waren ja alle fußballverrückt, und jeder wollte gewinnen! Er war ein lustiger Typ, aber hatte eben auch ‘ne klare Meinung. So ging er später nie in die Partei, was am Ende sicher auch seine Nationalmannschafts-Laufbahn etwas bremste. Wolfgang hatte eben seinen eigenen Stil.“
„Wir spürten schon, dass er mehr draufhat, als beim ABC zu bleiben“, wirft Claus-Peter Oehmcke ein. „Er wollte immer mehr, und er hat‘s ja auch geschafft, dass er bei der Sichtung genommen wurde, bei den Junioren eines Erstligaklubs! Aber auch dann ließ er die Verbindung zu ABC nie abreißen.“
Erlaubte es seine Zeit, besuchte Wolfgang Matthies die Spiele seines alten Vereins. Auch beim Kappenfest im Gesellschaftshaus Grünau, eine Großveranstaltung des ABC mit Musik, Tanz und gut 250 Besuchern, ließ er sich gelegentlich sehen.
Wolfgangs Verbindung zu Bernd Müller überstand auch die Wirren der stürmischen Jugendzeit, wie dieser mittels einer kleinen Geschichte herausstellt: „In der Schule waren wir eine Clique, drei, vier Jungs und drei, vier Mädels. Wir feierten Partys, unternahmen was, trieben zusammen Sport. Im Sommer gingen wir schwimmen, im Winterhalbjahr liefen wir oft Schlittschuh. Die Tennis-Anlage an der Dörpfeldstraße wurde zur Eisbahn umgespritzt.“
Gaby, eines der Mädels, ging in Wolfgangs Klasse und wurde Bernds Liebste. „Als ich dann bei der Armee war, lernte sie jemand anderen kennen“, entsinnt sich Müller. „Sie schrieb mir, dass Schluss ist. Nun, auch ich blieb nicht allein. Zum Kappenfest kam ich auf Urlaub raus und fragte meine neue Freundin: ,Kommste mit?‘ Sie wollte, und wir gingen zum Gesellschaftshaus. Draußen standen mein Bruder und Wolfgang. ,Gaby ist da!‘, warnten sie mich. Sie saß am Tisch mit meinen Eltern, und alle sahen mich mit großen Augen an. Gaby wirkte sehr traurig, dabei hatte sie doch mit mir Schluss gemacht!
Wolfgang ging mit ihr raus, um sie zu trösten. Dann kam er wieder rein und stellte mich zur Rede: ,Was haste denn da mit Gaby angestellt?!‘“
Offensichtlich fühlte sich Wolfgang Matthies verantwortlich dafür, dass keiner seiner Freunde dem anderen wehtat. Bernd erklärte die Sachlage, und längst ist ja alles wieder gut, wie er zu erzählen weiß: „Gaby heiratete meinen Nachfolger und ist bis heute meine beste Freundin. Ich heiratete meine damals neue Freundin, und Wolfgang heiratete kurz nach uns seine Marina, am 4. Juni 1976 auf dem Standesamt, einen Tag später in der Kirche.“
Wolfgang und seine Frau Marina hatten einander im November 1972 kennengelernt – ebenfalls im Gesellschaftshaus Grünau, bei einem Betriebsvergnügen des Kabelwerks Adlershof, wo Marina arbeitete. Zwei Jahre nach ihrer Hochzeit, am 8. Mai 1978, wurde ihre Tochter Rabea geboren.
Die Freundschaft zwischen Bernd und Wolfgang besteht bis heute: „Wolfgang war bei meinem sechzigsten Geburtstag und ich bei seinem sechzigsten im Bootshaus Sportdenkmal bei Rolli Weber. Jeder von uns bekam von unserem alten Lehrer ein selbst gebundenes Heft mit Erinnerungsfotos und Texten.“
Ein schmucker junger Mann: Wolfgang Matthies mit 19 oder 20 Jahren, Berlin, Anfang der 1970er
Hermann Kopittke hält zweifelsohne eine Aktie am sportlichen Erfolg des Wolfgang Matthies. Über viele Jahre organisierte der Kunst-, Philatelie- und Fußball-Enthusiast zum Abschluss des Schuljahrs das „Spiel der Spiele“, in welchem die abgehenden Schüler gegen ihre Lehrer antraten. Wenn es seine Zeit erlaubt, war und ist Wolfgang dabei – auch viele Jahre später, als man aus Altersgründen nicht mehr auf dem Fußballplatz, sondern am Skat-Tisch gegeneinander antrat.
„Ich hab nie ,Potti‘ zu ihm gesagt“, stellt Müller abschließend klar. „Für mich ist er nach wie vor mein Schulfreund und Sportskamerad Wolfgang. Bis zu Corona trafen wir uns regelmäßig mit Hermann Kopittke und kloppten Skat. Gelegentlich sahen wir uns zu Union-Spielen im Stadion An der Alten Försterei. Wolfgang hat ja als Ehrenmitglied eine VIP-Karte. War ich im Stadion, rief ich ihn an. Er kam zu mir raus, und wir quatschten ein bisschen über alte Zeiten. Seinen Humor hat er zum Glück bis heute nicht verloren.“
Die Lehrermannschaft beim „Spiel der Spiele“, verstärkt durch Wolfgang Matthies; untere Reihe, Mitte: Bernhard Jabbusch; Adlershof 1975
Sportlehrer Bernhard Jabbusch überreicht Wolfgang einen Blumenstrauß, „Spiel der Spiele“ 1975.
4AG steht hier nicht, wie heute vielfach üblich, für Aktiengesellschaft, sondern für Arbeitsgemeinschaft. In diesen fanden sich Schüler oftmals sogar freiwillig zusammen, um sich intensiver mit einem bestimmten Spezialgebiet wie Literatur, Kunst, Mathematik oder eben auch Sport zu beschäftigen.