Читать книгу Eisern zwischen den Pfosten - Frank Nussbücker - Страница 9
ОглавлениеSEIT 50 JAHREN EINE CLIQUE
Wolfgang Matthies, Joachim Sigusch und Rolf Weber bilden mittlerweile seit fast fünf Jahrzehnten eine Clique, wie Weber 2017 herausstellt: „Wir kennen uns seit 1972, auch unsere Frauen treffen sich seither regelmäßig. Wir wohnten ja eine Weile alle in einer Ecke, in der Nähe vom Ostbahnhof, wo viele Unioner wohnten. Potti und ich in der Singerstraße, Bulle etwa fünf Minuten zu Fuß von uns entfernt.“
Alle drei Spieler zusammen bringen es auf insgesamt 795 Pflichtspieleinsätze für den 1. FC Union Berlin. Doch sie trainierten und spielten nicht nur zusammen, wie Potti erzählt: „Wenn wir mit dem Bus vom Auswärtsspiel zurückkamen, zogen wir nach einem Sieg erst mal in ‘ne Gaststätte ein. Das passierte allerdings nicht allzu oft.“
Dennoch häufig genug zum Leidwesen der Frauen, wie Wolfgang Matthies‘ Gemahlin 2020 bemerkt. Rolf Weber weiß das Ganze allerdings ein wenig zu relativieren: „Wir wussten ja, die Frauen treffen sich auch. Die saßen zu Hause zusammen, und wir gingen in die Kneipe.“ – „Und Uli Werder musste unsere Taschen nach Hause bringen!“, behält Matthies einmal mehr das letzte Wort.
Ulrich Werder hatte aber nicht etwa unfreiwillig als Wasserträger herzuhalten, wie mir Potti sofort versichert: „Der wollte nicht mit uns in die Gaststätte, sondern nach Hause. Also hat er unsere Taschen mitgenommen, aus Sympathie“, setzt er lachend hinzu. Genau wie Weber, Matthies und Sigusch wohnte nämlich auch Ulrich Werder einige Zeit am Ostbahnhof. Wenn nun die drei Herren direkt nach dem Ausstieg Richtung Gaststätte aufbrachen, übernahm ihr freundlicher Mitspieler ihre Sporttaschen, um sie, quasi vis-à-vis seiner eigenen Bleibe, bei deren Frauen abzuliefern.
Rolf Weber wird fast ein bisschen wehmütig, als er hinzufügt: „Das sind so Sachen, die jetzt überhaupt nicht mehr möglich wären. Stiegen heutzutage sechs, sieben Erst- oder Zweitliga-Spieler aus Flieger oder Mannschaftsbus und spazieren erst mal in ‘ne Kneipe, kämen sofort unzählige Blitzlichter zum Einsatz.“
Davon abgesehen, dass es anschließend einen moralischen Aufschrei sämtlicher Boulevardmedien gäbe. In den 1970er Jahren beim 1. FC Union Berlin lief dieses Prozedere ohne jedwede Erwähnung in der Presse ab, wie Matthies, Sigusch und Weber zu erzählen wissen: „Montag war so eine Art Regenerationstag, mit Sauna und ein bisschen Abtrainieren. Danach rückten wir zu zehnt in den Sandmann oder am Alex ins Bowling-Center ein. Später besuchten wir auch die Gutenberg-Stuben am Ostbahnhof. Das sind Sachen, an die erinnern wir uns noch immer gerne“, bekennt Weber 2017. „Das können die Berufsfußballer heute gar nicht mehr! Die kriegen zwar alle einen Haufen Geld, aber die müssen sich ja so disziplinieren. Heutzutage würde die BILD-Zeitung wer weiß was draus machen. Aber nicht, dass du denkst, unsere Truppe hätte nur gesoffen!“, ermahnt er mich und fährt fort: „Kam der eine oder andere mal spät von einer Geburtstagsfeier zurück, stand er morgens eben ein bisschen müde da. Aber das wurde nicht überbewertet. Seine Leistung brachte er ja trotzdem.“ Wenngleich ihr langjähriger Trainer Heinz Werner wohl nie verstehen konnte, dass ein Fußballspieler am Abend mehrere Bier hintereinander trank oder obendrein gar noch rauchte – zu beiden Themen gleich mehr.
Apropos Geburtstagsfeiern: Wolfgang Matthies litt zu keiner Zeit unter Berührungsängsten mit Union-Fans. „Es gab bei Union zwee Zwillings-Mädels, die ihren 18. Geburtstag feiern wollten“, erinnert er sich 2017. „Sie fragten mich, ob ich zu ihrer Geburtstagsparty komme. Wahrscheinlich rechneten sie nicht mit meinem Erscheinen. Als ich dann tatsächlich bei ihnen auf der Matte stand, waren sie völlig von den Socken. Ich war ja nicht so viel älter als sie, vielleicht grad mal zwanzig oder so. Für die beiden war ick der große Held bei Union, und dass der zu ihrem 18. Geburtstag antanzte, davon reden sie glaube ich heute noch.“ Und wie sie das tun, selbstverständlich auch in diesem Buch!
Generell fühlten sich die Union-Spieler jener Jahre nicht als Stars. Natürlich war ihnen klar, dass sie etwas mehr unter allgemeiner Beobachtung standen als manch anderer Mitbürger. Berührungsängste mit den Fans waren ihnen indes fremd. „Das gab‘s bei uns noch nicht“, stellt Kapitän Sigusch klar, „anderenfalls wären wir doch nicht einfach so zum Sandmann in die Kneipe gegangen, wo uns jeder kannte.“
„So bewusst war uns das nicht, dass wir eine besondere Stellung innehatten“, bestätigt Matthies, wobei er hinzusetzt: „Zumindest dachte ich manchmal so bei mir: Andere gehen für 500 Mark im Monat arbeiten, und du kriegst ja schon ein bisschen mehr. Vielleicht haben wir uns doch ab und zu als ein bisschen ,was Besseres‘ gefühlt? Ich weiß es nicht.“
Im Stadion jedenfalls gaben die Union-Spieler jederzeit gern Autogramme, sobald sie jemand danach fragte. Aus Matthies‘ Mund heißt das: „Wenn eener kam, haben wir nie gesagt: ,Lass mich in Ruhe‘, und schickten ihn weg.“
Genau wie heute standen beim Training immer ein paar Leute an der Barriere, die aufmerksam begutachteten, was „ihre“ Spieler da auf dem Rasen so anstellten. Und selbstverständlich wussten auch die „Kiebitze“ von damals ganz genau, wo und wie der Hase läuft.
Während des Spiels und danach zeigten sich die Unioner auf den Stadionstufen durchaus kritisch gegenüber ihren Spielern. Obgleich auch schon damals das Auspfeifen der eigenen Mannschaft verpönt war, kam es durchaus vor, dass Fans diesen oder jenen Spieler ins Visier nahmen, wenn der mal nicht so beherzt gespielt hatte, wie sie das von ihm erwarteten. Dazu Sigusch: „Das waren paar Sachen, die dann für den Betreffenden nicht so angenehm waren.“
Der Zorn der Unioner von den Rängen konnte durchaus auch mal der gesamten Mannschaft gelten, wie Rolf Weber weiß: „Unter Dieter Fietz verloren wir in der katastrophalen Aufstiegsrunde 1974/75 zu Hause 1:5 gegen Energie Cottbus. Wir zogen uns damals in so ‘ner Baracke um, und nach dem Spiel wollten etwa vierzig Unioner diese Baracke stürmen. Uns war klar, dass die uns nicht an die Gurgel wollten, die Belagerung fühlte sich trotzdem ganz schön bedrohlich an.“
Am Ende wurde niemand verletzt, und alle Spieler kamen unversehrt nach Hause – ohne Einsatz von Polizei, Ordnungsdienst oder anderen Sicherheitskräften. Webers Fazit: „Emotionen sowohl in die eine wie in die andere Richtung gab‘s auch damals, aber vom Prinzip her herrschte immer der Grundsatz: Ein Unioner wird nicht beschimpft, der wird auch nicht ausgepfiffen, ditt is‘n Unioner!“
In der Tat gab es schon bald nicht mehr viele Anlässe dafür, wutentbrannt die Umkleidebaracke der Union-Mannschaft jener Jahre zu erstürmen. Wobei die Mannschaft des Kapitäns Sigusch alles andere als eine Torfabrik war.
„In einer Spielzeit holten wir bis zur Halbserie mit ganzen elf geschossenen Toren 15 Punkte“, erinnert sich Vorstopper Rolli Weber. „Das heißt, dass wir fast immer zu null spielten. Wir hatten eine eingespielte Abwehr mit Möckel, Bohla, Weber, Vogel – und Matthies im Tor.“
Potti kann sich natürlich auch an dieser Stelle das Frotzeln nicht verkneifen: „Dass wir auf der anderen Seite höchstens ein Tor pro Spiel schossen, lag ja nicht an uns. Das lag an den Stürmern, an Bulle Sigusch zum Beispiel.“
Der hier Gescholtene bekleidete fast die gesamte Zeit über die Funktion des Mannschaftskapitäns. Auch Rolf Weber habe kurzzeitig mal die Kapitänsbinde getragen, erinnern sich die drei. Über Kapitän Sigusch weiß Weber zu berichten: „Der Bulle war nie ein großer Redner, doch mit seinem enormen Kampfgeist riss er uns alle immer wieder mit! Gerade bei unseren beiden Siegen gegen Dynamo!“
Als ich nachfrage, ob sie denn auch auf ihren Kapitän gehört hätten, überschlagen sich Weber und Matthies geradezu. „Wir hörten unheimlich auf ihn!“, prustet Potti los. „Was soll ich denn auf einen hören, der mich beim Torschusstraining immer wieder losschickte, die Bälle aus dem Wasser zu holen? Einfach, weil er das Tor nicht traf. Was ich da ständig in die Wuhle steigen musste, um das Spielgerät zu sichern!“
Potti faustet, die Abwehr steht; v. l. n. r.: Schwemmer (Zwickau), Möckel (Union), Schellenberg, Bütow (beide Zwickau), Hendel, Rolf Weber (beide Union), Braun (Zwickau); DDR-Oberliga, BSG Sachsenring Zwickau – 1. FC Union Berlin 1:2 am 12. März 1977.
„Stand vor dem Anpfiff die Platzwahl an und Bulle sagte uns dann, wir müssten rüber auf die andere Seite, hörten wir natürlich auf ihn“, fügt Weber hinzu. „Und auch, wenn er sagte: ,Los, Männer, wir gehen ‘n Buch drucken!‘9 Mit anderen Worten, autoritär war unser Käpten nicht.“
„Musste ick ja auch nicht“, meldet sich dieser schließlich selbst zu Wort. „Wir hatten ja keene Ausraster, das war alles schon in Ordnung. Jeder von uns hatte außerdem genug mit sich selbst zu tun. Und jeder baute auch mal Scheiße.“
„Ich hab oft genug gepatzt, wozu meine Mannschaftskameraden dann nichts weiter sagten“, zeigt sich Matthies an dieser Stelle ungewohnt selbstkritisch.
Wolfgang Matthies richtet Unions Abwehr vor einem Standard aus, links Lutz Möckel; DDR-Oberliga, BSG Sachsenring Zwickau – 1. FC Union Berlin 1:1 am 4. Oktober 1977.
Auf das Kapitäns-Thema zurückkommend, gibt Rolli Weber 2017 zu Protokoll: „Ich denke mal, der Käpten hat heute viel mehr Bedeutung als zu unserer aktiven Zeit. Allein schon durch die ganzen Medien, für die der Kapitän ständig präsent sein muss. Was aufm Platz angeht, kann ich mich nicht daran erinnern, dass uns Bulle mal als Mannschaft zusammennahm nach dem Motto: Kommt mal alle her, ich will euch was sagen.“
Auch das Gespräch mit dem Schiedsrichter gehörte damals weniger zum Alltagsgeschäft eines Mannschaftskapitäns, wie Joachim Sigusch 2017 zu Protokoll gibt: „Zum Schiri gehen, um da irgendwas zu fordern oder zu reklamieren? Das gab‘s gar nicht, das wird ja heutzutage übertrieben. Ich als Schiri würde vorm Spiel in die Kabine gehen und sagen: So, passt uff, ick entscheide da draußen, und da braucht ihr nachher nicht um meine Person herumspringen und mir erzählen, ich solle doch mal ‘ne Karte zücken oder Video gucken gehen.“
Wolfgang Matthies im Gespräch mit Schiedsrichter Klaus-Dieter Stenzel, nachdem dieser Unions Olaf Seier die Gelb-Rote Karte zeigte; DDR-Oberliga, BSG Wismut Aue – 1. FC Union Berlin 3:0 am 26. April 1986.
„Zu Ostzeiten gab‘s nur zwei gute Schiedsrichter, die nicht gegen uns pfiffen“, wirft Potti hier ein. „Das waren Hans Kulicke10 und Bernd Heynemann, ick wüsste keenen anderen.“
Rolli Weber zeigt sich einmal mehr nachsichtiger und zählt auch Günter Männig und Siegfried Kirschen zu den Unparteiischen, die auf dem Platz zumindest nicht gegen Union agierten. Sein Fazit: „Wer uns gegenüber neutral blieb, der war schon okay!“
Das Thema Schiedsrichter war und ist wohl für alle Zeiten eines für sich. Gehe ich von mir aus, sehe ich meinen Verein im Stadion kaum einmal auffällig bevorzugt vom Referee, wohl aber in unzähligen Spielen aufs Bösartigste verpfiffen. Oft half mir im Nachhinein die im Fernsehen mehrfach und aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigte Zeitlupe, die eine oder andere Entscheidung des Unparteiischen besser zu verstehen. Und ebendiese Zeitlupe, geschweige denn speziell aufbereitete Videosequenzen, hatten die Schiedsrichter jener Jahrzehnte während des Spiels im Stadion ja nicht zur Verfügung.
Längst nicht nur bei diesem Thema sind sich die drei Fußballer ausgesprochen einig. Es berührt mich, wie sie einander frotzeln und dabei wieder zu Jungs werden, die scheinbar gerade vom Bolzplatz kommen. Vor allem, weil sie bei allem Spaß Anteil am Schicksal von anderen nehmen, wie dies nur gestandene, vom Leben geprägte Menschen zu tun vermögen.
So bekommt während unseres Gesprächs einer von ihnen, ich glaube, es ist Sigusch, einen Anruf. Am anderen Ende ist jemand aus dem engeren Bekanntenkreis von Union-Legende Günter „Jimmy“ Hoge.
EXKURS: Jimmy Hoge
Der in sechs A-Länderspielen der DDR eingesetzte Stürmer bestritt am 31. Mai 1970 sein letztes von 89 Spielen für den 1. FC Union Berlin, bevor er aus disziplinarischen Gründen mehrere Jahre für alle oberen Ligen gesperrt wurde und seine Laufbahn als Leistungssportler ein jähes Ende fand.11
Zu diesem Zeitpunkt hatte aus dem Kreis der hier zitierten drei Männer lediglich Joachim Sigusch zusammen mit Hoge bei Union trainiert. Rolf Weber erinnert sich an die Erzählungen von Wolfgang „Ate“ Wruck, dem zweiten „echten“ deutschen Nationalspieler von Union: „Bei einem Turnier in Südamerika wurde Jimmy berühmt als der blonde Junge, der dort drüben alle schwindelig dribbelte. Er war ja schon immer ein eher überschwänglicher Typ, aber auch der deutlich ruhigere Ate bestätigte uns, dass die Südamerikaner Jimmy umjubelten und verehrten.“
Später, als Rolli längst Wirt des Bootshauses Sportdenkmal in Grünau war, feierte Unions Stürmer-Legende hier seine letzten zwei runden Geburtstage, zu denen sich viele ehemalige Weggefährten ein Stelldichein gaben.
In unserem Gespräch im Oktober 2017 zeigen sich alle drei Männer nun sichtlich ergriffen, als der Angerufene mit leiser Stimme vermeldet: „Jimmy jeht‘s nich jut.“ Er habe mächtig abgenommen. Alle drei spüren offensichtlich, wie es um ihren ehemaligen Berufskollegen steht. Kurz darauf, am 6. November 2017, schließt der widerspenstige Fußballer Günter „Jimmy“ Hoge für immer seine Augen. Er wurde 77 Jahre alt. Rolf Weber dazu: „Wenn da einer wegbricht, das ist schon traurig.“
9Diese Umschreibung gebrauchten die beteiligten Fußballer, wenn sie einen Besuch der erwähnten Gaststätte Gutenberg-Stuben am Ostbahnhof ins Auge fassten. Selbstverständlich war dies auch ihren Frauen ein Begriff.
10Hans „Hänschen“ Kulicke war offenbar ein Schiri mit Humor. So ist überliefert, er habe Dresdens Spieler Hartmut Schade, als der sich über eine von Kulicke getroffene Entscheidung mokierte, zurechtgewiesen: „Hier pfeifen nur zwei, ich und der Wind!“
11Zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen äußerte sich Hoge, der anschließend nur noch unterklassig kickte (unter anderem für den Bezirksligisten BSG Motor Hennigsdorf), später in einem 2017 von Gerald Karpa im Unionprogramm zitierten Interview mit „Horch & Guck“ wie folgt: „Ich hatte meinen ehemaligen Trainer Werner Schwenzfeier zufällig in Ahrenshoop im Urlaub getroffen. Im Fernsehen wurde das Spiel Deutschland–Italien [WM-Halbfinale 1970, Anm. d. Verf.] gezeigt, das haben wir uns gemeinsam angesehen. Sie warfen mir vor, ich hätte das Deutschlandlied gesungen. Dabei kenne ich den Text bis heute nicht. Ich wurde für sechs Jahre gesperrt.“