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Maramon

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Fünfeinhalb weitere Tage dauerte ihre Reise an. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto dichter besiedelt war das Land, und desto mehr Menschen begegneten ihnen auf den Straßen. Viele waren ebenfalls nach Maramon unterwegs, darunter ganze Karawanen.

Auf Maziroc übte die Reise eine sichtlich belebende Wirkung aus. Schon seit Aylon ihn kannte, hatte sich der Magier allzu oft in der Rolle des Schwarzsehers und ernsthaften, düsteren Mahners gefallen, doch nun zeigte sich so munter und gut gelaunt wie lange nicht mehr, entwickelte gelegentlich sogar Anflüge eines kauzigen Humors. "Früher bin ich fast ständig unterwegs gewesen", erzählte er, als sie auch am zweiten Abend wieder in einem Gasthaus einkehrten und der Wein seine Zunge zu lockern begann. "Ich habe mich in beinahe jedem Winkel Arcanas herumgetrieben. Irgendwann bin ich dann nach Cavillon zurückgekehrt und habe mich dort niedergelassen, um mein Wissen weiterzugeben. Ich habe geglaubt, ich wäre zu alt, um noch zu reisen, aber das war wohl ein Irrtum."

"Und wie alt bist du nun eigentlich?", erkundigte sich Aylon. Er hatte gehofft, Maziroc überrumpeln zu können, doch wie die Male zuvor, erhielt er auf diese Frage nur ein mildes Lächeln zur Antwort.

Anders als zu Beginn ihrer Reise mieden sie auch tagsüber nicht mehr die Dörfer, die auf ihrem Weg lagen. Aylon vermutete, dass aufgrund der Geschicklichkeit, mit der er mittlerweile die mentale Ausstrahlung eines Menschen nachzuahmen verstand, ohne überhaupt noch daran zu denken, Maziroc es nicht mehr für nötig hielt, ihn vor anderen zu verstecken.

Von den Bewohnern Largons schien niemand etwas von dem nächtlichen Kampf bemerkt zu haben. Auch der Damon war seither nicht mehr zu sehen gewesen. Offenbar hatte das Trugbild ihn in solche Angst versetzt, dass er aus dieser Gegend geflohen war. Aylon hatte die Nacht durchgeschlafen und sich längst von der Erschöpfung erholt, als er am nächsten Morgen aufwachte, dennoch war es ihm eine Lehre, sich seine erst schwach entwickelten magischen Kräfte in Zukunft sorgsamer einzuteilen. Seither hatte er darauf verzichtet, weitere Versuche mit Charalons Reif anzustellen, und er war immer noch nicht überzeugt, ob er wirklich richtig gehandelt hatte. Sicher, es war ihm gelungen, den Damon auf friedlichem Wege zu vertreiben, aber das Problem bestand deshalb dennoch fort. Die Bestie würde sich nicht ändern, würde auch weiterhin unschuldige Menschen anfallen, und ihre nächsten Opfer würden sich möglicherweise nicht gegen sie verteidigen können. Oft grübelte er über diesen Gewissenskonflikt nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Hatte er das Recht, ein fremdes Wesen, ein Tier, zu töten, um dadurch eventuell das Leben von Menschen zu retten? Und wenn er es getan hätte, wäre es dann nicht konsequent, vorbeugend eine Treibjagd auf alle Raubtiere zu eröffnen, um sie auszurotten, bevor sie jemandem gefährlich werden konnten?

Es war eine logische Kette, die ins Absurde führte, doch er fand keinen Punkt, sie zu unterbrechen.

Aber nicht nur dieser Gedanke bereitete ihm seit dem Abend in Largon Sorgen. Aylon spürte etwas tief in sich, ein ungewisses Drängen, dass ihn mit geradezu magischer Kraft nach Maramon zog. Er wusste nicht, ob es mit dem Reif zusammenhing oder einfach nur die Vorfreude auf das war, was ihn erwartete, aber bei jeder Rast fühlte er sich bereits nach einigen Minuten unruhig, und seine Ungeduld schwand erst, wenn sie sich wieder auf den Weg machten. Etwas erwartete ihn, lockte ihn. Einige Male hatte er Maziroc davon erzählen wollen, dann aber doch geschwiegen, aus einem Grund, der ihm selbst nicht recht klar war. Erst als sie gegen Mittag des sechsten Tages Maramon erreichten, hörte das stumme Locken so plötzlich auf, wie es gekommen war.

Von einem Hügel aus blickten sie auf die Stadt hinunter. Aylon ließ sich Zeit, das Bild in sich aufzunehmen. Die Stadt war völlig anders, als er sie sich ausgemalt hatte. Nicht enttäuschender oder prachtvoller, weder größer noch kleiner, sondern einfach nur anders. Bislang hatte er keine andere Stadt als Cavillon gesehen und sich so etwas wie eine vergrößerte Ausgabe davon vorgestellt. Cavillon jedoch war ein homogenes, nach vorgefertigten Plänen in einem Guss errichtetes Bauwerk, während Maramon im Laufe von Jahrhunderten natürlich gewachsen war; anfangs vermutlich nicht mehr als eine Festung, vor deren Toren ein Dorf entstanden war, das mit der Zeit größer und bedeutungsvoller und schließlich zu einer Stadt geworden war. Es gab keinen einheitlichen Baustil, nicht einmal eine Symmetrie in der Anordnung der Gebäude, sondern alles machte einen wirren, ungeordneten Eindruck. Dazu trug noch bei, dass es keine Stadtmauer gab. Es hatte einmal eine gegeben, mehrere sogar, deren Überreste sich noch an einigen Stellen zwischen den Häusern entdecken ließen, aber sie waren von der sich immer weiter ausdehnenden Stadt überwuchert worden. Irgendwann hatte man wohl eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, immer weitgezogenere Mauern zu errichten, wenn spätestens nach ein oder zwei Jahrzehnten der Platz doch wieder zu eng wurde und außerhalb von ihnen neue Gebäude entstanden.

Im Herzen der Stadt erhob sich die ursprüngliche Festung, ein wuchtiger, gedrungener Klotz, der einst sicherlich eine wehrhafte Burg gewesen, nun jedoch mehr Ähnlichkeit mit einem Schloss hatte. Die ehemaligen Befestigungsanlagen waren an vielen Stellen ganz entfernt, an anderen so umgebaut oder bepflanzt worden, dass sie nur noch zur Zier dienten, ohne ihrer eigentlichen Aufgabe noch gerecht zu werden. Wozu auch? Larquina war ein riesiges Reich, das seit ewiger Zeit keinen Krieg mehr geführt hatte. Eine Bedrohung wie durch die Damonen hatte noch vor wenigen Jahren niemand vorhersehen können. Nachdem man schon vor tausend Jahren geglaubt hatte, diese Gefahr wäre endgültig gebannt, hatte sich vor rund zwei Jahrzehnten eine neue Weltenbresche geöffnet. Es hieß, dass auch sie vernichtet worden wäre, doch das hatte sich als ein folgenschwerer Irrtum herausgestellt. Zwar war die Weltenbresche beschädigt, aber nicht zerstört worden, und noch immer gelangten auf diesem Weg neue Damonen nach Arcana.

Aber daran wollte Aylon jetzt nicht denken, zu sehr beeindruckte ihn das, was er sah. Maramon quoll fast über vor Menschen. Wohin er auch blickte, sah er Bewegung, die Straßen und Plätze waren ein Meer schwerfällig wogender Köpfe und Kleidungsstücke, jedenfalls im Zentrum. "Es dürfte schwer werden, noch ein freies Zimmer zu bekommen", murmelte er. Auf einer großen Wiese am Rande der Stadt waren bereits annähernd hundert Zelte aufgeschlagen worden.

"Keine Sorge, wir werden nicht in einem Gasthof übernachten", antwortete Maziroc. "Ich habe Freunde hier, bei denen wir unterkommen können."

"Ishar?"

"Nein. Es gibt zwar eine starke Abordnung unseres Ordens hier, aber sie nehmen kaum am höfischen Leben teil und könnten dir in dieser Hinsicht nicht viel beibringen. Ich habe ihnen jedoch eine magische Botschaft geschickt, damit sie Baron Brass unser Kommen melden. Er ist einer der Berater Fürst Argars."

Sie ritten in die Stadt hinein, wobei sie sorgsam die großen, belebten Straßen mieden, um schneller voranzukommen. Kaum jemand nahm Notiz von ihnen. Magier schienen hier zum gewohnten Bild zu gehören. Erst als sie sich der Festung bereits ein gutes Stück genähert hatten, mussten sie absteigen und die Pferde führen, weil das Gedränge zu stark wurde. Der Marktplatz wimmelte nicht nur vor Menschen, sondern Händler hatten auch überall ihre Stände aufgeschlagen. Es gab so viel zu entdecken, dass Aylon kaum wusste, wo er zuerst hinschauen sollte. Mehrmals stieß er mit anderen Passanten zusammen, weil er nicht aufpasste.

"Du kannst dir später noch alles ansehen", ermahnte ihn Maziroc. "Jetzt pass lieber auf, wo du gehst."

Vor dem geöffneten Tor der Festung standen mehrere Wachen in blauen Uniformen und verwehrten den Schaulustigen den Zutritt. Einer von ihnen wollte auch Maziroc zurückscheuchen, erkannte dann aber, dass er einen Ishar vor sich hatte und erkundigte sich stattdessen in plötzlich wesentlich freundlicherem Tonfall, wohin sie wollten. Von hinten näherten sich ihm zwei jüngere Ishar. "Schon gut. Wir erwarten ihn bereits", erklärte einer von ihnen. Der Wachposten gab bereitwillig den Weg frei.

Aylon machte sich nicht einmal die Mühe, sich die Namen der beiden Ishar zu merken, die Maziroc ihm als ehemalige Schüler vorstellte. Sie winkten einen jungen Burschen herbei und beauftragten ihn, die Pferde in den Stall zu bringen. Während sie durch lange Korridore und riesige Hallen schritten, lauschte Aylon dem Gespräch der drei Magier nur mit einem Ohr. Er hatte ein düsteres Gemäuer erwartet, doch so wie man sich bemüht hatte, dem Äußeren der Festung ein freundlicheres Aussehen zu verleihen, war auch ihr Inneres mit geradezu verschwenderischem Prunk ausgestattet. Durch eine Vielzahl von Fenstern fiel helles Tageslicht herein. Die Menschen, an denen sie vorbeikamen, trugen Gewänder, die zweifelsohne vornehm und aus teuren Stoffen gefertigt, für Aylons Geschmack jedoch entschieden zu bunt und mit zu viel unnötigem Zierrat wie Schnallen, Rüschen und Stickereien versehen waren.

Sie brauchten nicht besonders weit zu gehen. Baron Brass bewohnte einen eigenen Flügel des Schlosses, vor dessen Zugang ebenfalls Wachen standen. Die beiden Ishar verabschiedeten sich, nachdem Maziroc versprochen hatte, sie später zu besuchen. Diener führten Aylon und ihn in einen Saal, dessen Einrichtung fast nur aus einer langen Tafel bestand. Teppiche mit der Darstellung von Jagdmotiven bedeckten die Wände. Vier Personen saßen an der Tafel. Zwei davon waren Frauen, die eine von ihnen noch ein Mädchen, nicht älter als Aylon selbst. Der Mann am Kopfende erhob sich und kam ihnen entgegen.

"Maziroc, seid willkommen. Wir hatten Euch schon gestern erwartet." Er schüttelte den Magier die Hand, ehe er sich Aylon zuwandte. "Und Ihr müsst Aylon sein." Brass war ein schlanker Mann um die Fünfzig, vielleicht etwas älter. Auch er trug ein reich mit Stickereien verziertes Gewand, jedoch war es wenigstens nicht ganz so schreiend bunt, wie die der Leute, die Aylon auf dem Weg hierher begegnet waren. Die dunklen Haare trug er streng zurückgekämmt, was sein ohnehin schmales Gesicht fast hager erscheinen ließ. Seine Augen verrieten Intelligenz - keine abgeklärte Weisheit und auch keine Bauernschläue, sondern einfach die Intelligenz eines Mannes, der gebildet und fähig war, sich abseits vorgefertigter Meinungen seine eigenen Gedanken zu machen.

Aylon erwiderte den Gruß des Barons und ließ sich von ihm zur Tafel führen. "Meine Frau Anin und Lerina, meine Tochter. Und das ist Larmoun, der uns die Ehre gegeben hat, heute mit uns zu speisen", erklärte Brass in einer Sprechweise, die er selbst für vornehm halten mochte, die Aylon jedoch lediglich geschwollen vorkam. "Maziroc brauche ich wohl nicht vorzustellen. Sein Begleiter ist Aylon, ein Mündel der Ishar."

"Seine Eltern waren Edelleute einer kleinen Grafschaft im südlichen Aslan", ergänzte Maziroc. "Sie starben bei einem Überfall durch Wegelagerer."

Aylon bemühte sich, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Wie es seine Art war, hatte es Maziroc wieder einmal unterlassen, ihn in Einzelheiten seines Plans einzuweihen. Einen Moment lang fragte er sich, wie viel an der Geschichte der Wahrheit entsprach. Vermutlich nicht viel, sonst hätte der Magier nicht so ein Geheimnis darum gemacht. Er verbeugte sich höflich vor den beiden Frauen, musterte sie jedoch nur kurz, denn sein Blick wurde wie magisch von Larmoun angezogen, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Larmoun war ein Magier. Um das zu erkennen, bedurfte es nicht erst seiner grünen Augen; deutlich spürte Aylon seine mentale Ausstrahlung. Was ihn jedoch viel mehr faszinierte, war die unglaubliche Schönheit des Magiers. Das Gesicht war formvollendet: weich und kühn zugleich, voller markanter Härte und doch auch voller Anmut. Wie eine Götterstatue, dachte Aylon. Aber wenn, dann handelte es sich um den Gott der Künste. Larmouns Augen blitzten verwegen, und sein gelocktes Haar war sehr hell, fast so weiß wie sein Hemd und der Umhang.

Aylon blinzelte ein paarmal. Es fiel ihm schwer, sich vom Anblick des Magiers loszureißen. Er hatte sich niemals stärker als normal zu Männern hingezogen gefühlt, dennoch konnte er Larmoun nur bewundernd anschauen. Wie ihm auffiel, war er jedoch nicht der Einzige, dem es so erging. Lerinas Blick hing wie gebannt an dem Magier, und die Baronin sah ihn ebenfalls immer wieder an. Auch ohne auf seine Magie zurückzugreifen, hatte er durch seine bloße Schönheit einen geradezu betörenden Zauber gewoben.

"Ihr seid ein Magier, aber kein Ishar", sagte Maziroc. Es klang eine Spur zu beiläufig, um den lauernden Unterton in seiner Stimme völlig zu verbergen.

"Das stimmt", antwortete Larmoun. Seine Stimme klang so angenehm, fast melodisch, wie es sein Aussehen erwarten ließ. Kann ein Mensch wirklich so perfekt sein?, dachte Aylon, zwischen Bewunderung und Neid schwankend. "Ich bin nicht gern an irgendwelche Regeln oder Gemeinschaften gebunden, sondern gehe lieber meinen eigenen Weg. Ich hoffe, das macht uns nicht zu Feinden?"

"Nicht, solange Eure Regeln es nicht tun", entgegnete Maziroc mit feiner Ironie in der Stimme. "Wir sind ein Orden, keine Zunft, die Anspruch auf eine Zwangsmitgliedschaft erhebt. Außerdem sollen sich eine Menge freier Magier in Maramon aufhalten. Und auch solche des Dunklen Bundes."

"Mit den Caer-Sharuun habe ich so wenig zu schaffen wie mit den Ishar", sagte Larmoun. "Höchstens die Vingala interessieren mich, jedenfalls wenn sie jung und knackig sind." Er blinzelte verschwörerisch mit einem Auge und lachte voller unbefangenem, jugendlichem Charme. Lerina, das Mädchen an seiner Seite, zog einen Schmollmund, doch niemand beachtete sie.

Verwirrt erkannte Aylon, dass sich hinter der vordergründig so harmlos anmutenden Plauderei und den Spitzfindigkeiten der Magier auf beiden Seiten etwas ganz anderes verbarg. Es war anders, als bei der Begegnung mit dem Caer-Sharuun in Largon, kein geistiger Kampf, sondern mehr ein gegenseitiges Taxieren und Prüfen auf einer Ebene, zu der selbst er keinen Zugang fand. Die Abneigung, die beide einander entgegenbrachten, war unverkennbar.

Hinter Larmoun bewegte sich etwas, und erst jetzt entdeckte Aylon die beiden Gestalten, die dort standen. Sie waren von Kopf bis Fuß in Panzer aus dunklem, matt schimmerndem Horn gehüllt, verbargen sogar ihre Gesichter hinter heruntergeklappten Visieren. Obwohl ihre aus unzähligen einander überlappenden Schuppen gefertigten Rüstungen sich deutlich von dem helleren Wandbild hinter ihnen abhoben, schienen sie auf unerklärliche Weise mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, sodass Aylon sie erst richtig wahrnahm, nachdem er einmal auf sie aufmerksam geworden war.

Dann begriff er, dass er sie geistig nicht spüren konnte.

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Seine Magie war für ihn zu einem festen Bestandteil seiner Wahrnehmungen geworden, beinahe ebenso wichtig wie Augen und Ohren. Auch ohne jemanden zu sehen, wusste er, dass er da war, schon bevor er einen Raum betrat. Er brauchte nicht einmal bewusst darauf zu lauschen, sondern sein Gehirn verarbeitete die einströmenden Impulse ebenso unterschwellig wie ein Geräusch, einen Geruch oder eine Berührung. Die beiden Gestalten jedoch sandten keinerlei mentale Impulse aus, als wären sie nur leere Rüstungen, aber er wusste, dass sie es nicht waren, denn obwohl sie jetzt wieder zur Regungslosigkeit erstarrten, hatte einer von ihnen sich unzweifelhaft bewegt. Noch einmal tastete er nach ihnen, doch abermals glitten seine geistigen Fühler ins Leere.

"Habt keine Angst vor den Hornmännern", sagte Baron Brass, als er Aylons Erschrecken bemerkte. "Sie gehorchen Larmoun. Eine Art Garde."

"Ich habe noch nie gehört, dass sich Hornmänner jemandem unterwerfen", meinte Maziroc und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: "Habt Ihr Feinde, dass Ihr einen solchen Schutz braucht?"

"Ich stamme aus der Nordermark", entgegnete Larmoun. "Auch für einen Magier ein gefährliches Land, nicht nur wegen der Damonen. Die großen Clansburgen wurden zwar vernichtet, aber die Macht der Clans ist deshalb noch lange nicht gebrochen. Ich habe einige Hornmänner vor der Hinrichtung bewahrt, und dafür haben sie mir die Treue geschworen. Bessere Leibwächter als sie kann man sich nicht wünschen."

"Setzt Euch doch und esst mit uns", sagte Baron Brass. "Ich werde sofort zwei weitere Gedecke auftragen lassen."

"Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich mich lieber erst etwas ausruhen", sagte Aylon rasch.

"Natürlich, wie Ihr wünscht. Lerina, zeige unseren Gästen ihr Zimmer."

Das Mädchen nickte, riss sich mit sichtlichem Unwillen vom Anblick Larmouns los und stand auf. Aylon musterte es genauer. Goldene Locken rahmten Lerinas Gesicht ein. Ihre Augen glänzten in tiefem Blau, die Brauen darüber waren ebenso sanft geschwungen, wie ihre Lippen. Sie war unbestreitbar hübsch, und sie bewegte sich voller Grazie, trotzdem mochte Aylon sie nicht. Ihrem Gesicht fehlte die Natürlichkeit, es wirkte puppenhaft: zwar schön, aber kalt, ohne Leben. Zudem drückten ihre Körperhaltung und vor allem ihr Blick Hochmut aus, und sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie Aylon nur als lästigen Störenfried betrachtete, während sie Maziroc gegenüber immerhin Respekt zu empfinden schien. Auf der Schwelle eines Zimmers, das - wie scheinbar alles in diesem Schloss - mit übermäßigem Prunk eingerichtet war und Aylon selbst für zwei Menschen fast unbehaglich groß erschien, blieb sie stehen. "Ich hoffe, es ist alles zu Eurer Zufriedenheit. Wenn Ihr noch einen Wunsch habt, dann läutet nach den Dienern." Sie deutete auf eine Kordel neben dem Kamin und schloss die Tür.

"Warum hast du diese Geschichte über meine Herkunft erfunden?", wandte sich Aylon an Maziroc, sobald sie allein waren. "Oder ist etwas davon wahr?"

"Nein, ich habe mir alles nur ausgedacht. Als Magier wollte ich dich nicht vorstellen, und ich musste dir eine vornehme Abstammung andichten, um dich am Hofe einzuführen. Wir haben Fortschritte erzielt, aber die Standesunterschiede zwischen den Menschen sind noch längst nicht beseitigt."

"Warum erzählst du ..."

"Nach deiner Magierweihe", fiel ihm Maziroc barsch ins Wort. Er trat ans Fenster und wechselte abrupt das Thema. "Was hältst du von Larmoun?"

Aylon zögerte. "Ich ... mag ihn", gestand er. "Aber du anscheinend nicht, oder?"

"Mein Urteil ist nicht besonders gerecht, denn ich bin allen freien Magiern gegenüber misstrauisch. Manchmal vielleicht zu sehr, aber viele von ihnen sympathisieren mit den Ansichten des Dunklen Bundes, selbst wenn sie ihm nicht angehören." Er zögerte kurz. "Trotzdem muss ich zugeben, dass mir Larmouns offene Art gefällt. Vielleicht bin ich einfach zu voreingenommen."

"Seine Begleiter, diese Hornmänner, sind mir wesentlich unheimlicher, als er selbst. Sie ... sie denken nicht."

"Unheimlich?" Maziroc lachte leise. "Und das musst gerade du sagen?"

"Ich ..." Aylon verstummte, denn er wusste, dass Maziroc im Prinzip recht hatte. Er empfand Angst vor den Clanskriegern, weil er sie mit seinen Gedanken nicht erfassen konnte, und damit tat er genau das Gleiche, worunter er umgekehrt in den letzten Jahren so gelitten hatte. Aber es gab einen Unterschied: Er hatte sich nie in Rüstungen versteckt, sondern war offen auf andere zugegangen und hatte versucht, mit ihnen zu reden, um das Unbehagen abzubauen.

"Bei den Clansmännern gibt es für dieses Phänomen übrigens eine ganz einfache Erklärung", sagte Maziroc. "Der Hornpanzer schirmt ihre Ausstrahlung ab und saugt sie auf, sodass nichts davon nach außen dringt. Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Larmoun sie sich unterworfen hat. Hornmänner dienen nur ihren Clansfürsten, daran hat sich auch durch den Fall der mächtigen Clansburgen nichts geändert. Sie terrorisieren die Nordermark noch genauso schlimm wie früher. Um sie sich zu unterwerfen, muss Larmoun ihren Willen völlig gebrochen haben. Viel mehr beunruhigt mich im Moment aber der große Einfluss, den er besitzen muss, wenn sogar Baron Brass ihn so ehrenvoll empfängt."

"Brass ist ..."

"... einer der bedeutendsten Männer hier in Maramon", vollendete Maziroc. "Ich weiß, durch sein Aussehen und sein Verhalten unterschätzt man ihn leicht, aber das ist ein Fehler, vor dem du dich hüten solltest. Er ist der Vorsitzende des Rates und besitzt wahrscheinlich mehr Macht, als der Fürst selbst. Argar ist nur ein einfältiger Barbar, der zufrieden ist, wenn er seine Ruhe hat und Feste geben kann, genau wie sein Vater. Brass hingen ist hochintelligent, und er vertritt in vielerlei Hinsicht die gleichen Ansichten wie wir Ishar, deshalb unterstützen wir ihn. Mit seiner Hilfe werden wir vielleicht erreichen, dass der Rat irgendwann frei vom Volk gewählt wird. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg."

Es klopfte an der Tür, und ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat Lerina ein. In der Hand hielt sie ein helles Bündel. "Ich soll Euch von meinem Vater ausrichten, dass Fürst Argar von Eurem Kommen gehört hat und Euch zu Ehren heute Abend ein Fest gibt." Etwas schnippisch ergänzte sie: "Aber das tut er schon seit zwei Wochen, weil jeden Tag bekannte Gäste eintreffen." Sie trat an das Bett, neben dem Aylon stand und legte das Bündel darauf. "Hier habe ich neue Kleidung für Euch. Ihr wollt vermutlich nicht angezogen wie ein Bauerntölpel auf dem Fest erscheinen."

Aylon ballte die Fäuste und schaute ihr wütend nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. "Eingebildetes Miststück", schimpfte er. "Sie glaubt wohl noch, dass ich ihr für ihre Almosen dankbar wäre? Ich brauche keine neuen Kleider, und schon gar nicht dieses affige Zeug!"

"Die Kleidung habe ich besorgen lassen", erklärte Maziroc amüsiert. "Und zumindest in einer Hinsicht hat sie recht: Deine Sachen mögen für eine Reise praktisch sein, aber so kannst du dich nicht bei einem so festlichen Anlass blicken lassen. Sie sind schmutzig und zerrissen, außerdem stinken sie. Vergiss nicht, dass wir hier nur Gäste sind. Ein wenig sollten wir uns den Sitten unserer Gastgeber schon anpassen, findest du nicht?"

"Wenn du meinst", seufzte Aylon wenig überzeugt. Widerstrebend und mit spitzen Fingern, als könnte er sich daran verbrennen, faltete er das Bündel auseinander. Eingeschlagen in einen braunen Umhang mit hohem Kragen fand er ein weißes Rüschenhemd und eine beigefarbene Hose, zusätzlich kniehohe Stiefel aus feinem, weichen Leder. Bis auf die Rüschen am Hemd kamen die Sachen weitgehend ohne den Zierrat aus, den er so verabscheute. Sie waren nicht annähernd so schlimm, wie er befürchtet hatte; er musste sich sogar eingestehen, dass sie ihm recht gut gefielen.

"Ich muss mich ohnehin eine Weile allein mit Baron Brass unterhalten", erklärte Maziroc. "In der Zwischenzeit sollen die Diener ein Bad für dich herrichten. Das scheinst du dringend nötig zu haben." Als er schon an der Tür war, drehte er sich noch einmal um und ergänzte lächelnd: "Ich übrigens auch, ich weiß."

Aylon legte die Kleider zur Seite, streckte sich auf dem Bett aus und schloss die Augen. Er war nicht wirklich müde, spürte eher eine wohlige Mattigkeit. Die für ihn ungewohnt lange Reise war anstrengender gewesen, als ihm bislang bewusst geworden war. Seit er sich erinnern konnte, hatte er jede Nacht im gleichen Bett, in der gleichen kleinen Kammer in Cavillon geschlafen. In den letzten fünf Nächten jedoch hatte er sich jeden Abend an ein anderes Bett gewöhnen müssen und nicht sonderlich fest geschlafen. Und jetzt war er zu aufgeregt dazu, nach allem, was in letzter Zeit auf ihn eingeströmt war, und das zu verarbeiten ihm kaum Zeit geblieben war.

Vor allem der Abend in Largon ging ihm nicht aus den Gedanken. Deutlich sah er das Gesicht der jungen Vingala in Harnoms Gasthaus vor sich und zum ungezählten Male fragte er sich, was eine Hexe mit einem Caer-Sharuun zu schaffen hatte. Die Ordensregeln der Vingala waren längst nicht so streng, wie die der Ishar, trotzdem hatten sie mit dem Dunklen Bund gewöhnlich nichts zu schaffen. Auch der Angriff des Damons wenig später gab Aylon Rätsel auf.

Aylon lauschte tief in sich hinein. Das Locken, das er den ganzen Weg über gespürt hatte, war mit Erreichen Maramons nicht vollends verschwunden, wie er erst geglaubt hatte. Es war immer noch da, ganz schwach nur, und es hatte sich verändert. Es zog ihn nicht mehr in eine bestimmte Richtung, sondern war nur noch unterschwellig spürbar, eine erwartungsvolle Vorfreude auf etwas, von dem er nicht einmal wusste, was es war.

Nach einigen Minuten kam ein Diener ins Zimmer und führte Aylon in einen gekachelten Raum, wo Wasser in Kesseln erhitzt und in einen großen Waschzuber geschüttet wurde. Aylon ließ sich Zeit und genoss das Bad. Er schrubbte nicht nur seinen Körper gründlich ab, sondern wusch auch sein Haar, das durch den Staub der Reise seinen seidigen Glanz verloren hatte und strähnig geworden war. Als er sich schließlich angekleidet hatte und in den Speisesaal zurückkehrte, fand er dort nur noch Baron Brass vor, der ihm mitteilte, dass Maziroc gegangen wäre, um sich mit einigen alten Freunden zu treffen. "Wir haben noch einige Stunden Zeit, bis das Fest beginnt. Wenn Ihr möchtet, kann Lerina Euch solange im Schloss herumführen."

Aylon überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. "Ich möchte mich lieber etwas ausruhen", sagte er.

Wieder in seinem Zimmer, musterte er sich kritisch in einem Spiegel. Der Anblick war ihm im ersten Moment fremd, aber nicht unangenehm. Die neuen Sachen passten wie angegossen, und Aylon kam es vor, als hätte er nicht nur das Gewand gewechselt, sondern zugleich auch einen großen Teil seiner Unsicherheit abgelegt. Es war, als hätte er einen ersten Schritt in eine neue, verlockende Welt getan. Die Vorstellung, einen geflohenen Prinzen zu spielen, erschien ihm längst nicht mehr so absurd, wie noch vor Minuten - sie begann sogar, ihm zu gefallen.

Der Tempel der Drachen

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