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Cavillon

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Aylon blinzelte und schirmte seine Augen instinktiv mit der Hand ab, als er ins Freie trat. Das Licht war nicht wirklich grell, nicht mehr um diese Zeit, aber nach dem Halbdunkel in Mazirocs Arbeitszimmer dauerte es einen Moment, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten. Die Sonne war bereits tief gesunken und hatte begonnen, sich rötlich zu färben. Es sah aus, als würden die dreieckigen Zinnen der Türme mit spitzen, schwarzen Zähnen an ihr nagen. Der Tag war so warm gewesen, wie es sich für den Spätsommer gehörte, aber mit dem Einbruch der Dämmerung wurde es merklich kühler. Die Luft roch nach Reif und Nebel, und der Biss des Windes wurde so kalt, dass Aylon sein Gewand fester um den Körper schlang. Der Herbst würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, das vermochten auch die Klarheit der Luft und die noch grünen Bäume und Büsche nicht mehr zu verbergen, und - wie stets hier im Norden Arcanas - würde es ein rauer, stürmischer Herbst werden, gefolgt von einem noch grimmigeren Winter. Lange, dunkle Monate voller Schnee und Eis, in denen das Leben in Cavillon noch trostloser als während des übrigen Jahres zu werden versprach.

"Wo bleibst du?", riss Mazirocs barsche Stimme ihn aus seinen Gedanken. Der übergewichtige Magier hatte bereits den Fuß der Treppe erreicht und winkte ungeduldig. Sein schlohweißes Haar und der ebenfalls weiße Vollbart wurden vom Wind zerzaust.

Leichtfüßig folgte Aylon ihm die Stufen zu einem der zahlreichen Innenhöfe Cavillons hinab, wo einige seiner Altersgenossen sich damit vergnügten, einem Spunk nachzujagen. Mit magischen Sperren verstellten sie dem kleinen, aber wieselflinken Tier alle Auswege und trieben es so immer mehr in die Enge. Aylon spürte ihre schwache, noch in der Entwicklung begriffene Magie. Als er an ihnen vorbeiging, hielten sie in ihrem Spiel inne und musterten ihn schweigend. Ihre Gesichter zeigten keine Reaktion, doch in ihren Augen las Aylon eine fast einheitliche Palette von Gefühlen: Zweifel und Unsicherheit, Abneigung und Feindseligkeit und - was am Schlimmsten war - bei einigen sogar Furcht. Auch nach all den Jahren, in denen ihm - und auch ihnen - genug Zeit geblieben war, sich aneinander zu gewöhnen, war es ihm nicht gelungen, sich mit seiner Andersartigkeit abzufinden. Immer noch tat es ihm weh, überall auf Ablehnung zu stoßen; nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen, sondern sogar bei vielen der erwachsenen Magier.

Während er zu Maziroc aufschloss, tastete Aylon mit seinem Geist nach einer der unsichtbaren Sperren und beseitigte sie; gleichzeitig trieb er den Spunk in diese Richtung, sodass das Tier durch einen Mauerriss entkam. Die kleine Rache bereitete ihm eine grimmige Befriedigung. Die Jugendlichen schauten ihm verärgert nach, einige mit unverhohlener Wut, doch keiner wagte es, etwas zu sagen.

"Sie fürchten mich", wandte sich Aylon bitter an seinen Lehrmeister. "Wenn sie könnten, würden sie mich aus Cavillon verbannen."

"Aber das können sie nicht, denn du gehörst genauso hierher, wie jeder von ihnen", sagte Maziroc mit Nachdruck. "Deine Begabung ist eben fremd für sie. Solange sie dich nicht mental wahrnehmen können, bist du für sie ein Niemand, und das ist ihnen unheimlich. Dir würde es umgekehrt nicht anders ergehen, wenn du ehrlich bist."

"Vielleicht." Aylon zuckte mit den Schultern. Vermutlich hatte Maziroc recht, aber er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Jeder Magier vermochte einen anderen anhand seiner Ausstrahlung zu erkennen, einer geistigen Aura, die sich gleich den Wellen ausbreitete, wenn man einen Stein in einen Teich warf. Selbst normale Menschen besaßen sie, wenngleich etwas schwächer. Auch Aylon hatte sich daran gewöhnt, sie wie ein leises Rauschen in seinen Gedanken wahrzunehmen, während er selbst in dieser Hinsicht von Geburt an völlig stumm war. Als Kind hatte es ihm Spaß gemacht, dies auszunutzen, um sich an andere heranzuschleichen und sie zu erschrecken, aber schon bald hatte er begonnen, dieses Phänomen nicht als besondere Begabung zu betrachten, wie Maziroc es tat, sondern als einen Fluch, dem er nicht entrinnen konnte.

Auch äußerlich unterschied er sich von den anderen. Da er es leid war, sich bei ihnen anzubiedern, trug er sein braunes Haar aus Trotz länger als allgemein üblich. Es fiel ihm bis über den Nacken und bot ihnen weiteren Anlass zum Spotts, zumal auch sein Gesicht von fast mädchenhafter Zartheit und sein Körper schlanker und weniger muskulös als der vieler anderer war. Seine oft melancholische Stimmung verlieh seinen Augen- und Mundwinkeln einen sehnsuchtsvollen, fast traurigen Zug. Und seine Augen selbst - sie waren die meiste Zeit so grün wie die aller Magier, aber wenn er nicht aufpasste, verloren sie ihre Farbe und wurden braun, als wäre er ein normaler Mensch.

"Wohin gehen wir?", fragte er, doch er erhielt keine Antwort. Ungeduldig folgte er Maziroc durch die unzähligen Gassen und Straßen Cavillons, über Höfe, Plätze und Parks. Das aus weißem Marmor errichtete Bauwerk schien mehr eine Stadt, als ein Kloster zu sein, undurchschaubar selbst für den, der hier aufgewachsen war; ein gewaltiges, kompliziertes Labyrinth, das ganz zu erforschen ein Menschenleben nicht ausreichen würde. In Wahrheit war es von beidem etwas; und mehr. Cavillon war der Stammsitz des Ordens, eine Oase des Friedens für jeden Ishar, gleichzeitig ein Zentrum und die Schule für magische Forschungen.

Für manche auch eine Schule für Einsamkeit, ergänzte er in Gedanken. Immerhin aber war seine Isolation auch Anlass für ihn gewesen, sich umso leidenschaftlicher mit seinem Studium zu befassen. Falls man ihn noch in diesem Jahr der Magierweihe für würdig erachten sollte, wäre er mit seinen erst achtzehn Jahren der vermutlich jüngste Ishar, den es in der Geschichte des Ordens je gegeben hatte.

Je weiter sie gingen, desto mehr verloren die Gebäude von ihrem Glanz, der Marmor wurde stumpf und nahm eine schmutzig graue Farbe an. Die nun immer rascher hereinbrechende Dunkelheit verstärkte diesen Eindruck noch. Die Sonne war bereits vollends hinter dem Horizont versunken, um ihrem nächtlichen Bruder zu weichen, der langsam hinter den Bergen hervorkroch.

Aylon war noch nie hier gewesen, aber er hatte Andeutungen über diesen Teil Cavillons gehört. "Das ... ist die verbotene Zone", murmelte er.

"Nein." Der Magier schüttelte den Kopf. "Hier noch nicht. Aber wir werden sie gleich erreichen."

Überrascht blieb Aylon stehen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was die Worte wirklich bedeuteten. "Wir werden hineingehen?" Seine Augen glänzten vor Aufregung. Es gab wohl kaum jemanden in Cavillon, der nicht schon wilde Spekulationen angestellt hatte, was es mit der verbotenen Zone auf sich hatte. Die Aussicht, dass gerade er möglicherweise mehr über dieses streng gehütete Mysterium erfahren würde, verschlug ihm fast den Atem, gleichzeitig jedoch erschreckte ihn die Beiläufigkeit, mit der Maziroc über die Verletzung dieses Tabus sprach. "Niemand darf sie betreten", erinnerte er ohne sonderliche Überzeugung.

Maziroc lächelte; flüchtig und ohne eine Spur von Humor. "Ich schon, denn ich war einer derjenigen, die dieses Verbot einst erließen. Ich kenne die verbotene Zone und ihre Gefahren, und ich weiß, wie man sich vor ihnen schützt." Sein Blick wurde zwingend. "Aber ich warne dich. Dieser Besuch wird für dich einmalig bleiben, und du wirst Dinge erfahren, die für immer dein Geheimnis bleiben müssen. Hast du das verstanden?"

Aylon hatte das Gefühl zu schrumpfen und von dem scharfen Blick des Magiers durchbohrt zu werden. Er nickte hastig. Selbst wenn er sich im Recht wähnte, war es ihm schon immer schwergefallen, seinem Lehrmeister zu widersprechen. Allein durch seine starke Persönlichkeit und die bestimmende Art seines Auftretens überwältigte Maziroc jeden, mit dem er sprach; seine Leibesfülle und die kraftvolle Stimme unterstrichen seine unterschwellige Autorität.

Nach einigen Sekunden unbehaglichen Schweigens räusperte sich Aylon. "Was ist eigentlich so gefährlich an der verbotenen Zone, wenn sie doch zu Cavillon gehört? Und was werden wir dort machen?"

"Wir werden nicht lange dort bleiben", antwortete Maziroc ausweichend. "Doch ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und dabei brauche ich deine Hilfe. Wenn wir erst einmal dort sind, wirst du auch begreifen, warum das Betreten der Zone verboten wurde."

Aylon fragte sich, um was für eine Aufgabe es sich handeln mochte, dass sein Lehrmeister ausgerechnet seine Hilfe und nicht die eines anderen Magiers dafür benötigte, doch er wusste, dass er vorläufig keine Antwort darauf bekommen würde. Wenn Maziroc es ihm sagen wollte, dann hätte er es von sich aus getan, und wenn nicht, dann hatte es auch keinen Sinn, ihn zu drängen.

Sie gelangten an eine mehr als doppelt mannshohe Mauer und gingen ein Stück daran entlang, bis der Magier vor einer kleinen, aber äußerst stabil aussehenden Pforte stehen blieb. Er zog eine silberne Rune aus der Tasche und schob sie anstelle eines Schlüssels in das Schloss. Mit einem leisen Klicken sprang die Pforte auf. "Bleib dicht hinter mir, dann kann dir nichts passieren. Die Rune schützt uns. Und wundere dich nicht, wenn du ein seltsames Kribbeln verspürst. Wir werden einen magischen Schirm durchqueren."

Aylon bückte sich. Hinter der Pforte war nichts als Schwärze zu erkennen. Darum bemüht, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, folgte er dem Magier durch die Öffnung. Das Kribbeln, vor dem ihn Maziroc gewarnt hatte, war kaum zu spüren, und vielleicht hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn er nicht bewusst darauf geachtet hätte, dafür erschreckte ihn etwas anderes umso mehr. Für einen Moment glaubte er, den Boden unter den Füßen zu verlieren und von der Schwärze aufgesogen zu werden. Ihm wurde schwindelig, aber noch bevor er das Gefühl richtig wahrnehmen konnte, hatte er die Pforte bereits durchquert.

Verwundert schaute er sich um. Was er sah, war völlig anders als alles, was er erwartet hatte. Die Mauer umfasste ein vom Mondlicht beschienenes Areal, das zu groß war, um es mit Blicken völlig zu erfassen. Darin erhob sich wie ein finsterer, gedrungener Klotz ein gleichfalls riesiges Bauwerk. Einst mochte es eine beeindruckende Festung gewesen sein, aber das musste bereits eine Ewigkeit zurückliegen. Nun war es nur noch eine Ruine; eine gewaltige Ruine zwar, aber dennoch kaum mehr als ein Schutthaufen. Zumindest sah es von außen so aus. Von ungläubigem Staunen erfüllt, ließ Aylon seinen Blick über die zerklüftete Fassade schweifen. Regen und Wind hatten daran genagt und deutliche Spuren hinterlassen. Die Zeit hatte die zyklopischen Außenwälle zerfressen; sie waren von Rissen durchfurcht und vielfach geborsten, an mehreren Stellen sogar ganz in sich zusammengebrochen. Wie zum Hohn stand das Eingangsportal noch an seinem Platz, während die Mauer zu beiden Seiten nur mehr ein von Unkraut überwucherter Haufen aus Geröll war.

Aylon verstand nicht viel vom Kriegshandwerk, dennoch war auf den ersten Blick zu erkennen, dass die Festung nicht allein ein Opfer der Jahrhunderte geworden war. Diese hatten sicherlich zu ihrem Verfall beigetragen, aber zuvor war sie geschleift worden. Die Spuren einer gewaltsamen Eroberung waren unverkennbar.

Fasziniert trat er auf das Portal zu. Aus der Nähe konnte er sehen, dass die meisten Gebäude ein Raub von Flammen geworden waren. Die Mauern waren pockennarbig und vom Ruß geschwärzt. Vereinzelt hoben sich verkohlte Balken wie dunkle Skelettfinger gegen den Sternenhimmel ab. Die Nacht war klar und wolkenlos, und der Mond schien hell, aber trotzdem hatte sich hinter den ausgefranst wirkenden Fensterhöhlen tiefe, von huschenden Bewegungen erfüllte Finsternis eingenistet. Aylon hatte das Gefühl, von unsichtbaren Augen angestarrt zu werden. Ein eisiger Schauer lief über seinen Rücken und sein Herz schlug schneller. Er war längst nicht mehr so begierig wie noch vor ein paar Minuten darauf, mehr über das Geheimnis der verbotenen Zone zu erfahren. Was auch immer es mit der Ruine auf sich haben mochte, sie flößte ihm Unbehagen ein. Mehr noch: Angst. Zugleich schlug ihn die Fremdartigkeit der Umgebung aber auch in ihren Bann und er trat noch ein paar Schritte weiter vor.

Der Boden unter seinen Füßen bestand aus unnatürlich grauem Schlamm, in dem sich ölig glänzende Pfützen gebildet hatten. Ein fauliger Gestank stieg daraus auf. Plötzlich bewegte sich der Boden, wurde von schlangenförmigen Wellen durchfurcht, als ob etwas unter dem Morast rasend schnell herankriechen würde. Ein schriller, verzerrter Schrei ertönte, fremdartiger als alles, was Aylon je gehört hatte.

Auch er schrie und wich mit zwei weiten Sätzen an Mazirocs Seite zurück. Die Bewegungen hörten auf; der Boden war wieder so trügerisch glatt wie zuvor.

"Was ... ist das?"

"Das ursprüngliche Cavillon", erklärte Maziroc. "Das, was noch davon übrig ist. Nur wenige wissen davon, und noch weniger haben es je mit eigenen Augen gesehen. Es wurde bereits vor mehr als einem Jahrtausend zerstört."

"Die Damonen?", erkundigte sich Aylon verwirrt.

"Ja, wenigstens zum Teil. Sie haben Arcana schon einmal überfallen, damals, als die Ishar und Vingala noch einen gemeinsamen Orden bildeten. Niemand wusste, woher sie kamen. Auch damals brachen sie plötzlich aus einer Weltenbresche hervor und begannen damit, das Land zu unterjochen. Die Menschen hielten sie für Dämonen, weil sie den Höllenkreaturen glichen, von denen die Prediger sprachen, und auch wenn sie in Wahrheit keine waren, prägte sich der Name ein." Maziroc machte eine kurze Pause. Er atmete ein paarmal tief durch, bevor er fortfuhr: "Mit vereinten Kräften gelang es den Hexen und Magiern, dem Elben, Zwergen und sogar Barbarenkriegern, die Damonen zurückzuschlagen und die Weltenbresche wieder zu verschließen, doch Cavillon sank in Schutt und Asche. Erst viel später wurde es an gleicher Stelle wieder aufgebaut, größer und prächtiger als zuvor. Du wirst es jetzt vielleicht noch nicht verstehen, aber auch wenn seine Unbesiegbarkeit nur ein Mythos ist, ist er dennoch wichtig, unendlich wichtig. Erst diese Legende verleiht Cavillon seinen Glanz und den Menschen Hoffnung."

"Aber ..."

"Du fragst dich, warum die Ruine nicht abgerissen wurde, nicht wahr? Nun, ursprünglich sollte sie als Mahnmal erhalten bleiben. Dann aber erkannten wir, dass uns der Krieg ein noch viel schlimmeres Erbe hinterlassen hatte. In seinem Verlauf waren Kräfte heraufbeschworen worden, die seit Äonen schliefen, und die auch wir wir nicht mehr zu bezwingen vermochten. Dunkle Mächte, Nachtmahre, die älter und furchtbarer noch als die Damonen sind. Der Hass, der Schmerz, das Morden ... Sie nahmen durch die von uns selbst freigesetzte Magie Gestalt an und ergriffen von diesem Ort Besitz." Das Gesicht des Magiers nahm einen gequälten Ausdruck an. Er schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien ein Ruck durch seine Gestalt zu gehen und er straffte sich. "Komm, wir haben etwas zu erledigen. Die Rune schützt uns zwar, aber trotzdem sollten wir nicht länger als nötig hierbleiben. Wir müssen in die Katakomben unter der Ruine. Glücklicherweise sind sie noch weitgehend unversehrt erhalten."

Aylon nickte beklommen. Mazirocs Worte hatten mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, aber er schwieg. Später würden sie noch genügend Zeit zum Reden haben. Schon was er bis jetzt gehört hatte, versetzte dem Weltbild, das man ihn von Kindheit an gelehrt hatte, solche Risse, dass es ihm schwerfiel, alles aufzunehmen und zu begreifen.

Durch das Portal gelangten sie auf einen ehemaligen Hof und betraten eines der Gebäude. Maziroc entzündete zwei Fackeln und gab Aylon eine davon. Sie gingen einen halb verschütteten Korridor entlang und erreichten eine steinerne, steil in die Tiefe führende Treppe. Ein Schwall feuchter, modriger Luft schlug ihnen entgegen. Die Stufen mündeten in eine Halle, von der wiederum mehrere Treppen abzweigten. Weißlicher Salpeter glitzerte wie ein bizarres, kunstvolles Gespinst an den Wänden. Auch hier lagen überall Schutt und Geröll, aber wie Maziroc gesagt hatte, waren die Verwüstungen längst nicht so schlimm, wie an der Erdoberfläche.

Mit wachsender Beklemmung folgte Aylon dem Magier in die unterirdische Steinwelt, durch ein labyrinthartiges Gewirr verwinkelter Treppen und alptraumhaft gekrümmter Korridore tiefer in den Leib der Erde hinab. Er begriff nicht, wie sich Maziroc hier zurechtfinden konnte, aber der Magier fand seinen Weg mit traumwandlerischer Sicherheit, ohne auch nur ein einziges Mal zu stocken oder gar stehen zu bleiben, um sich zu orientieren. Es schien, als wäre er schon zahlreiche Male hier gewesen. Anfangs versuchte Aylon, sich den Weg einzuprägen, doch schon nach ein paar Minuten verlor er vollends die Orientierung. Manchmal hatte er den Eindruck, als würde sich das Labyrinth allen Naturgesetzen zum Hohn verändern. Dann glaubte er Bekanntes zu entdecken, aber wenn er auf einen solchen Punkt zueilte, musste er stets erkennen, dass er sich getäuscht hatte.

Das Unbehagen, das er schon beim Betreten der verbotenen Zone verspürt hatte, verstärkte sich hier noch, und auch seine Angst wuchs sprunghaft an. Er glaubte, das Gewicht der Tonnen von Felsgestein über seinem Kopf wie einen körperlichen Alpdruck zu spüren, fühlte sich wie lebendig begraben. Das Fremde, von dem Maziroc gesprochen hatte, war immer noch da und belauerte sie. Auch wenn es sich seinem Blick immer wieder entzog, konnte er es deutlich spüren. Er bildete sich ein, schattenhafte, huschende Bewegungen gerade am Rande seines Blickfeldes wahrzunehmen, doch sobald er genauer hinsah, entdeckte er nur das flackernde Licht der Fackel, das unruhig über die Wände leckte. Es brach sich an Felsvorsprüngen und schuf bedrohlich anmutende Schatten, denen ein unheimliches Eigenleben innezuwohnen schien. Und womöglich, dachte er, war es ja auch mehr als nur Einbildung.

"Ist es noch weit?", hörte er sich fragen. Seine eigene Stimme klang dumpf, und obwohl er leise gesprochen hatte, hallte sie durch das Gewölbe und wurde als vielfach verstärktes Echo von den Wänden zurückgeworfen.

"Nicht sehr", antwortete Maziroc. "Du bist mein bester Schüler, und ich würde nichts tun, was dir schadet", fügte er seufzend hinzu, als hätte er nur darauf gewartet, dass Aylon das Schweigen brach. "Ich habe dich von Kindheit an großgezogen, und du bist fast wie ein Sohn für mich."

Verwundert - und auch etwas verärgert - über den plötzlichen Themenwechsel schaute Aylon ihn an. "Das ändert nichts daran, dass du nicht mein Vater bist. Warum erzählst du mir nicht endlich, was du über meine Eltern weißt?"

"Alles zu seiner Zeit." Mazirocs Stimme wurde eine Spur abweisender. "Wie ich dir versprochen habe, wirst du die Wahrheit nach deiner Weihe zum Magier erfahren, nicht früher. Aber vielleicht dauert es bis dahin ja nicht mehr so lange, wie du glaubst."

"Was meinst du damit?"

"Der Innere Zirkel selbst hat entschieden, dass du reif genug dafür bist. Die Weihe wird bereits in zwei Monaten stattfinden."

"In ... zwei Monaten?" Etwas in Aylon sträubte sich gegen das, was er gerade gehört hatte. So lange wartete er schon darauf, aber die Freude, mit der er gerechnet hatte, kam nicht. Vielleicht war die Vorstellung einfach zu fantastisch, um ihre Bedeutung sofort zu verarbeiten, vielleicht lag es auch einfach an der Umgebung. Von allen Orten die er kannte, war dies sicherlich der ungeeignetste, um zu erfahren, dass die Krönung seines bisherigen Lebens jäh in so greifbare Nähe gerückt war. Maziroc musste es wissen, und für einen Moment fühlte Aylon Zorn in sich aufsteigen, dass der Magier ihn so grausam um den Zauber betrogen hatte, der diesem Augenblick angemessen gewesen wäre.

"Zunächst jedoch wartet eine Aufgabe auf dich, die noch viel bedeutungsvoller ist", sprach Maziroc weiter. "Und sie ist gefährlich. Es hätte keinen Sinn, dir etwas vorzumachen." Er deutete auf die Mauer vor ihnen. "Hinter dieser Wand liegt eine Kammer. Charalon selbst, der Gründer unseres Ordens, versiegelte sie vor langer Zeit, während des großen Krieges gegen die Damonen, damit kein Unbefugter sie betreten kann, denn sie birgt eine Kostbarkeit von unschätzbarem Wert. Anschließend machte er sich auf, um die Dämmerschmiede zu erforschen, doch er kehrte niemals von dort zurück. Die Götter bestraften ihn hart für seinen Frevel und verwehrten ihm die Rückkehr nach Arcana. Deshalb rief er zwölf seiner engsten Vertrauten zu sich und gründete den Inneren Zirkel. Sogar diese zwölf sind sich untereinander fremd und erscheinen zu ihren Zusammenkünften in den Masken von Tieren, sodass es niemals geheime Absprachen oder gar Intrigen gegeneinander geben kann."

"Aber wenn niemand sie kennt, wie können sie dann Aufträge erteilen?", wandte Aylon ein.

"Charalon schickt einen Ssiraq, ein künstliches, seelenloses Geschöpf aus Eis, das nur zu diesem Zweck geschaffen wird und sich anschließend wieder in Nichts auflöst. Wichtig ist jetzt nur, dass Charalon die Dämmerschmiede nicht mehr verlassen und so auch nie das Siegel entfernen konnte. Nicht einmal die Mächtigsten unseres Ordens vermochten es zu brechen. Du hingegen ..."

"Ich?", stieß Aylon ungläubig hervor. "Wie sollte ich etwas schaffen, was nicht einmal du kannst?"

"Charalon glaubt, dass es dir gelingen könnte. Er gab mir durch den Inneren Zirkel den Auftrag, dich hierherzubringen. Zwar wirst auch du das Siegel nicht brechen können, es aber vielleicht umgehen, denn es reagiert auf mentale Impulse. Selbst die eines normalen Menschen wären zu stark. Bei dir jedoch besteht die Chance, dass es dich überhaupt nicht wahrnimmt."

"Und ... wenn doch?"

Maziroc zögerte mit der Antwort. "Dann wirst du sterben. Ich sagte ja, dass es nicht ungefährlich ist. Die Entscheidung, ob du es wagen willst, liegt allein bei dir. Ich werde dir weder dazu raten, noch dich davon abzubringen versuchen."

Aylon schluckte schwer. "Was befindet sich denn überhaupt in der Kammer, das so wertvoll sein soll?", erkundigte er sich.

"Charalons Reif, ein Skiil, dem gewaltige Kräfte innewohnen. Es ist mächtiger als alle Runen, Amulette und Kristalle, die ich dir je vererben könnte. Wenn es dir gelingt, den Reif zu holen, so gehört er gemäß Charalons Willen dir."

Aylon senkte den Kopf. Widersprüchliche Empfinden stritten in seinem Innern. Erst Skiils verliehen einem Magier besondere Fähigkeiten, doch es gab nur eine begrenzte Zahl von ihnen, und die meisten besaßen nur eine geringe Kraft. Sie wurden sorgsam gehütet und von den Eltern auf ihre Kinder vererbt. Solange er aber nicht einmal wusste, wer seine Eltern waren, ob sie noch lebten oder ihm etwas hinterlassen hatten, war seine Chance gering, jemals eines zu erhalten, denn Maziroc, der mehrere derartige Kleinode besaß und sie ihm möglicherweise vererben würde, war zwar alt, doch das hatte nicht viel zu besagen. Nicht umsonst war er ein Magier, und allem Anschein nach besaß er ein Skiil, das ihn vor dem Altern schützte.

Umso aufgeregter war Aylon aufgrund der sich ihm nun überraschend bietenden Aussicht, schon jetzt nicht nur irgendein Skiil von geringerer Macht zu bekommen, sondern sogar eines, das einst dem legendären Charalon gehört hatte.

"Ich gehe", sagte Aylon er nach nur kurzem Zögern. "Sag mir, was ich zu tun habe."

Mit keiner Reaktion gab Maziroc zu erkennen, wie er die Entscheidung aufnahm. "Du brauchst nur durch diese Wand zu treten."

"Aber sie besteht aus massivem Stein!"

"Das scheint nur so. Geh einfach hindurch. Wenn es dir gelingt, wirst du im Inneren der Kammer eine Schatulle sehen. Öffne sie und nimm ohne zu zögern den Reif. Streif ihn über dein Handgelenk, und kehr so schnell wie möglich zurück."

Zweifelnd trat Aylon bis dicht vor die Mauer. Er atmete noch einmal tief durch, schloss dann die Augen und tat einen beherzten Schritt nach vorne. Das Gefühl war ähnlich wie beim Betreten der verbotenen Zone. Erneut verspürte er ein Kribbeln und meinte, in einen mit brodelnder Schwärze angefüllten Schacht zu stürzen, doch auch diesmal verging das Schwindelgefühl so schnell, wie es gekommen war.

Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich innerhalb der Kammer. Erleichterung überwältigte ihn, gepaart mit einem wilden Triumphgefühl. Er war durch das Siegel gegangen, und er lebte noch.

Die Kammer war klein und bis auf einen roh zusammengezimmerten Tisch leer. Darauf stand die Schatulle, von der Maziroc gesprochen hatte. Es handelte sich um ein schlichtes Holzkästchen ohne die geringste Verzierung oder irgendetwas, das ihrem Inhalt angemessen schien. Mühelos klappte Aylon den Deckel auf. Der Behälter war mit rotem Samt ausgeschlagen, auf dem der Reif lag. Fast war Aylon bei seinem Anblick ein wenig enttäuscht. Der Reif bestand aus Gold, und in seine Oberfläche waren ihm unbekannte, vielfach ineinander verschlungene Runenzeichen eingraviert, ansonsten sah er jedoch wie ein ganz gewöhnliches Schmuckstück aus.

Wie befohlen nahm Aylon ihn an sich und streifte ihn über sein Handgelenk. Er passte, als wäre er eigens für ihn angefertigt worden. Das Metall fühlte sich warm an und schien von innen heraus sanft zu pulsieren, als würde es leben. Vor Überraschung vergaß Aylon für einen Moment die Mahnung des Magiers und verharrte erstaunt, um das seltsame Phänomen zu ergründen. Einige Sekunden lang versuchte er, den Reif an seinem Gelenk zu drehen, doch dieser saß so fest, als wäre er mit seiner Haut verwachsen.

Gleich darauf erschütterte ein harter Stoß den Boden und riss Aylon fast von den Beinen. Er taumelte. Mit knapper Not entging er einem Sturz. Scheinbar aus dem Nichts fauchte ein eisiger Windstoß durch die Kammer und löschte seine Fackel aus, aber trotzdem wurde es nicht dunkel. Ein kränklicher grüner Schein sickerte plötzlich aus der immer noch geöffneten Schatulle und strahlte rasch heller. Ein unheimliches Stöhnen und Wispern erfüllte die Luft. Aylon fuhr herum. Die Wand hinter ihm fühlte sich unter seinen Fingern hart wie normales Gestein an. Fieberhaft tastete er sie nach der unsichtbaren Öffnung ab. Das Stöhnen wurde lauter und klang bedrohlicher.

Irgendetwas kam ...

Ein wuchtiger Fußtritt brachte den Boden erneut zum Erbeben. Fauliger, ekelerregender Gestank breitete sich aus. Aylon glaubte, heißen Atem in seinem Nacken zu spüren. Er wagte nicht, sich umzudrehen, um zu sehen, was sich ihm näherte und sich inzwischen bereits in der Kammer befinden musste. Das Etwas war da, dicht hinter ihm, das wusste er, und es hob bereits die Klauen, um ihn packen. Er konnte nicht einmal schreien. Wie besessen suchte er nach dem Ausgang, schürfte sich an dem rauen Gestein die Finger blutig, ohne den Schmerz zu spüren. Endlich stieß seine Hand ins Leere. Etwas Hartes, Scharfes streifte seinen Rücken, zerfetzte sein Hemd und ritzte seine Haut, doch mit einem verzweifelten Satz sprang er vor, durch die Wand hindurch und in Sicherheit.

Der Tempel der Drachen

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