Читать книгу Der Tempel der Drachen - Frank Rehfeld - Страница 9

Nächtlicher Kampf

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In aller Frühe brachen sie am nächsten Morgen auf und machten sich auf den Weg nach Maramon. Einige wenige - hauptsächlich ältere - Ishar waren gekommen, um sie zu verabschieden, doch Aylon machte sich keine Illusionen: Sie waren allein Maziroc zu Ehren hier, keinesfalls aber seinetwegen. Das kam deutlich in den Blicken zum Ausdruck, mit denen sie ihn bedachten.

Wenn sie wenigstens Hass gezeigt hätten, dachte er bitter, damit könnte er leichter fertigwerden als mit dieser Verachtung, dem stummen Vorwurf, nicht zu ihnen zu gehören, obwohl er in ihrer Mitte aufgewachsen war. Aber nicht einmal diesen Gefallen tat man ihm. Er war immer ein Außenseiter gewesen, dem das Schicksal die schlimmste Form der Einsamkeit auferlegt hatte: Das Alleinsein inmitten anderer Menschen. Daran änderten auch die Ereignisse des vergangenen Abends nichts, denn schließlich wusste niemand davon; sie halfen nur ihm selbst, sein Los etwas leichter zu ertragen.

Er hatte kaum geschlafen und war dementsprechend müde. Bis tief in die Nacht hatte er mit Maziroc zusammengesessen und geredet, aber dennoch war seine Neugier noch längst nicht vollends gestillt. Immer noch waren zahlreiche Fragen offengeblieben, und als er von dem Magier weit nach Mitternacht schließlich in seine Kammer geschickt worden war, hatte er keinen Schlaf gefunden, sondern noch lange wach gelegen und über alles nachgegrübelt.

Die Sonne schien an diesem Tag nur fahl vom Himmel und spendete wenig Wärme; die meiste Zeit blieb sie hinter einem dunstigen Wolkenschleier verborgen. Das triste Wetter entsprach weitgehend Aylons Stimmungslage. Ein beklommenes Gefühl ergriff ihn, als er durch das große Südtor ritt. Es war das erste Mal, dass er Cavillon für längere Zeit verließ, bislang hatte er höchstens kurze Ausflüge in die unmittelbare Umgebung unternommen. Die Stadt aus weißem Marmor war niemals eine wirkliche Heimat für ihn gewesen, eher war sie ihm als Gefängnis erschienen, aber er war immerhin hier aufgewachsen und hatte sein ganzes bisheriges Leben innerhalb ihrer Mauern verbracht. Der Abschied fiel ihm längst nicht so leicht, wie er geglaubt hatte. Vielleicht, schoss es ihm durch den Kopf, rührte das Gefühl vager Trauer daher, dass er mehr als nur irgendeine Reise unternahm. Er ließ nicht einfach nur ein paar Häuser und Mauern zurück, sondern zugleich auch seine Kindheit und Jugend. Sie war nicht gerade unbeschwert gewesen, aber doch weitgehend frei von Sorgen und Not. Die Welt, in die er nun hinauszog, markierte den Beginn eines neuen, noch ungewissen Abschnitts in seinem Leben.

Obwohl er sich vorgenommen hatte, es nicht zu tun, blickte er nach einiger Zeit über die Schulter zurück. Von Weitem sah Cavillon noch prachtvoller und beeindruckender aus, als aus der Nähe. Auf dem höchsten Turm flatterte das Banner mit dem Regenbogensymbol, dem Wahrzeichen der Ishar. Der Anblick hob Aylons Stimmung ein wenig, erinnerte ihn daran, dass er im Anschluss an seine Rückkehr die Magierweihe erhalten und damit zu einem vollwertigen Mitglied des Ordens werden würde.

"Warum gerade ein Regenbogen?", wandte er sich an Maziroc. Als Stickerei prangte das Zeichen auch auf dem grünen, mantelähnlichen Umhang des Magiers.

"Als Symbol für die Brücke, die durch das Nichts zwischen den Welten zur Dämmerschmiede führt", erklärte er. "Nach ihr hat Charalon auch den Orden benannt, denn das Wort Ishar entstammt einer alten Sprache und bedeutet nichts anderes als Regenbogen. Aber jetzt tu mir einen Gefallen und verschone mich eine Weile mit weiteren Fragen."

Aylon nickte ergeben. Einige Stunden lang ritten sie in südwestlicher Richtung. Blühende Wiesen und schattige Wälder säumten ihren Weg. Das Land war fruchtbar, aber dennoch weitgehend unberührt. Im Norden Cavillons, am Fuße des Kamos-Gebirges, lebten einige Jäger mit ihren Familien, ansonsten jedoch schienen die Menschen die Nähe des Klosters zu meiden. Solange sie die wahre Geschichte Cavillons nicht kannten, mochte es ihnen wie ein unverwüstliches Hoffnungssymbol erscheinen, in dessen Mauern sie Rettung finden konnten, falls die Damonen oder irgendwelche anderen Feinde jemals bis hierher vordringen sollten, trotzdem scheuten sie offenbar davor zurück, sich in seiner direkten Umgebung niederzulassen.

Erst gegen Mittag zeigten sich Spuren von menschlicher Besiedlung. Das Grün der Wiesen wich goldenen Kornfeldern und dem Braun bereits abgeernteter Äcker, gelegentlich entdeckte Aylon zwischen den Hügeln die Dächer vereinzelter Gehöfte. Feldarbeiter, an denen sie vorbeikamen, grüßten ehrerbietig, als sie das Wahrzeichen der Ishar auf Mazirocs Mantel erkannten.

Mit jeder verstreichenden Stunde fiel es Aylon schwerer, sich aufrecht im Sattel zu halten. Er war bereits öfters geritten, allerdings immer nur kurze Strecken, und obwohl sie nur gemächlich dahintrabten, tat ihm der Rücken weh. Mit einem Seufzer der Erleichterung glitt er vom Pferd, als Maziroc auf der Kuppel eines Hügels endlich in eine Rast einwilligte, band es an einem Baum fest und machte einige Lockerungsübungen, um seine verkrampften Muskeln zu entspannen. Nur wenige Schritte entfernt entsprang zwischen zwei Felsen eine Quelle. Aylon trank und wusch sich das Gesicht mit dem kühlen, kristallklaren Wasser, bevor er aus dem Proviantbeutel in seinen Satteltaschen einige Scheiben kalten Braten nahm und auch seinen Hunger stillte. Maziroc aß ebenfalls, anschließend klopfte er sich ein paarmal zufrieden mit der Hand auf den Bauch und streckte sich im Gras aus. Seine Haltung machte deutlich, dass er sich nicht unterhalten und sich vor allem nicht mit weiteren Fragen löchern lassen wollte.

Aylon verstaute seinen Proviant wieder und lehnte sich mit dem Rücken an einen Felsen. Von hier oben aus hatte man eine fantastische Aussicht. Er ließ seinen Blick über das Tal schweifen. Alles bot ein so friedliches Bild, dass er sich kaum vorstellen konnte, dass nur wenige hundert Meilen weiter im Süden grausame Kriege tobten.

Gedankenverloren spielte er mit dem Reif an seinem Handgelenk. Inzwischen hatte er sich an das sanfte Pulsieren gewöhnt und nahm es kaum noch wahr. Trotzdem war ihm das Skiil unheimlich. Es schien wie eine lautlose Stimme in seinem Geist zu wispern, keine Worte, oder wenn, dann solche, die er nicht verstand, und die seinem Gedächtnis sofort wieder entglitten, sodass nicht mehr als ein flüchtiger Eindruck zurückblieb. Ein paarmal hatte er versucht, den Reif abzustreifen, nicht weil er ihn loswerden wollte, sondern nur um zu sehen, ob er sich überhaupt davon trennen konnte, doch vergebens. Auch schreckte er noch davor zurück, sich allzu intensiv damit zu befassen. Maziroc hatte behauptet, ihm nichts über die Kräfte des Reifs sagen zu können, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Aylon spürte, dass der Magier etwas darüber wusste, aber er begriff auch, dass er zumindest gegenwärtig nicht mehr erfahren würde. In der vergangenen Nacht hatte er bereits mehr über die wahre Vergangenheit und die Geheimnisse des Ordens gehört, als in den gesamten Jahren seines Studiums. Einiges war ihm nur ansatzweise bekannt gewesen, vieles gar nicht, und er hatte wie ein Schwamm alles gierig in sich aufgesogen, aber die geballte Menge des neu erworbenen Wissens ließ ihn auch jetzt noch schwindeln. Es bedeutete Macht und damit auch Verantwortung; in den falschen Händen konnte es zu einer furchtbaren Waffe werden.

Ein dunkler Punkt, der über dem Horizont träge am Himmel dahinglitt, erregte seine Aufmerksamkeit. Im ersten Moment hielt Aylon das Tier für einen Adler oder einen anderen Raubvogel, aber dann erkannte er, dass nur die Entfernung ihn narrte, und der Punkt wesentlich größer als ein normaler Vogel sein musste.

"Maziroc?"

Mit einem unwilligen Laut richtete sich der Magier auf. "Was ist?"

"Siehst du das Tier da hinten?" Aylon deutete mit der Hand in Richtung des schwarzen Punktes. "Es scheint gewaltig zu sein. Was ist das für ein Wesen?"

Der Magier kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schirmte sie mit der Hand ab, dann zuckte er mit den Schultern. Er griff nach einem Ring an einem seiner Finger und streifte ihn ab. Er bestand aus purem Gold, aber Aylon wusste, dass es sich um etwas weit Kostbareres als nur ein Schmuckstück handelte. Ein Skiil. Er hatte es bereits einige Male in Mazirocs Arbeitszimmer gesehen und kannte seine Funktion. Es ließ Entfernungen vor den Augen seines Besitzers schrumpfen. Maziroc schaute hindurch und suchte den Himmel einige Sekunden lang ab.

"Ein geflügelter Damon", stieß er hervor. Als er den Schrecken auf Aylons Gesicht sah, fügte er rasch hinzu: "Nur eine Dienerkreatur, nicht mehr als ein Tier. Aber mich wundert, dass er sich so weit in den Norden wagt. So nah an Cavillon ist bislang noch nie ein Damon gesichtet worden."

Aylon schauderte. Auch er hatte bislang nur von den Damonen gehört, aber noch niemals selbst einen gesehen. Er warf einen scheuen Blick auf das Skiil, doch es würde ihm nichts nutzen, selbst wenn Maziroc ihm den Kristall gäbe. Umfangreiche Vorbereitungen waren nötig, um sich der magischen Kraft eines Skiils zu bedienen. Es war auf einen Träger fixiert, mit dem es eine symbiotische Verbindung einging, die sich nur mühsam herstellen ließ. Er wandte sich wieder dem Damon zu. "Er scheint etwas zu suchen."

"Vielleicht." Noch einmal hob Maziroc den Kristall vor sein rechtes Auge. "Auf jeden Fall kommt er näher. Wir müssen auf der Hut sein. Es ist besser, wenn wir weiterreiten."

"Kann er uns gefährlich werden?"

"Lass uns aufbrechen", wiederholte Maziroc anstelle einer Antwort. Sie gingen zu den Pferden hinüber und banden sie los. Als Aylon aufsteigen wollte, hielt ihn der Magier am Arm zurück. "Warte noch einen Moment. Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust und die mentale Ausstrahlung eines Menschen imitierst, damit man dich in Maramon für einen ganz normalen Menschen hält."

"Ich soll meine magischen Kräfte verleugnen? Warum?"

"Zu deiner eigenen Sicherheit. Du bist noch unerfahren. Es braucht nicht gleich jeder zu merken, dass du etwas Besonderes bist. Du weißt doch, mit welchen Vorurteilen man dir sonst begegnet."

"Wie du meinst." Aylon konzentrierte sich. In der Hoffnung, der Ablehnung der anderen auf diese Art zu entgehen, hatte er schon vor Jahren mit Versuchen begonnen, die geistige Aura eines Magiers nachzuahmen. Zwar hatte er es nicht geschafft, doch nach langer Zeit intensiver Übung war es ihm unter Mazirocs Anleitung immerhin gelungen, das mentale Rauschen eines normalen Menschen fast perfekt zu imitieren. An der Feindseligkeit derjenigen, die ihn kannten, hatte es freilich nichts geändert, sondern ihre Unsicherheit eher noch vergrößert, aber zumindest Fremde vermochte er auf diese Art zu täuschen.

"Etwas stärker", verlangte Maziroc. "Gut so. Und jetzt noch die Augen, sie dürfen nicht mehr grün sein. Bis wir in Maramon sind, hast du noch genug Zeit zum Üben."

"Es ist wegen des Damons, nicht wahr?", vermutete Aylon.

"Nicht direkt", entgegnete der Magier ausweichend. "Aber zum Teil. Das Auftauchen dieser Bestie hier verheißt nichts Gutes, und ich möchte nicht, dass du möglicherweise in irgendetwas hineingezogen wirst."

"In was denn hineingezogen?", fragte Aylon, doch wieder bekam er keine Antwort. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, dass Maziroc stets nur Fragen zu hören schien, die er beantworten wollte.

Ohne weitere Rast ritten sie bis zum frühen Abend durch, wobei sie um alle Siedlungen und Gehöfte einen Bogen schlugen. Immer wieder schaute Aylon zum Himmel hinauf. Gelegentlich verlor er den Damon aus den Augen, aber jedes Mal, wenn er glaubte, dass dieser das Interesse an ihnen verloren oder sie ihn abgeschüttelt hätten, tauchte der winzige dunkle Punkt erneut irgendwo am Horizont auf. Als die Schatten länger wurden und Dämmerung sich über das Land senkte, erreichten sie ein weiteres kleines Dorf, diesmal jedoch machte Maziroc keine Anstalten, es zu umgehen, sondern ritt direkt darauf zu. "Das ist Largon. Das Wirtshaus ist für seinen hervorragenden Weinkeller berühmt", erklärte er, als er Aylons verwunderten Blick bemerkte. "Außerdem schläft es sich in einem bequemen Bett besser, als unter freiem Himmel."

Neugierig schaute Aylon sich um. Der Ort bestand nur aus einigen Dutzend Steinhäusern. Die Menschen, denen sie auf der Straße begegneten, machten einen freundlichen Eindruck. Maziroc schien ihnen kein Unbekannter zu sein, denn sie winkten ihm fröhlich zu und grüßten ihn, wenn er an ihnen vorbeikam. Vor einem Gasthof, über dessen Eingang ein verwittertes, unleserliches Holzschild hing, stieg er vom Pferd. Sofort war er von einer Schar lärmender Kinder umgeben. Lachend warf er ihnen einige Münzen zu. "Komm schon, Aylon", sagte er, während er die Tür öffnete. "Hier haben wir nichts zu befürchten. Ich kenne den Wirt schon seit langer Zeit."

Stimmengemurmel und Lachen schallte ihnen entgegen. Unter der geschwärzten Holzdecke wallte Tabakrauch; es roch nach Wein, abgestandenem Bier und Bratenfett. Das Gasthaus war bereits überraschend gut besucht. Maziroc wollte auf einen der noch freien Tische zugehen, als ein grauhaariger Hüne, ebenso wohlbeleibt wie Maziroc selbst, ihm den Weg vertrat. In der Hand hielt er einige leere Bierkrüge, die er rasch abstellte.

"Maziroc, alter Freund!" Freudestrahlend klopfte er dem Magier auf die Schulter. "Schön, dass du endlich mal wieder hereinschaust."

"Eher ging es leider nicht. Ich hatte in letzter Zeit viel zu tun. Der Junge heißt Aylon. Wir brauchen eine Unterkunft für die Nacht."

"Aber sicher. Ich werde sofort ein Zimmer für euch herrichten lassen und jemand schicken, der sich um die Pferde kümmert. Außerdem seid ihr sicher hungrig und durstig. Der Kleine sieht jedenfalls aus, als könnte er ein ordentliches Stück Fleisch vertragen." Er schüttelte Aylon die Hand. "Nichts für ungut, war nicht böse gemeint, Gäilen."

"Aylon", verbesserte Aylon.

"Dann eben Aylon. Ich bin Harnom. Sucht euch einen Platz aus, ich bringe euch gleich etwas."

"Er ist reichlich geschwätzig, aber ansonsten ein ganz netter Bursche", sagte Maziroc, als sie sich gesetzt hatten und der Wirt durch eine Tür hinter der Theke verschwunden war. "Ich kannte ihn schon, als er ein kleiner Junge war. Damals war er noch spindeldürr, aber mittlerweile hält er jeden für krank, der nicht genauso dick wie er selbst ist."

"Dann musst du ihm ja sehr gesund vorkommen", sagte Aylon anzüglich, erntete ein fröhliches Grinsen des Magiers und ließ seinen Blick durch die Schankstube schweifen. Drei Zwerge mit kurz geschorenen Bärten hatten an einem Tisch Platz genommen, dessen Platte sich fast in Höhe ihrer Augen befand. Sie starrten mit entrückten Gesichtern ins Leere, standen offenbar unter dem Einfluss berauschender Drogen, denen ihr Volk immer mehr verfiel. Die meisten der anderen Anwesenden schienen Einheimische zu sein, einfache Leute, bei denen die schwere Arbeit auf den Feldern deutliche Spuren hinterlassen hatte. Sie waren stämmig und muskulös, mit sonnengebräunter, von Wind und Wetter gegerbter Haut und schwieligen Händen. An einem Tisch saßen zwei Männer, die offenbar reisende Händler waren, denn sie trugen vornehmere Kleidung aus buntem, feinem Stoff. Ein Elb in der grünen Kleidung eines Waldläufers scherzte mit zwei jungen Frauen. Trotz seines unverkennbar hohen Alters wirkte sein Gesicht noch unreif, fast kindlich, wie es für sein Volk charakteristisch war. Der Anblick war für Aylon vertraut. Es gab nicht mehr viele Elben in diesem Teil der Welt, doch statteten sie Cavillon meist einen Besuch ab, wenn sie diese Gegend bereisten.

Zwei Gestalten, die abseits in einer Ecke saßen und sich leise unterhielten, erregten Aylons Aufmerksamkeit ungleich stärker. Er nahm bei ihnen ein mentales Rauschen wahr, das deutlich ausgeprägter als das leise Wispern der anderen Gäste war. Die eine von ihnen war eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und einem Gesicht, das hübsch, aber eine Spur zu hart und wild war, um wirklich schön zu sein. Sie schien nervös zu sein, denn während sie sprach, unterstrich sie jedes Wort mit hektischen Gesten; ohne Unterlass bewegte sie ihre Hände mit knappen, abgehackten Bewegungen. Immer wieder schaute sie sich um. Für einen kurzen Moment kreuzte ihr Blick den Aylons, und er sah, dass ihre Augen wie erwartet in tiefem Grün strahlten.

"Eine Vingala", raunte Maziroc leise. "Der andere besitzt ebenfalls magische Kräfte, aber er ist kein Ishar. Achte auf deine Ausstrahlung und die Augen."

Aylon nickte unmerklich. Anfangs hatte er sich stark konzentrieren müssen, um das mentale Rauschen nachzuahmen, doch in den letzten Stunden fiel es ihm merklich leichter, und inzwischen erzeugte er es fast unbewusst. Interessiert musterte er die Vingala auch weiterhin unauffällig. Auf ihrem schlichten Kleid trug die Hexe das Zeichen ihres Ordens, einen weißen, im Sprung befindlichen Tiger. Einst hatten Hexen und Magier einem gemeinsamen Orden angehört, bis die Hexen ihren eigenen Orden, die Vingala, gründeten. Auch die Trennung hatte jedoch nichts am freundschaftlichen Verhältnis zu den Ishar geändert.

Die Nervosität der jungen Vingala schien noch zu wachsen. Das Gesicht ihres Gesprächspartners war nicht zu erkennen. Es lag im Schatten einer weit vorgezogenen Kapuze verborgen. Lediglich seine grünen Augen und eine Narbe, die sich über das Kinn des Mannes zog, waren zu sehen.

Aylon wurde abgelenkt, als sich Harnom mit einem Tablett in den Händen näherte. Der Wirt stellte zwei Becher und einen Krug, daneben eine Holzplatte mit Brot und einem großen Stück Braten auf ihren Tisch. "Mein bester Wein, ich kenne ja schließlich deinen guten Geschmack, Maziroc", erklärte er. "Und das Lamm habe ich erst heute Mittag geschlachtet."

Maziroc griff nach einem Messer, schnitt eine Scheibe Braten ab und schob sie sich in den Mund, anschließend probierte er einen Schluck Wein. "Fantastisch", lobte er beides und schnalzte genießerisch mit der Zunge.

"Ich hoffe, du hast eine Menge neuer Geschichten zu erzählen", sagte Harnom. "Jetzt muss mich erst um die anderen Gäste kümmern, aber später wird sicherlich noch Zeit bleiben, uns eine Weile zu unterhalten."

Als Aylon sich wieder dem Ecktisch zuwandte, stand die Vingala gerade auf. Sie schob ihrem Begleiter etwas über den Tisch zu, streifte sich ihren Mantel über und verließ mit raschen Schritten das Wirtshaus. Enttäuscht schaute Aylon ihr nach.

"Wirt!", rief der Narbige mit unangenehm krächzender Stimme. "Komm her!"

Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, holte Harnom einen Krug unter der Theke hervor, schenkte Wein in drei Becher und brachte sie zu einem Tisch. Er wechselte ein paar Worte mit einem der Zecher, erst dann schlenderte er ohne jede Hast zu dem Ecktisch hinüber.

"Für wen hältst du dich, einen Magier warten zu lassen?", zischte der Narbige. "Wage es nicht noch einmal, wenn dir dein lausiges Leben etwas wert ist."

"Das ist mein Haus, und solange Ihr Euch hier aufhaltet, seid Ihr nicht mehr als jeder andere Gast", entgegnete Harnom furchtlos. "Also sagt, was Ihr wollt."

"Hüte deine Zunge, oder du verlierst sie." Eine Welle fast körperlich spürbarer Bösartigkeit ging von dem Magier aus. Er holte einen Lederbeutel unter seinem Mantel hervor, dabei war für einen Moment ein schwarzer Kreis auf seinem Gewand zu sehen. "Was schulde ich dir?"

"Er gehört dem Dunklen Bund an", flüsterte Aylon erschrocken. "Ein Caer-Sharuun! Du musst etwas tun."

"Und was?" Maziroc schüttelte den Kopf. "Es gibt kein Gesetz gegen die Zugehörigkeit zum Dunklen Bund. Seine Magier haben nicht weniger Rechte als wir."

"Aber die Caer-Sharuun verachten die Menschen. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie sie versklaven."

"Ihre Ansichten widersprechen den unseren, aber das gibt uns kein Recht, über sie zu richten", sagte Maziroc scharf. "Solange der Mann nicht gegen geltendes Recht verstößt, habe ich nichts mit ihm zu schaffen."

Aber es schien, als hätte es der Magier auf Ärger abgesehen. "Vier Silberheller für zwei Becher von diesem gepanschten Zeug?", rief er in gespieltem Zorn. "Willst du mich beleidigen? Dieser Essig ist höchstens einen Heller wert."

"Ich sagte vier", gab Harnom zurück. Ein fast unmerkliches Zittern hatte sich in seine Stimme eingeschlichen. "Das ist der normale Preis."

Die Hand des Magiers zuckte vor und packte Harnoms Kehle. Seine Finger waren lang und dürr, sodass sich Aylon unwillkürlich an die Beine einer Spinne erinnert fühlte. Mit spielerisch anmutender Leichtigkeit zerrte er Harnom zu sich heran. Der Tisch kippte um, die Becher fielen scheppernd zu Boden. Schlagartig breitete sich Stille im Raum aus. Scheinbar ohne jede Anstrengung hielt der Narbige den wohlbeleibten Wirt mit einer Hand in der Luft, sodass dessen Füße einige Handbreit über dem Boden baumelten. "Und ich sagte einen Heller", wiederholte er. "Hörst du schlecht?"

Harnoms Gesicht färbte sich rot. Plötzlich hielt er einen Dolch in der Hand, den er offenbar im Ärmel versteckt hatte. Er kam jedoch nicht mehr zum Zustoßen. Mit der freien Hand packte der Caer-Sharuun seinen Arm und verdrehte ihn. Die Waffe landete klirrend auf den Fliesen.

"Das reicht." Maziroc stand auf und trat neben die Streitenden. "Lass ihn los, er hat dir nichts getan."

"Der Hurensohn hat es gewagt, mich anzugreifen", fauchte der Caer-Sharuun. "Dafür verdient er den Tod."

"Er hat sich nur verteidigt. Und er steht unter meinem Schutz."

"Dem Schutz eines Ishar, ha." Er sprach den Namen des Ordens wie ein Schimpfwort aus. "Halt dich hier raus, Fettwanst."

Aylon wusste, dass sein Lehrmeister trotz seiner Körperfülle alles andere als langsam oder gar behäbig war, doch auch er wurde von der Schnelligkeit überrascht, mit der Mazirocs Hand vorschoss, die des Caer-Sharuun packte und seine Finger mit einem einzigen harten Griff aufbog. Selbst der Narbige war verblüfft, seine Abwehrbewegung kam viel zu spät. Harnom taumelte zurück und rang keuchend nach Atem.

Der Caer-Sharuun fuhr zornig herum. "Warum setzt du dich für dieses winselnde Gewürm ein?", stieß er hervor. "Die Zeit der Menschen ist längst abgelaufen, wir Magier sind die Zukunft Arcanas. Wann werdet ihr Ishar das endlich begreifen?"

"Wahrscheinlich nie", antwortete Maziroc. Seine Stimme war scharf wie Stahl geworden. "Weil ihr euch irrt, du und deine Brüder vom Dunklen Bund. Jetzt gib ihm sein Geld und dann geh!"

Stumm starrten sie sich gegenseitig an. Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern und Funken zu schlagen. Ein lautloser Kampf entbrannte zwischen den beiden Magiern, ein unbarmherziges Ringen, das mit geistigen Waffen ausgetragen wurde. Ungerührt hielt Maziroc dem Blick seines Gegners stand, bis der Caer-Sharuun schließlich den Kopf senkte. "Irgendwann begegnen wir uns wieder", zischte er hasserfüllt. Er holte vier Münzen aus seinem Beutel und schleuderte sie in die Ecke, dann stürmte er aus dem Gasthaus und schlug lautstark die Tür hinter sich zu.

"Er ... er hätte mich umgebracht, wenn du nicht gewesen wärst", stammelte Harnom. Er bückte sich nach den Münzen und Bechern und richtete den Tisch wieder auf. "Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann."

"Schon gut", murmelte Maziroc. "Vergessen wir die Sache." Er kehrte an seinen Tisch zurück und setzte sich. Die anderen Gäste nahmen ihre Gespräche erneut auf, aber immer wieder warfen sie ihm halb bewundernde, halb scheue Blicke zu. "Genau so ein Aufsehen wollte ich vermeiden", brummte der Magier verdrossen. Er schob Aylon die Platte mit dem Braten hin. "Jetzt iss endlich, oder willst du fasten?"

Aylon bemühte sich, die Erinnerung an das gerade Geschehene zu verdrängen. Er griff nach dem Fleisch, und nachdem er ein paar Bissen gekostet hatte, merkte er erst wieder, wie hungrig er war. Der Braten zerging fast auf der Zunge und schmeckte besser als alles, was er seit langer Zeit gegessen hatte, das Brot war frisch gebacken und knusprig. Von dem Wein trank er allerdings nur wenige Schlucke. Er war Alkohol nicht gewöhnt, und ganz abgesehen davon, dass er am nächsten Morgen nicht mit einem schweren Kopf aufwachen wollte, fürchtete er auch, dass er in angetrunkenem Zustand seine Tarnung nicht mehr würde aufrecht erhalten können. Maziroc langte im Gegensatz zu ihm kräftig zu.

Harnom brachte ihnen unaufgefordert einen weiteren Krug. "Selbstverständlich geht alles auf Kosten des Hauses", erklärte er.

"Erzähl mir mehr über Maramon", bat Aylon, nachdem der Wirt sich wieder entfernt hatte.

"Warum nicht?", gab Maziroc gut gelaunt zurück. "Aber da gibt es nicht besonders viel zu erzählen. Es ist eben eine große und prächtige Stadt, die größte Larquinas, noch vor Basla, der offiziellen Hauptstadt und dem Sitz des Königs. Von Maramon aus herrscht Fürst ..."

"Das weiß ich selbst", fiel ihm Aylon ins Wort. "Ich meine, was soll ich dort? Bleiben wir länger, oder reisen wir noch weiter?"

"Das wird sich zeigen. Zunächst mal sollst du deinen Horizont erweitern und Erfahrungen sammeln, etwas sehen, mit anderen Menschen sprechen. Der Zeitpunkt dafür ist recht günstig, denn das Erntefest steht dicht bevor, und dann ist in Maramon immer ordentlich etwas los. Es lockt viele Schaulustige und Ehrengäste in die Stadt."

"Und wo ist der Haken an der Sache?" Aylon lächelte." Ich kenne dich zu gut, Maziroc. Du hast doch mit Sicherheit noch irgendwelche Hintergedanken."

"Allmählich wächst du mir über den Kopf, Aylon. Was ist bloß aus dem frechen kleinen Bengel geworden, dem man erzählen konnte, dass die Welt eine Scheibe ist?" Der Magier seufzte, griff nach seinem Becher und trank einen Schluck. "Natürlich wird es keine reine Erholungsreise werden. Du sollst nebenbei auch deine Umgangsformen am Hofe Fürst Argars schulen und lernen, dich in hochgestellter Gesellschaft zu bewegen. Das ist schwieriger, als du vielleicht denkst, aber auf alle Fälle interessanter, als irgendwelcher trockene Unterrichtsstoff. Also mach nicht so ein verkniffenes Gesicht."

Einer der Gäste griff nach einer Flöte und stimmte eine fröhliche Melodie an. Fast sofort fielen die anderen Anwesenden ein und sangen so lautstark mit, dass jede normale Unterhaltung unmöglich wurde. Aylon war es ganz recht; er hatte ohnehin wenig Lust zum Reden. Der Tag war anstrengend gewesen. Die Strapazen des langen Ritts zeigten immer deutlicher Wirkung. Dem einen Lied folgte ein weiteres, dann noch eins. Aylon gähnte. Er war müde und es gelang ihm nur noch mit Mühe, die Augen offen zu halten.

"Du solltest dich besser hinlegen", schlug Maziroc vor und winkte den Wirt herbei. "Harnom wird dir das Zimmer zeigen."

Mit einem dankbaren Nicken stand Aylon auf und folgte dem Wirt über eine Treppe ins obere Stockwerk. Das Zimmer war nicht übermäßig komfortabel, aber sauber und geräumig. Aylon fühlte sich sogar zu müde, um sich auszuziehen, sondern streckte sich auf einem der beiden Betten aus. Er wollte nur einen Moment ruhen, um sich anschließend fertigzumachen, doch kaum hatte er sich hingelegt, griff der Schlaf wie eine dunkle Hand nach seinen Gedanken und löschte sie aus.

*


AYLON WUSSTE NICHT, wie viel Zeit verstrichen war, aber er musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn er war tief in die Dramaturgie eines wirren Traums verstrickt, als er irgendwann seinen Namen hörte. Er versuchte sich einzureden, dass es nur Teil seines Traums wäre und wollte sich unwillig auf die andere Seite drehen, aber dann rüttelte ihn jemand an der Schulter und rief abermals leise seinen Namen. Aylon schlug die Augen auf und sah Maziroc vor sich stehen. "Was ist los?", nuschelte er und gähnte.

Erschrocken legte der Magier seinen Zeigefinger vor die Lippen. "Leise", flüsterte er. "Wach schon auf."

"Was ist denn passiert?", fragte Aylon noch einmal, diesmal leiser und deutlicher. Er blinzelte und strich sich die Haare aus der Stirn.

"Der Damon", stieß Maziroc hervor. "Er ist hier. Komm endlich zu dir."

Die Worte rissen Aylon endgültig aus seiner Benommenheit. Er sprang auf und folgte Maziroc aus dem Zimmer in die mittlerweile leere Gaststube hinunter. Die hölzerne Treppe knarrte unter dem Gewicht des Magiers bei jedem Schritt. In der herrschenden Stille kamen Aylon die Geräusche doppelt laut vor, aber er glaubte auch seinen Atem und das aufgeregte Schlagen seines Herzens wie das Dröhnen eines Hammerwerks zu hören. Die Eingangstür war von innen verriegelt. So leise wie möglich öffnete Maziroc sie und sie traten ins Freie. Furchtsam schaute sich Aylon um, konnte den Damon jedoch nirgendwo erblicken. "Wo ist er?", flüsterte er fast unhörbar. Sein Herz raste jetzt, als wollte es zerspringen. Selbst mit aller Kraft gelang es ihm kaum, seine Angst niederzuringen.

"Irgendwo in der Nähe. Wir werden uns ihm stellen müssen, aber nicht hier. Ich möchte nicht, dass Unbeteiligte zu Schaden kommen."

Durch eine schmale Gasse zwischen einigen Häusern gelangten sie an den Rand des Dorfes und aufs freie Feld hinaus. Hier erblickte Aylon den Damon erstmals aus der Nähe. Er prallte mit einem entsetzten Schrei zurück, als die geflügelte Kreatur plötzlich pfeilschnell hinter den Häusern hervorgeschossen kam. Noch aber zögerte die Bestie, sie anzugreifen. Stattdessen schraubte sie sich mit einigen Flügelschlägen höher in den Himmel hinauf. Der Damon war in der Tat gigantisch, mindestens um das Fünffache größer als ein Adler, für den Aylon ihn erst gehalten, und zudem noch wesentlich schrecklicher, als er ihn sich in seiner Phantasie ausgemalt hatte. Die gewaltigen, gezackten Schwingen trugen einen schmalen, mit furchterregenden Klauen bewehrten Körper, der in einem langen, peitschenähnlichen Schwanz endete. Der eher kleine Schädel schien fast nur aus zwei rotglühenden Augen und einem Maul voller mehr als fingerlanger Reißzähne zu bestehen.

"Kannst du ihn ... vernichten?"

Maziroc lächelte kalt. "Vermutlich. Ich sagte schon, er ist nur eine Dienerkreatur. Aber warum?"

"Warum? Er ist ein Damon", antwortete Aylon verwirrt, als wäre dies schon Erklärung genug. "Er will uns töten."

"Und? Er ist nur ein Tier, das von seinen Herren zum Töten abgerichtet wurde. Vermutlich hatte er den Auftrag, jeden anzugreifen, der Cavillon verlässt. Willst du alle Raubtiere töten, denen du begegnest? Es gibt andere, ebenso wirkungsvolle Methode."

"Ich verstehe nicht ..."

"Dann lerne es", erwiderte Maziroc hart. "Es wird Zeit, dir etwas über Charalons Reif zu sagen. Ich weiß nicht alles über ihn, aber er besitzt zumindest zwei Funktionen, die ich kenne. Er schützt dich vor fremder Magie, aber das hilft jetzt nichts. Der Damon ist kein Zauberwesen, sondern real. Aber er besitzt keinen eigenen Verstand und lässt sich deshalb durch jeden Zauber recht leicht täuschen. Das ist die zweite Kraft des Reifs. Er vermag Trugbilder zu erzeugen. Einen Menschen oder gar einen anderen Magier wirst du erst nach intensiver Übung damit täuschen können, aber für so ein Tier dürfte es auch so reichen."

"Aber das Skiil ist noch nicht an mich angepasst", wandte Aylon ein. "Es würde mir nicht gehorchen."

Maziroc lachte leise. "Glaubst du? Charalons Reif ist mehr als nur irgendein Skiil. Er sucht sich seinen Träger selbst, und er hat dich längst akzeptiert, sonst könntest du ihn gar nicht tragen. Lausche in dich hinein, dann wirst du es spüren."

"Aber ..." Zweifelnd betrachtete Aylon den Reif und wusste im gleichen Moment, dass Maziroc recht hatte. Das Pulsieren, das er in seinem Geist wahrnahm, war ein deutlicherer Beweis, als alle Worte. Er ließ seinen Blick wieder zu dem gewaltigen Schatten wandern, der über ihnen am Himmel kreiste und sich mal ein Stück in die Tiefe gleiten ließ, um gleich darauf wieder aufzusteigen. "Was muss ich tun?"

"Du musst mit dem Skiil verschmelzen. Spürst du seine Kraft? Sammle sie in deinem Geist und verleihe ihr Gestalt."

Aylon verdrängte seine Angst und konzentrierte sich auf den Reif. Das Pulsieren schien stärker zu werden, das Wispern lauter. Er meinte, das Schlagen von Flügeln in seinen Gedanken zu hören, mächtiger als die des Damons. Etwas Finsteres, Körperloses ballte sich wie schattenhafter Rauch vor ihm zusammen, in steter brodelnder Bewegung begriffen. Der Schatten dehnte sich aus und gewann an Festigkeit, wogte unbeständig hin und her, und erst jetzt begriff Aylon wirklich, dass er ihn erzeugt hatte und ihn beherrschen konnte. Es ging sogar einfacher, als er erwartet hatte. Was er vor sich sah war nichts, jedenfalls nichts Reales, sondern nur eine Illusion, die er durch die Kraft des Reifs erschuf und lenkte.

Der Damon kam wie ein Stein vom Himmel herabgeschossen. Erst wenige Meter über der Erde spreizte er die Schwingen und peitschte mit ihnen die Luft. Kaum eine Armlänge entfernt strich er über die Köpfe der beiden Männer hinweg, so nah, dass er sie fast streifte. Ein Fauchen drang aus seinem weit aufgerissenen Maul. Aylon wusste, dass die Bestie beim nächsten Anflug wirklich angreifen würde, trotzdem beachtete er sie kaum. Seine Gedanken beschäftigten sich mit dem schattenhaften Etwas, formten es nach seinem Willen. Immer rascher verwandelte es sich in die schreckliche Bestie, als die er sich den Damon ursprünglich vorgestellt hatte, einen gestaltgewordenen Alptraum aus messerscharfen Klauen, Reißzähnen und Panzerschuppen, übersät mit hornigen Stacheln und einem guten Dutzend langen, schleimglänzenden Tentakeln, die wild umherpeitschten. Zum Schluss verlieh er dem Monstrum ebenfalls ein paar Schwingen und schickte es dem Damon entgegen, als dieser zum entscheidenden Angriff ansetzte.

Die beiden Giganten rasten aufeinander zu. Aylon wagte kaum zu atmen. Einige Sekunden lang schien es so, als würde der Damon seinen Gegner überhaupt nicht beachten, die Illusion durchschauen. Dann aber stieß er einen klagenden Schrei aus, der anschwoll, während er gleichzeitig schriller und furchterfüllter wurde. Der Damon änderte seine Flugrichtung und jagte kreischend davon, floh vor dem Trugbild eines menschlichen Geistes.

Erst als Aylon sicher war, dass das Ungeheuer nicht zurückkehren würde, ließ er die Schatten wieder zerfließen. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf. Er taumelte vor Schwäche und wäre gestürzt, wenn Maziroc ihn nicht aufgefangen hätte. "Der Einsatz eines Skiils fordert seinen Preis", drangen die Worte des Magiers wie aus weiter Ferne an sein Ohr, dann verlor er das Bewusstsein.

Der Tempel der Drachen

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