Читать книгу Eine Welt auf sechzehn Saiten - Frank Schneider - Страница 11
Im vereinten Deutschland (1990 – 2000)
ОглавлениеKonzerte werden in der Regel lange vor ihren Terminen geplant und können daher auch auf die Wechselfälle des Lebens keine Rücksicht nehmen. Sie haben den Mauerfall vor Ort versäumt und die anderen wilden Monate sicher überwiegend aus der Ferne registriert. Die schockierenden Umwälzungen dieser Zeit mögen für Sie auch weniger aufregend gewesen sein als für die große Mehrheit Ihrer Mitbürger: Reisefreiheit hatten Sie, ebenso die begehrte D-Mark. Die neue Demokratie an den Runden Tischen wie die ersten freien Wahlen dürften Sie begrüßt haben, weil auch Ihnen radikale Reformen des polit-bürokratischen Systems am Herzen lagen. Es würde mich eigentlich wundern, wenn Sie den historischen Tag der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, den 3. Oktober 1990, zu Hause verbracht hätten.
SFO: An diesem Tag haben wir ein Konzert in Tel Aviv gespielt. Wir waren einer Einladung zu zwei Konzerten in der israelischen Hauptstadt gefolgt, wohnten aber in einem Kibbuz. Dort hörten wir ein Konzert des israelischen Armeeorchesters mit Guy Braunstein als Solisten, dem späteren Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, der in Stiefeln und Armeeuniform ein Mozart’sches Violinkonzert spielte – mit eigenen Kadenzen, unglaublich delikat und filigran, im Gegensatz zu dem martialischen Outfit des Orchesters. In dem kulturbewussten Kibbuz fand zu dieser Zeit ein kleines Festival statt, bei dem wir dann ein weiteres Konzert gaben. Die Kritik in Tel Aviv nahm kurioserweise Bezug auf den deutschen Feiertag, indem sie bemerkte, wir hätten sehr ernst gewirkt und unsere Freude nicht gezeigt, denn die sei für Deutsche wohl angemessen bei dem besonderen Ereignis der Wiedervereinigung.
SFE: Vielleicht entsprach der Ernst unserer damaligen Stimmung, denn er brachte für das Quartett eine Fülle neuer, offener Fragen.
Hat Sie das Leben im Kibbuz eventuell an etwas erinnert, das zu Hause gerade zu Grabe getragen worden war?
TV: Ja, wir hatten dort in gewisser Weise das Gefühl, in der DDR zu sein. Es herrschte der gleiche Ton, den wir kannten, stolz und euphorisch wurde uns erzählt, dass keinem etwas gehört, es also kein Eigentum gibt, dass Kinder in speziellen Einrichtungen mit Internat kollektivistisch erzogen werden – alles Grundstrukturen, die stark sozialistisch geprägt waren. Erzählt wurde mit leuchtenden Augen! Und das zu uns, die nur immer dachten: Wir wissen, dass so etwas nicht wirklich funktioniert.
FR: Andererseits waren wir insgesamt drei Mal in Israel und von vielen anderen Dingen stark beeindruckt. Dazu gehört die Spielkultur des Israel Philharmonic Orchestra, dem wir zuhören durften. Beeindruckend, wenn zu Beginn des Konzerts alle aufstehen und der schwungvollen Nationalhymne lauschen.
SFE: Sie war das Beste am ganzen Abend!
Mit Israel haben Sie nach den USA zum zweiten Mal die Grenzen Europas hinter sich gelassen. Später werden Sie noch mit Japan und Australien weitere Kontinente betreten, so dass Ihre weltweite Präsenz beinahe zu einem Gleichnis jener grenzenlosen Freiheiten und Globalisierungstendenzen auch im Bereich der Kultur taugt, von denen man sich, zumal im gewendeten Osten, zu Beginn der neunziger Jahre das »Ende der Geschichte« und den Ausbruch ewigen Friedens und Wohlstands erhoffte. Unweigerlich gehört der Zusammenbruch der Sowjetunion in dieses Szenario, und so frage ich Sie – an Amerika erinnernd – nach Ihren Eindrücken vom anderen Großreich, das vor allem den Krieg gegen Hitler gewonnen hat. Sie werden sicherlich auch beim ehemals »Großen Bruder« der DDR und später beim so außerordentlich musikliebenden Volk der Russen häufig gastiert haben.
SFO: Wir waren vor der Wende als Quartett im Rahmen eines Studentenaustauschs zu Besuch beim Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium. Das war 1985. Dann noch einmal 1988 im Dezember aus Anlass des Treffens der künstlerischen Jugend der sozialistischen Länder.
Ich nehme an, Sie reisten nicht allein, sondern als Angebotspaket mit Vertretern aller ernsten und leichten Musen.
SFO: Wir waren Teil einer großen Delegation unter Leitung des damaligen Stellvertretenden Kulturministers Dietmar Keller. Wir sollten im »Rossija« in der Nähe des Roten Platzes auftreten, im damals größten europäischen Hotel mit einem Festsaal für ca. 3000 Besucher. In staubtrockener Akustik – schlimmer als in einer Besenkammer – sollten wir den zweiten Satz, die Variationen über »Der Tod und das Mädchen«, aus dem d-moll-Streichquartett von Franz Schubert spielen, und zwar unmittelbar nach einer Balalaika-Gruppe und vor einem Tanz-Ensemble aus dem Kaukasus. Wir haben uns zu spielen geweigert, weil ein Auftritt, bei dem man uns kaum hören würde, zumal zwischen weit derberer Kost, für niemand Sinn macht. Und der Minister, statt bürokratisch zu toben, hat unseren Gründen schließlich zugestimmt, wir mussten nicht spielen, durften aber eine Woche touristisch entspannt genießen.
TV: Das Ganze war ohnehin eine Farce, weil auch Treffen mit anderen Jugendlichen gar nicht vorgesehen waren. Wir waren isoliert, haben den Kreml, Klöster, das Bolschoi und andere Highlights besichtigt, hatten aber keine einzige Begegnung mit russischen oder anderen ausländischen Künstlern. Stattdessen fanden inoffizielle Essen mit russischen Gastgebern statt, bei denen wir deren ausufernde Trinkkultur studieren konnten und lange Toasts von kaukasischer oder georgischer Seite, sogar auf Stalin und Hitler, aushalten mussten. Es war alles in allem grotesk und wohl unsere einzige Konzertreise ohne Konzert, als staatlich finanziertes Nichtstun wider Willen.
In Ihrer offiziellen Quartett-Biographie geben Sie neben Professor Feltz und dem LaSalle Quartet noch zwei ungarische Künstler als Mentoren an: Der eine ist der legendäre Dirigent und Geiger Sándor Végh, ein Schüler Jenő Hubays und Freund Béla Bartóks, der ein nach ihm benanntes, berühmtes Streichquartett gegründet hat und mit ihm als Emigrant ab 1946 von Paris aus international konzertierte. Es galt rasch als eines der weltbesten Ensembles, das, romantische Attitüden hinter sich lassend, empathische Musikalität mit höchster, sachlicher Werktreue verband.
SFO: Wir hatten eine Einladung zur Teilnahme am Internationalen Meisterkurs »Prussia Cove« in Cornwall (England). Sándor Végh war dessen Begründer und veranstaltete dort bis ins hohe Alter Meisterklassen für Kammermusikspiel. Eine Einladung dorthin zu erhalten bedeutete eine wirkliche Auszeichnung, und ihr zu folgen war Ehrensache. Die Teilnahme am Kurs war für uns eine äußerst spannende Erfahrung – nicht nur durch das Erlebnis der Aura einer legendären Berühmtheit für unser Fach, sondern mehr noch durch die Befriedigung, authentische Überlieferungen aus einem riesigen Erfahrungsschatz vermittelt zu bekommen. Wie er uns namentlich in Bartóks 6. Streichquartett unterrichtet hat, ist mir unvergesslich. Übrigens saß hinter Végh wie ein Eleve stets der junge András Schiff und folgte jeder Regung des Meisters. Ich glaube, dass er eine Art Protokoll geführt hat – wie man sagt, eine sehr ungarische Tradition der Wissensvermittlung, die viel für sich hat.
TV: Auf Sándor Végh müssen wir offensichtlich – wir schrieben 1988 – wie verschüchterte Mäuschen aus dem Osten gewirkt haben (was wir damals sicherlich auch waren), denn als Resumee des Kurses hat er uns, natürlich neben anderem, eindrücklich ans Herz gelegt: »Ihr seid ein gutes Quartett, aber ihr müsst viel und gut reisen und die Welt kennenlernen.«
SFO: Ich glaube, eine ganz andersartige, jedoch ebenfalls unvergessliche Erinnerung ist noch mit dem Seminar verknüpft. Ein ziemlicher Schock. Wir waren gebeten worden, in einem der Konzerte in der Umgebung ein Haydn-Quartett zu spielen. Wir fuhren etwa eine Stunde mit dem Bus, zuvor aber hatte ich meine Noten in Franks Geigenkasten gelegt, ohne ihm das zu sagen. Bevor wir losfuhren, sah er flüchtig in den Kasten, Haydn war da, nur eben nicht seine, sondern meine Stimme. Als wir auf das Podium wollten, stellte er mit Erschrecken fest, dass seine Noten fehlten. Es gab keine Chance, sie zu beschaffen – der Weg war zu weit, es gab noch kein Internet. Was hat er gemacht? Er hat zum Schein für das Publikum andere Noten aufgelegt und das gesamte Haydn-Quartett von vorn bis hinten ohne einen Fehler auswendig gespielt.
TV: Ich war furchtbar aufgeregt. Er sah käsebleich aus, war jedoch relativ ruhig. Ich merkte, dass er etwas zurückhaltender, ein wenig fragiler als sonst spielte, obwohl er musikalisch alles mitmachte, was interpretatorisch anstand. Ich dachte immer, wenn er jetzt aufhört …, also es war unvorstellbar, was so alles hätte passieren können! Aber es ging gut.
Eine kolossale Gedächtnisleistung, von der er offenbar selbst nichts geahnt hat. Würden Sie anderen das auch können?
SFO: Ich glaube, keiner von uns, ausgeschlossen! Ich hätte diese Nerven nicht gehabt, aber Frank hat in einem ähnlichen späteren Fall in England, bei einem anderen Haydn-Quartett, noch einmal auswendig spielen müssen. Ich habe für so etwas große Bewunderung. Chapeau!
Der andere für Sie wichtige Ungar war der Komponist György Kurtág, der zusammen mit Béla Bartók und György Ligeti die berühmte magyarische Trias in der Geschichte der neuen, avancierten Musik bildet. Ihnen ist er jedoch nicht in erster Linie komponierend nahegekommen, sondern auf einem zweiten Tätigkeitsfeld, das mit seiner langjährigen Professur für Klavier und Kammermusik an der Budapester Musikakademie verbunden ist – bei seinen sommerlichen Meisterkursen für Kammermusik in Szombathely, einer mittleren Stadt in Westungarn nahe Österreich.
SFO: Meine Frau kannte Kurtág von diesem Sommerkurs und hat immer schon von ihm geschwärmt. Als wir 1992 zum Kammermusikfestival ins finnische Kuhmo kamen, war auch Kurtág dort, und ich habe ihn angesprochen. Er war bereit, sich Schuberts G-Dur-Quartett anzuhören. Nach einigen Schwierigkeiten gab es einen Termin mit ihm als einzigem Hörer, und zu unserer Verblüffung (es ging die Fama, dass man über 2, 3, 4 Takte gar nicht hinauskommt) ließ er sich das ganze Werk vorspielen – mit der Bemerkung, er hätte es eben das erste Mal live gehört, obwohl er es kannte wie seine Westentasche.
TV: Er hat sich höflichst bedankt für die Darbietung, so dass wir der Meinung waren, er findet unser Spiel sehr gut. Wir fanden uns gar nicht so großartig, wussten aber noch nicht, dass er das Stück sehr gut kannte. Wir haben ihn unterschätzt und waren dann erstaunt, dass er intensiv mit uns zu arbeiten begann.
SFO: Interessant fand ich, dass er auch aus der Perspektive des Komponisten Kurtág den Komponisten Schubert analysierte und uns das, am Klavier spielend, in gedrängter, aber packender Form demonstrierte.
TV: Ihm ging es darum, dass wir erst einmal genau hinhören, dann das Gehörte durchleben und schließlich das Gehörte und Durchlebte instrumental so umsetzen, dass die komponierten Absichten deutlich werden. Er arbeitet ganz intensiv am Klang. Wenn er am Klavier einen Akkord vorspielt, kann der etwas ganz anderes sein, als wenn wir selbst drei Tasten gleichzeitig drücken, um ihn hervorzubringen: irgendwie – in Anführungsstrichen – ein erfüllter, lebendiger, atmender Klang … Bei Schubert gibt es lange Pianissimo-Passagen, etwa beim zweiten Thema im ersten Satz mit kleinsten Akzenten, wo er uns abverlangte, sie trotzdem mit voller Intensität und Wärme zu gestalten. Dass dieser schmale, eher etwas durchscheinende und ein bisschen nervöse Mann keinen akademischen, sondern einen extrem lustvollen Ansatz zum Musizieren hat – und auch uns diesen sinnlichen Zugang körperlich abverlangte, fand ich besonders frappierend und beeindruckend.
Gab es mit Kurtág nur diese eine Begegnung?
TV: Nein, er kam wenig später, 1993/94, für zwei Jahre nach Berlin zum Wissenschaftskolleg, um als »Composer in Residence« bei den Berliner Philharmonikern zu arbeiten. Da haben wir ihn regelmäßig aufgesucht und eine ganze Menge Stücke mit ihm studiert, vor allem große Literatur wie Beethovens op. 127, Quartette von Schumann, das Klarinetten-Quintett von Brahms und anderes – unentgeltlich, weil er meinte, wir gehören doch »zur Familie«, also zu denen, die sich um ihn scharen, um die Geheimnisse großer Kammermusik von ihm zu erfahren und mit ihm zu teilen.
FR: Er war im Übrigen kein großer Kommunikator, immer ins Komponieren versunken, deshalb war es nicht leicht, außerhalb der professionellen Stunden des Unterrichts Kontakt mit ihm zu knüpfen. Als ich ihn einmal mit dem Auto zu seiner Wohnung mitnahm, war es kaum zu glauben, dass der gleiche Mensch, der uns eben noch lebhaft belehrt hat, in totales Schweigen verfiel. Ich wollte es mit etwas Smalltalk versuchen und fragte, ob er Kinder habe. »Ja«, und damit war Schluss.
Um auf Sándor Véghs Reiseempfehlung zurückzukommen, so trat er ja gerade bei Ihnen offene Türen ein. Durch die Welt sind Sie vor wie nach der Wende eigentlich immer gekommen, aber es fragt sich jetzt, ob Sie im Ausland nun anders wahrgenommen wurden als zuvor, zum Beispiel ohne den gewissen Exotenstatus, der uns Ostdeutschen als gutgemeinte Attitüde zugedacht wurde.
TV: Natürlich bestand bei vielen Kollegen und Veranstaltern in der Regel ein lebhaftes Interesse an authentischen Berichten aus jener anderen Welt, die vielen Westdeutschen als sehr befremdlich erschien. Diese Neugier nahm enorm zu, als die Mauer gefallen war und sich in der anschließenden turbulenten Zeit abzeichnete, dass die DDR historisch abdanken und sich beide deutsche Staaten vereinigen würden. In gleicher Weise verschwand allmählich aber auch dieser besondere Bonus, den wir aufgrund unserer Herkunft einige Jahre hatten. In Frankreich sind wir immer auf ein starkes Interesse an den Vorgängen hinter dem Eisernen Vorhang gestoßen, vielleicht auch deswegen, weil aus der DDR ganz selten Gäste aus der Kunstszene kamen – im Gegensatz zu jungen russischen, polnischen, ungarischen oder sogar chinesischen Musikern, die dort schon früher und häufiger anzutreffen waren.
FR: Die Exotenrolle als DDR-Bürger konnte durchaus auch groteske Situationen hervorrufen. Betuchte Frauen aus Konzertvereinen, in Neuss zum Beispiel, luden uns nach dem Auftritt in ihre schicken Häuser ein und wollten uns zeigen, wie das gute, freie Leben so läuft. Obwohl wir auch mal ausschlafen wollten, standen sie am nächsten Morgen um 9 Uhr bereit, um nach Düsseldorf zu fahren und uns auf der Kö ihr Konsumparadies vorzuführen. »Und wenn ihr nach Hause fahrt, geben wir euch Schokolade und Kaffee mit!« Eine Bonner Familie kam nach der Wende immer wieder in den Osten und bot mir sogar an, die Renovierung meiner Wohnung zu bezahlen – aus reiner Euphorie über die kommende Wiedervereinigung. Sie begrüßten auch im Gegensatz zu vielen Bonnern den Beschluss über Berlin als Hauptstadt: »Berlin liegt ja genau in der Mitte«. Für die gehörten Ostpreußen, Ostpommern und Schlesien immer noch zu Deutschland!
Ich nehme an, Ihre gesamte Konzertplanung und Reiseorganisation lag in den Wendemonaten bis zur Wiedervereinigung immer noch in den Händen der Künstleragentur?
TV: Ja, wobei uns mittlerweile schon die Münchner Agentur Hörtnagel vertrat. Das war als jene Zweigleisigkeit angelegt, die auch heute noch überwiegend praktiziert wird: Im eigenen Land hat man eine Agentur, die sozusagen den Hut für die Gesamtkoordinierung der Aktivitäten aufhat, und in anderen Ländern gibt es spezielle Agenturen, die ihre Angebote zur Koordinierung an die heimatliche Zentralstelle geben.
SFE: Ich weiß noch, als wir in Schleswig-Holstein spielten, wie Georg Hörtnagel, ein großer, schwerer Mann in einem weißen Leinenanzug, jedem von uns seine riesengroße Kontrabassisten-Hand auf die Schulter legte und sich vorstellte. So startete der Kontakt mit der Agentur, die viele Jahre gut mit uns gearbeitet und uns sehr geholfen hat. Und noch ein persönliches Wort. In der Münchner Konzertdirektion Hörtnagel lernte ich meine Frau kennen, sie arbeitete dort.
TV: Aber ehe Hörtnagel unsere Generalvertretung übernahm, nachdem es die Künstleragentur nicht mehr gab, blieben wir noch eine Zeitlang bei der nun privatisierten Nachfolge-Agentur, die der ehemalige stellvertretende Chef, Horst Guttek, gegründet hatte. Unter dem schönen Namen »Dreiklang« hat diese Agentur uns zwei, drei Jahre betreut. Auch ins Ausland, zum Beispiel nach Spanien oder zu einem Konzert in Budapest, hat Herr Guttek uns stets persönlich begleitet – sicher gut gemeint von seiner Seite (er war der weniger welterfahrene, über alles staunende Ossi), aber gelegentlich zu unserem Missvergnügen, dann man fühlte sich immer auch ein wenig beobachtet und kontrolliert, wo man doch dachte, so etwas hätte sich eben geschichtlich erledigt.
SFO: Mit Guttek kamen wir – eine Nachwirkung der deutschen Teilung – nur schwer in die westdeutschen Städte, und auch deshalb wurde die Agentur Hörtnagel für uns ganz wichtig. Sie hat unser Debüt in München organisiert, als Einspringer für das Amadeus Quartett (der Bratschist war gestorben). Wir haben dann im März 1988 im ausverkauften Herkulessaal, an diesem berühmten, fast ein wenig geheiligten Ort, zum ersten Mal mit sehr viel Energie gespielt. Es handelte sich um eine Abonnements-Reihe, bei der wir aufgrund des ersten Erfolgs dann jedes Jahr wieder – quasi beim Gipfeltreffen weltbester Quartett-Vereinigungen – präsent waren.
An diesem Beispiel lässt sich auch beobachten, wie doch die Veränderung der politischen Landschaft und der ökonomischen Verhältnisse auf subtile Weise die Strategien Ihres öffentlichen Wirkens berührten. Das geschah nach meiner Meinung unter anderem dadurch, dass Sie als Gegengewicht zu den sehr oft von vielen Zufällen beherrschten oder von Ihnen nicht zu beeinflussenden Faktoren Ihrer Konzertverpflichtungen rund um die Welt nun auch begannen, für sich selbst bestimmte Schwerpunkte Ihrer Arbeit zu setzen und programmatische Linien festzulegen. Für Ihr Künstlerleben bedeutete dies neue deutliche Profilierungen und Akzentuierungen. Einer dieser Momente war die Idee einer eigenen Konzertreihe für Abonnenten in der Stadt, die man als Ihre künstlerische Heimat betrachten kann. Sie hätten hier das wahrscheinlich treueste Publikum haben können, wenn Sie nicht so vehement weltläufig geworden wären.
TV: Wir haben immer wieder in Berlin gespielt, in der Philharmonie (in einer Reihe der Konzertdirektion Hans Adler) oder im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Wir hatten das Gefühl, dass es gut wäre, als Berliner und auch wegen unseres Studiums an der Eisler-Hochschule, mit einer gewissen Regelmäßigkeit in Berlin aufzutreten, da die vielen Leute, die wir kannten, uns öfter mit der Frage zusetzten, wann wir endlich mal wieder ein Konzert zu Hause geben würden. Es wuchs in der Tat unser Bedürfnis, verschiedene Orte zu haben – nicht nur Berlin –, in denen man eine Heimstatt hat, in welche man regelmäßig wiederkommen kann und vielleicht diese Art der Arbeit beglückender findet, als in der Welt herumzufahren, hier und dort aufzutreten, als wäre man Material für ein Spiel nach den undurchschaubaren Regeln einer großen Improvisation.
Ich nehme an, Sie haben das Konzerthaus im Wesentlichen aus drei Gründen als Ihren Veranstaltungsort gewählt: weil es dort einen Kammermusiksaal mit der dafür angemessenen Platzkapazität für ca. 400 Besucher gibt, weil die räumliche Nachbarschaft zu Ihrer Musikhochschule nicht nur eine gewisse symbolische Symbiose darstellt und drittens die Möglichkeit bestand, ein spezifisch interessiertes Stammpublikum zu bilden, das ein Abonnement einfach braucht, um zu funktionieren.
TV: Ganz in diesem Sinne haben wir die Sache überlegt und 1993 Ihnen, dem damals neuen Intendanten des Konzerthauses, einen entsprechenden Brief geschrieben. Die positive Entscheidung kam sehr rasch; wir haben, mit der Aussicht auf Mietbefreiung, kulante Teilung der Abendeinnahmen und gelegentliche Kostenbeteiligung für zusätzliche Solisten, das Abonnement sehr zügig begründen, organisieren und vertreiben können. Da unsere früheren Konzerte immer gut angenommen wurden, hatten wir den Mut zu diesem Abonnement mit jährlich vier Konzerten. Aber man braucht Geduld und Beharrlichkeit, um das Publikum an sich zu binden – und schließlich ist es gelungen, seit über zwanzig Jahren …
Das war ein Vorgang, den man heute als Win-Win-Situation bezeichnen würde. Damals mussten feste Künstler-Anbindungen aus DDR-Zeiten aufgelöst werden, es gab rechtliche Trennungen zum Beispiel hinsichtlich eines Pianisten beim Orchester, des festangestellten Hausorganisten oder der Berliner Singakademie. Im Gegenzug, auch um das künstlerische Angebot des Hauses innerhalb der Berliner Konkurrenzen zu halten und zu heben, haben wir alles versucht, um bestimmte Ensembles, die uns schmücken konnten, durch Vorzugskonditionen fest an uns zu binden. Das betraf zum Beispiel die Akademie für alte Musik, die eine Heimstatt suchte, und eben auch das Vogler Quartett. Wir wussten ja, das Sie auch bei Ihren früheren Einzelkonzerten immer einen vollen Saal hatten, so dass wir sogar überlegten, den großen Saal zu nehmen, wäre er nur weniger pompös und etwas intimer gewesen. Sie haben später auch nach dem Vorbild des Berliner Modells eine Konzertreihe für Abonnenten in Neubrandenburg etabliert, die auch sehr gut funktioniert. Gibt es weitere Konstanten Ihrer Arbeit, wie vorhin erwähnt, vielleicht außerhalb Deutschlands?
FR: Wir werden später noch über einige Aspekte unserer pädagogischen Arbeit sprechen. Hier sei vor allem die Wigmore Hall in London erwähnt, ein Konzertsaal für Kammermusik, der 1901 durch die Berliner Klavierbauerfirma als Bechstein Hall eröffnet wurde und zu den akustisch vorzüglichsten Sälen der Welt zählt. Sie wurde auch eine Art Heimat, da wir dort in den neunziger Jahren, im Rahmen eines kleinen artist-in-residence-Programms, jährlich aufgetreten sind und immer sehr herzlich aufgenommen wurden. (siehe S. 364 f.) Die Programme waren thematisch konzipiert, so dass wir viele Werke hier zum ersten Mal spielten, wie beispielsweise das 3. Quartett von Arnold Schönberg. Es war oft anstrengend für uns, so viel Neues zu bringen, das dann nicht so recht repertoirefähig werden konnte, aber im Grunde fühlten wir uns glücklich, immer wieder an einen so illustren, geschichtsträchtigen Ort eingeladen zu werden.
SFO: Starke Verbindungen mit stetiger Wiederkehr haben wir in noch intensiverer Weise nach Irland geknüpft. Das erste Mal sind wir schon 1988 dort gewesen und haben dann wirklich jedes Jahr, teilweise auch zwei Mal pro Jahr, mit kleinen Tourneen in Dublin und anderen Städten gespielt.
FR: Es gab dort einen Impresario alter Schule, John Ruddock, ein großer Freund des Quartetts, der seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Musikleben in Irland bereichert hat. Dieses Land markiert eine wichtige Zeit in unserem Leben.
SFO: Es gibt noch viele weitere Orte, in denen wir mit gewisser Regelmäßigkeit konzertiert haben. Dazu gehören in Spanien Madrid und Bilbao, in Frankreich unsere fünf Mal wiederholte Präsenz beim provenzalischen Luberon Festival und vor allem Paris, wo wir an verschiedenen Plätzen, aber am meistens im Auditorium Louvre gespielt haben.
TV: Dabei wäre zu ergänzen, dass sich viele Konzerte in der langen Zeit unserer Arbeit aus persönlichen Kontakten ergeben, die man zu einem Veranstalter oder zu anderweitigen Förderern und Freunden des Quartetts geknüpft hat. Wenn der Kontakt dann abbricht – sei es durch Ortsveränderungen oder Todesfälle –, kann man natürlich versuchen, ihn mit den Nachfolgern fortzusetzen, doch in der Regel wollen sich neue Veranstalter von Vorgängern eher absetzen, und dann endet auch für uns die Verbindung. Die Karawane zieht weiter und geht eine neue Beziehung ein. Es findet sozusagen eine natürliche Fluktuation zwischen Stetigkeit und Wandel statt, eingeschlossen emotionale Reaktionen zwischen Trauer und Freude, denen man ausgesetzt ist.
Auch in der Kultur wirken ja Gesetze des Marktes, und einige davon liegen im ungeheuer schnellen Verschleiß des Bekannten, eingeschlossen die Gegentendenz: Wenige Berühmtheiten thronen scheinbar ewig in einer imaginären Walhalla der Anbetung, ganz gleich, ob sie das noch mit ihren Leistungen rechtfertigen oder nur einstigem Glanz verdanken. Die übergroße Mehrheit oft nicht minder begabter Künstler muss sich wirklich täglich bemühen, Leistungen mit meist extremistischen Attributen auf den Markt zu werfen, um beachtet und engagiert zu werden und damit der berühmten Hegel’schen »Furie des Verschwindens« in der Geschichte zu entgehen. In der Kunst ist der Hunger nach Frischfleisch, verbunden mit rascher Entsorgung älterer Ware, genauso verbreitet wie in vielen anderen Bereichen auch.
TV: Ja, unsere Zeit ist wirklich sehr kurzlebig, nach unserer Erfahrung am stärksten in Amerika. Wenn man dort nicht regelmäßig konzertiert und durch etwas ganz Besonderes auffällt, ist man vergessen. Auch bei uns verbreitet sich diese fatale Schnelllebigkeit mehr und mehr, und dadurch ist man, wenn keine Neuigkeiten kommen, kein sensationeller Ansatz im Verstehen und Spielen der Musik geboten wird, ganz schnell weg vom Fenster. Das ist eines der Probleme, mit denen wir als Quartett auch zu kämpfen haben.
Als was figurieren Sie, rechtlich gesehen, seit der Einheit?
TV: Wir sind seit der Wende eine GbR, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Neu daran war nicht nur, dass man zur Steuerzahlung veranlagt wurde, sondern sich auch wirtschaftlich versichern musste.
In der DDR musste man sich um Steuern überhaupt nicht kümmern, weil für jede Arbeitsleistung oder anderweitige Transaktionen pauschal und automatisch 20 % vom Staat einbehalten wurden.
TV: Diese Dinge, mit denen man sich nebenbei plötzlich beschäftigen musste, betrachtete man lustlos als notwendiges Übel, gerade wenn man intensivst musikalisch arbeitete. Aber zu ausgiebiger Beratung, die in unserem Falle optimal gewesen wäre, ist es gar nicht gekommen. Natürlich liefen auch uns Typen über den Weg, die Schiffsbeteiligungen oder Lebensversicherungen anpriesen, und zu letzterem haben sich drei von uns auch überreden lassen, bevor wir, all die Untiefen und Unredlichkeiten durchschauend, dem bedachtsamen Rat unseres klugen Cellos gefolgt und in die Künstlersozialkasse eingetreten sind.
SFO: Wir sind alle so veranlagt, dass wir diesen Realitätsbereich möglichst weit von uns entfernt halten. In finanziellen Angelegenheiten fehlte uns eigentlich jegliche Cleverness. Woher sollte sie auch kommen, wenn im Leben das Geld, das man ja hatte, so gut wie keine Rolle spielte!
Ist für Sie nach der Wende durch den nun völlig offenen Kunstmarkt eine veränderte Wettbewerbssituation, ein neues Klima der Konkurrenzen entstanden? Und wer waren eigentlich diejenigen Quartette, mit denen Sie neu zu tun hatten und verglichen wurden?
TV: Hier war in vieler Hinsicht die Situation undramatisch, denn das Neue bestand für uns teilweise auch aus dem Alten. Schon zu DDR-Zeiten gab es für uns den offenen Markt, und man kannte natürlich die Mitstreiter auf unserem Level. Wir hatten noch ziemlich lange diesen Ostbonus, der uns durchaus wohlwollend umgab und erst allmählich entschwand. Aus dem Osten gab es neben uns das Petersen Quartett, aus dem Westen gab es das Auryn Quartett, und das Artemis Quartett war stark im Kommen, die älteren Ensembles wie das Melos Quartett traten allmählich zurück, und so blieben als stärkste Kombattanten eigentlich nur das Emerson-, das Hagen- und aus der Schweiz das Carmina Quartett.
Wie hat die internationale professionelle Kritik reagiert, nachdem Sie kein ostdeutsches Quartett mehr, sondern einfach ein deutsches Quartett waren?
SFE: Wir haben immer überwiegend gute Kritiken bekommen, aber es kam natürlich auch einmal vor, dass wir an einem, wie man heute so gern sagt, suboptimalen Abend ein wenig schlapp spielten und dafür auch die kritische Quittung bekamen. Wirklich herbe, politisch motivierte Verrisse haben wir uns nur in den Staaten eingehandelt – und zwar vor allem, als es die Mauer noch gab. Einmal stand Bartóks zweites Quartett auf dem Programm und unser Spiel wurde mit einem computergesteuerten Truck verglichen, einem Riesenlastwagen mit »perfect German engineering«, aber eben ohne jedes Leben, ohne Emotion. Im zweiten Teil spielten wir dann noch, zusammen mit James Levine, Schumanns Klavierquintett, wozu der Kritiker bemerkte: »Langsam schmolzen die Eis-Barrieren dahin und es kam zu Momenten des richtigen Musikmachens, aber wenn sie zurück in Ostberlin sind, werden sie wahrscheinlich wieder in den Charme und die Wärme einer Panzerdivision verfallen.«
TV: Wir waren immer wieder in Amerika, zu Konzerten wie zu Kursen, beispielsweise 1990 zum »Ravinia Steans Institute für Young Artists«, einem der ältesten Sommer-Konservatorien in den USA, in der Nähe von Chicago, wo wir wieder für einen Monat auf Walter Levin (und das LaSalle Quartet) trafen. Auch lud uns James Levine als Leiter des Festivals, das gleichzeitig mit den Kursen veranstaltet wurde, im Jahr darauf zu Konzerten ein. Dass wir dort ganz wunderbar mit ihm, übrigens auch mit Lynn Harrell, musiziert haben, war etwas ganz Besonderes, denn wir waren die einzigen Studenten, die dafür ausgesucht wurden. Wir haben uns auch mit Walter Levin darüber ausgetauscht, wie wir es mit einer amerikanischen Agentur halten sollten, die uns kontaktiert hatte und die wir dringend benötigten. Sein Rat: »Also diese Manager, das sind alles Räuber. Lasst Euch auf nichts ein, was unter 8000 Dollar pro Konzert liegt«. Diesem Ratschlag haben wir als blauäugige Eleven im Geschäft zu folgen versucht. Aber obwohl wir dann mit verschiedenen Agenten in Levins Sinne hart verhandelt haben, landeten wir am Ende natürlich auf dem Boden der Tatsachen und haben lange gebraucht, ehe Gagenforderungen in dieser Höhe für uns realistisch wurden.
Cincinnati 1989, mit Phil Gottling und Henry Meyer (v. l. n. r.)