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Neue Bahnen (2000 – 2014)

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Das runde Jahr 2000 mag für eine Zäsur vielleicht formell tauglich sein, aber in konkret inhaltlicher Hinsicht ragt es keinesfalls aus der umgebenden Zeit heraus. Die heimischen wie auch die inhaltlichen Konzertverpflichtungen gingen ihren gewohnten Gang, und dennoch, scheint mir, zeichnen sich vor und nach der Jahrtausendwende einige Veränderungen ab, die für das Selbstverständnis des Vogler Quartetts von Belang waren. Es gab Überlegungen zu einer erweiterten Programmphilosophie und zu neuen Konzertformaten, vor allem jedoch galt es, zwischen Ihrer Spielpraxis und den Herausforderungen, denen Sie sich nun auf didaktischem und pädagogischem Gebiet kollektiv oder individuell gestellt haben, eine neue Balance zu finden.

TV: Ich glaube, dass wir den Jahrtausendwechsel trotz der allgemeinen Faszination durch die Magie der runden Zahl in nüchterner, pragmatischer Arbeit verbracht haben. In unserer Kindheit erschien dieses Datum so unendlich weit entfernt. Man fragte sich, wie wohl im Jahr 2000 die Autos aussehen und sich das Leben anfühlen würde, und hatte die Empfindung, in dieser utopischen Ferne mit 36 Jahren bereits ein uralter Mann zu sein. Ihre Bemerkung zu neuen Impulsen durch unsere anderweitigen Engagements ist sicher im Prinzip richtig, obwohl aber die Lehrtätigkeit schon früher eingesetzt hat.

SFO: Du meinst nicht die Lehraufträge, die wir an unserer Berliner Hochschule seit Beginn der neunziger Jahre wahrgenommen haben, sondern die Gastprofessuren, die ihr, Frank und du, ab 1996 für drei Jahre an der Musikhochschule in Detmold innehattet.

FR: Man wollte uns dort ursprünglich alle vier als »Quartet in Residence« haben, aber es waren dann nur zwei Stellen vakant, weil die beiden Geiger Christoph Poppen und Ulf Wallin nach Berlin gingen, Ersterer als Rektor unserer alten, sich gerade erneuernden Eisler-Hochschule am Gendarmenmarkt.

Zunächst wurde für uns Geiger eine Gastprofessur-Stelle geteilt. Die Absicht, das Quartett als Ganzes nach Detmold zu holen, ließ sich später aus verschiedenen Gründen nicht realisieren. Erst elf Jahre später, 2007, hat sich die interessante Idee einer Quartett-Professur verwirklichen lassen.

TV: Schon seit Mitte der neunziger Jahre bewegten wir im Kopf die Idee, irgendwo eine gemeinsame Anstellung zu finden, um pädagogisch zusammenarbeiten und uns natürlich auch finanziell absichern zu können, und begannen darauf hinzuarbeiten. So waren wir immer überzeugt von dem Modell eines »Quartet in Residence« an einer deutschen Musikhochschule, einem Modell, welches in den USA an vielen Universitäten wunderbar funktioniert, von uns selbst erlebt in Cincinnati. Ein Ensemble, das seine gebündelten Kräfte in eine Institution einbringt, kann als internationaler Magnet für die Außenwirkung einer Hochschule fungieren und gleichzeitig einen vielseitigen und wichtigen Beitrag zur künstlerischen Ausbildung der Studenten leisten. Unsere mehrjährige Residenz im irischen Sligo, über die wir noch sprechen werden, zielte in diese Richtung; wie froh waren wir aber erst, als das Angebot der Stuttgarter Musikhochschule kam, in der Nachfolge des Melos Quartetts eine gemeinsame Professur anzutreten.

Wir wurden auf vier halbe W3-Stellen berufen, befristet auf fünf Jahre. Bis fast zum Schluss glaubten wir, da uns dies am Anfang mehrfach ausdrücklich versichert wurde, dass sich die Stellen problemlos verlängern lassen würden. Als das wider Erwarten doch nicht selbstverständlich war und unsere Professuren nicht verlängert wurden, gerieten wir in eine schwierige, neu zu überdenkende Situation. Wir waren gezwungen, unsere über Jahre in Sligo und Stuttgart gewachsene Ensemblestruktur, bestehend aus einer gemeinsamen festen Bindung an eine Institution, die Hand in Hand mit unseren internationalen Konzertverpflichtungen einen sehr dichten Terminkalender bedingte, den Realitäten anzupassen, da Stefan als Einziger aus dem Quartett gebeten wurde, mit einer nunmehr ganzen Stelle in Stuttgart zu bleiben.

Wie es letztlich zu diesem doch traurigen Abschluss einer wunderbaren Initiative gekommen ist, kann man mittlerweile, im Nachhinein, wohl etwas klarer erkennen. Ich glaube, dass beide Seiten nicht genug Wert auf eine ganz eindeutige Interpretation unserer Arbeit in Stuttgart legten. Man kann ja manchmal eine gute Sache von Anfang an zerreden. Vielleicht haben wir, wie auch die Verantwortlichen von der Hochschule, diese Gefahr gespürt und wollten das Projekt, das viele Jahre lang geplant wurde, erst einmal sicher auf den Weg bringen. Wir persönlich gingen davon aus, dass wir, wie alles bis dahin, auch diese Aufgabe gut meistern würden, und übersahen, dass die Erwartungen an uns so beschaffen waren, dass wir diese, auch rückblickend, kaum besser hätten bewältigen können.

So bleibt die Erkenntnis, dass eine genaue Kommunikation wirklich existenziell sein kann, es bleibt der Rückblick auf eine schöne und reiche Zeit im gemeinsamen Quartettleben und bei dreien von uns auch eine Art Erleichterung, dass die nahezu wöchentlichen und meist mehrtägigen weiten Bahnreisen in oft vollen und verspäteten Zügen seit einiger Zeit der Vergangenheit angehören.

Lassen Sie mich noch nachfragen, wie sich der Unterricht konkret abgespielt hat.

SFE: Während das Melos Quartett wirklich gemeinsam Unterricht gab, haben wir die Ensembles – nicht nur Quartette, sondern auch die zahlenmäßig darunter oder darüber liegenden – im Wechsel einzeln, seltener (einmal auch) zu zweit und nur in Ausnahmefällen zu dritt oder zu viert unterrichtet. Der Zuspruch war enorm, im Nachhinein wird man wohl aber zugeben müssen, dass wir nicht alle unsere Wünsche bezüglich des Unterrichts optimal realisieren konnten – vor allem auch, weil die Anforderungen des jeweiligen instrumentalen Hauptfachs ein gleiches Engagement für unsere Absichten bei den Studenten erschwerten.

FR: Aber wir waren erfolgreich bei einem besonderen Konzertformat, das wir einmal pro Semester öffentlich realisierten – unseren Gesprächskonzerten.

In Erinnerung an eine Unternehmung Arnold Schönbergs in Wien im Jahre 1918, wo er dem Publikum 10 Proben seiner berühmten 1. Kammersymphonie gleichsam ohne Aufführung offerierte, um diese damals sehr neue und komplizierte Musik verständlich zu machen.

FR: Ja, aber unsere Gesprächskonzerte waren ursprünglich von Walter Levins Lecture Recitals inspiriert, die wir mit ihm als Redner zum Beispiel über Brahms op. 51/2, Beethovens »Große Fuge« oder die »Lyrische Suite« von Berg durchführten. Wir haben diese Idee modifiziert, indem wir neben den zentralen Werken unseres Repertoires Stücke aussuchten, die wir mit den Studenten erarbeitet hatten. Mit verbalen Erläuterungen und praktischen Klangbeispielen ließen wir die Musik nach und nach vor dem Publikum entstehen.

SFO: Die Gesprächskonzerte wurden vom öffentlichen Publikum sehr gut besucht, allerdings nur von wenigen Studenten, was letztlich schade war, denn sie hätten doch den spannenden Vorgang erleben können, wie man über teilweise gemeinsam erarbeitete Stücke jetzt vor Publikum immer noch einmal anders nachdenken und sie anders reflektieren kann.

Stephan, Sie waren, in den Stuttgarter Jahren durch Ihre Berliner Professur an der Eisler-Hochschule doppelt belastet. Gegenwärtig stellt sich die Situation weit entspannter dar: Mit Ausnahme von Tim Vogler hat jeder seine Einzelprofessur, aber auch er unterrichtet einmal im Monat in Dublin und managt ansonsten das Quartett in all seinen programmatischen, kommunikativen und geschäftlichen Facetten. Und damit kommen wir chronologisch zu einem Unternehmen der besonderen Art und der speziellen Freuden, das Ihnen besonders am Herzen liegt.

SFO: 1999 haben wir uns für eine Residence beworben, die vom irischen Arts Council in Sligo ausgeschrieben war. Sie beinhaltete in komplexer Weise die musikalische Arbeit mit Primary Schools und Secondary Schools (also hiesigen Gymnasien), schloss auch die Kooperation mit einer dort gegründeten Musikschule ein und sah die Etablierung einer Konzertreihe sowie eines neu zu gründenden Festivals vor.

FR: Die Idee haben wir eigentlich mit den Iren zusammen erst entwickelt, denn außer ein paar thematischen Stichpunkten, die sie gerne realisieren wollten, gab es anfangs nur vage Vorstellungen. Ich bekam einen Brief von einem Herrn John O’Kane, der sich an uns wendete, weil wir in Irland relativ viel gespielt hatten und uns in der europäischen Musikwelt gut auskannten. Er fragte, ob wir ein jüngeres Ensemble wüssten, gerade fertig mit dem Studium, das Interesse an einer Residency hätte – über eine längere Zeit mit einem festen und regelmäßigen Jahreseinkommen. Wir fanden das, nach einigem Überlegen, ziemlich passend für uns und recht verlockend, mit Familie dort drei Jahre zu leben. So kam es, dass wir uns den Ort an der Westküste Irlands, am Atlantik, ansahen und entzückt waren von der Attraktivität und Schönheit der Landschaft. Man war vor Ort völlig überrascht, dass wir selbst einsteigen wollten. Nach einem Vorstellungskonzert für Kinder, welches von einer Wettbewerbs-Jury beurteilt und für gut befunden wurde, führten die Gespräche rasch zur Konkretisierung der Pläne und zur Einigung, allerdings in der Form, dass wir aus privaten Gründen auf einen Komplettumzug verzichteten und für mehrere Jahre ambulant eine Woche pro Monat ohne Familie dort arbeiten würden.

TV: Der idealistische Kern war die Musikalisierung einer Stadt, einer Landschaft, das Gestalten des Musiklebens einer Community durch verschiedene Projekte, die gebündelt werden und, wenn man so will, sich wechselseitig ergänzen und erhellen sollten. Es war gedacht und wurde auch realisiert als eine Rundumzündung in diesem abgelegenen Landteil, in dem vor allem die traditionelle irische Musik eine große Rolle spielt. Die Formen, die wir dafür entwickelt haben, sind lebendig geblieben und existieren auch heute noch – trotz der zeitweilig schweren Finanzkrisen, die auch Irland in den Jahren der Eurokrise an den Rand des Abgrunds getrieben haben. Dadurch wurden wir letztlich ermutigt, diese Art von Musikvermittlung ganz zu unserer Sache zu machen und auch andernorts zu praktizieren, wenn sich dafür die Voraussetzungen ergeben und andere Wünsche uns erreichen – wie beispielsweise bei den Nordhessischen Kindermusiktagen seit 2005 oder der Konzertreihe für Kinder im Berliner Otto-Braun-Saal seit 2007. Wir haben uns damals zu eigen gemacht: Publikum auf Dauer hat auch immer mit Jugend, mit Erneuerung zu tun. Man kann nicht stets nur für die ewig gleichen, alternden Weißschöpfe spielen, sondern muss sich um den Nachwuchs kümmern und dessen Herzen und Hirne für die Musik, die großen Leistungen der europäischen Kunstmusik in Geschichte und Gegenwart, zu öffnen versuchen. Daher bilden in der formellen Vielfalt der Aktivitäten die schulischen Workshops einerseits und die konzertanten Darbietungen durch das Quartett andererseits die Eckpfeiler unseres Konzepts.

SFO: Wichtig an unserer Arbeit war auch die positive Erfahrung, dass Kinder ganz unverstellt auf unsere Angebote reagieren und spontan und direkt äußern, was ihnen gefällt oder nicht, was sie interessiert oder eben nicht. Ein Konzert für Kinder zu spielen und mit ihnen darüber zu sprechen kann weit aufschlussreicher und für uns lehrreicher sein als ganze Kompendien der Musikwissenschaft oder Musikdidaktik.

Ich nehme an, wenn Sie solche Konzerte veranstalten, geschieht dies unter Vermeidung sogenannter kindlicher Musik, dezidiert leicht spiel- und auffassbarer Stücke. Sie bieten sicher Musik aus Ihrem normalen Repertoire, aus Klassik, Romantik und Moderne?

FR: In Sligo haben wir normale Literatur dargeboten, bei der wir unsere Befähigung zur Vermittlung von Musik in physischer, psychischer und gedanklicher Form unter Beweis zu stellen hatten. Wir spielten zum Beispiel Teile aus Ligetis 2. Streichquartett oder das Menuett aus Haydns Quartett op. 76/1. Das Menuett, eigentlich ein Scherzo (die Tempobezeichnung ist Presto), fängt sehr leise an und am Ende des ersten Teils gibt es als Überraschung ein subito fortissimo. Und im Gegensatz zu jedem anderen Publikum, vor dem wir dieses präsentierten, brachen die Kinder in lautes Lachen aus. Es war wirklich ein freudiges, überraschtes und ganz spontanes Gelächter – was eigentlich bewegend ist, denn es signalisiert ein besseres Verständnis als bei manch tausendköpfigem Auditorium, wo sonst kaum jemand heute aus falschem Respekt zu lachen wagt.

SFO: Zum Beispiel haben wir auch den Pizzicato-Satz aus dem 4. Streichquartett von Bartók in Workshops an mehreren Schulen gespielt. Die Kinder hatten die Aufgabe, sich zur Musik kleine theatralische Situationen oder Szenen auszudenken. Eine Schule hatte lauter Fische ausgeschnitten und auf Stäbe montiert, um sie gleichsam im Meer schwimmen zu lassen. Mit dem ersten Bartók-Pizzicato, einer Technik, bei der die Saite geräuschvoll auf das Griffbrett aufschlägt, kam ein Hai ins Bild, der in plötzlich unruhiger Szene die anderen Fische jagt. Ich fand dies eine sehr adäquate Umsetzung der Musik, und wir freuten uns riesig an der Phantasie der Kinder. Und natürlich ergab die Visualisierung in einer anderen Schule ganz andere Resultate, worüber wir dann mit unseren Zuhörern ebenfalls reden konnten.

TV: Wir haben uns, davon ausgehend, zum Gesetz unserer täglichen Arbeit gemacht, sich bei einem Musikstück nicht nur um Formen, Techniken und Spielanweisungen zu kümmern, sondern dessen grundlegende inhaltliche Idee zu erkennen, in möglichst leicht verständliche Worte zu fassen und dann klanglich adäquat umzusetzen. Es geschah oft, dass durch die bildhaften Umsetzungen der Kinder wir selbst zu neuen Einsichten in die Stücke kamen, sie viel fasslicher fanden als zuvor und emotional tiefer ankern konnten, als wenn man sie nur als absolute Musik sieht.

2002 haben Sie ein weiteres Spielbein nach Homburg im Saarland gesetzt, um dort bei den sommerlichen Kammermusiktagen zunächst mitzuwirken und sie später künstlerisch zu leiten.

SFE: Es begann mit einer Einladung für mich persönlich durch den damaligen künstlerischen Leiter, den Cellisten Claus Kanngiesser. Die Kammermusiktage Homburg fanden damals alle zwei Jahre statt, waren ehrgeizig konzipiert und hatten einen guten Ruf in Verbindung mit dem gemütlichen Städtchen, in welchem man gut essen kann, wo aber ansonsten wenig passiert. Solche überschaubaren Rahmenbedingungen sind mir immer sympathisch, und da ich Kanngiesser durch die Sommerlichen Musiktage in Hitzacker kannte, die er ebenfalls leitete, habe ich gern zugesagt und war von der lockereren Atmosphäre, der persönlichen Betreuung, aber natürlich auch von dem Konzept mit gewissen experimentellen Zügen sehr angetan.

FR: Einerseits mischte man Werke unbekannter Komponisten mit denen von Großmeistern der Tradition, andererseits sollten sich hier hochkarätige Solisten treffen können, zusammen ein Kammermusikwerk konzertreif proben und aufführen, im Schnitt alle zwei Tage ein anderes. Zu den Proben war Publikum zugelassen, und obwohl das Ganze zunächst ein Vergnügen für die Musiker sein sollte, quittierte das Publikum die Resultate mit kaum weniger guter Laune.

SFE: Zwei Jahre nach mir kam Frank dazu und nach weiteren zwei Jahren waren wir alle vier präsent, mit einem der beiden Streichquartette von Max Bruch. Erst als es dann in der künstlerischen Leitung des Festivals kriselte, nicht zuletzt wegen Spannungen mit den örtlichen Organisatoren, sind wir sehr schnell gefragt worden, ob wir die Leitung übernehmen wollten.

TV: Was auch deshalb interessant für uns war, weil wir damit das Quartett dort fest verankern und die künstlerische Planung samt Gäste-Politik rund um unsere Präsenz gleichsam als Fokus der Kammermusiktage konzipieren konnten. Wir haben sie im Übrigen auf eine Woche konzentriert und auf einen jährlichen Turnus umgestellt. Und natürlich bereichert es uns künstlerisch, wenn wir in offenen Kombinationen fast jeden Abend außerhalb der Quartettnormalität mit anderen Musikern Duos, Trios und so weiter bis Septett oder Oktett, mit oder ohne Klavier und auch in heterogen besetzten Quartetten spielen können. Diese Vielfalt kombinieren wir dann noch einmal mit vokalen und instrumental-solistischen Angeboten. Bei den Gästen bedarf es eines besonderen Fingerspitzengefühls, denn nicht jeder kann oder will mit jedem, und zwei Spitzensolisten produzieren nicht automatisch kammermusikalische Höchstleistungen. Meistens hatten wir bisher bei Auswahl und Zusammenstellung der Künstler eine glückliche Hand, aber es hat selbstverständlich auch schon dramatische Kräche gegeben, wo dann unsere Vermittlungskunst gefragt war. Das Kennenlernen neuer Künstler, mit denen sich durchaus manchmal echte Freundschaften herausbilden, bringt eine Fülle von Anregungen auch für unsere regulären Quartett-Programme, für die wir uns gern Gäste einladen, um die Monochromie unseres vierstimmigen Satzes durch andere, auch kontrastierende Farben zu bereichern.

Es gibt mittlerweile rund um die Welt gerade zur Sommerzeit, wenn die etablierten, aus der öffentlichen Hand subventionierten Institutionen aus Urlaubsgründen geschlossen sind, eine kaum noch überschaubare Zahl kleiner bis mittlerer Festivals. Man versteht, auch Musiker fürchten den horror vacui, und viele Kommunen unterstützen solche Projekte, weil sie die touristische Attraktivität der Stadt oder der Gegend fördern können. Es muss aber, denke ich, bei all diesen Fällen auch Alleinstellungsmerkmale geben, damit das funktioniert. Worin also unterscheiden Sie sich beispielsweise von einem ähnlichen Festival wie Lockenhaus, das durch Gidon Kremer und seine Kremerata Baltica besonders bekannt geworden ist?

TV: Nach Lockenhaus kommen vorzugsweise Einzelmusiker, mit Gidon Kremer oder jetzt mit seinem Nachfolger Nicolas Altstaedt befreundete, namhafte Solisten, die einfach miteinander musizieren. Bei uns steht das Quartett-Ensemble mit seinem Repertoire im Zentrum, um welches sich die anderen Gastmusiker scharen. Es kommt hinzu, dass durch die Dichte des Programms im Rahmen einer Woche die Probenzeit begrenzt ist und dadurch eine durchaus charmante Ungewissheit, ein sozusagen schöpferisches Restrisiko für das Erlebnis des Publikums bleibt, abhängig davon, in welchem Grad der Vervollkommnung, besser der Vollkommenheit, eine Interpretation gelingt. Beim Festival in Sligo haben wir übrigens eine ganz ähnliche Situation.

Programm, Auswahl der Musiker, organisatorische Vorbereitung und vieles andere: Entscheiden und betreiben Sie das alles wirklich gemeinsam oder gibt es da auch Aufgabenteilungen und wechselnde Verantwortlichkeiten?

FR: Wir sind keine professionellen Organisatoren, und sowohl in Sligo wie in Homburg gibt es hilfreiche Hände vor Ort. Aber in der künstlerischen Leitung stehen wir mit unseren Namen offiziell in einer gemeinsamen Verantwortung, obwohl es sich in der Praxis einmal mehr und das andere Mal um Kollektivität handelt.

TV: In Sligo war in den letzten Jahren bis 2013 Frank für das Programm verantwortlich und entsprechend wurde das auch vermerkt. In Homburg hat es in der Vergangenheit oft auch Frank gemacht, oder wir beide zusammen, dann allerdings stets unter dem Namen des Quartetts. Für das Jahr 2014 und die nächste Zeit habe ich die Gestaltung der Programme beider Festivals übernommen.

FR: Programme entwickeln macht Spaß, ist aber auch eine Arbeit, die einen ziemlich fordert. So eine Kammermusikwoche ist eigentlich kein wirklich großes Unternehmen, eher ein kleines. Aber man denkt für das kommende Jahr lange voraus, überlegt Programme und Künstler, die man einladen will, und hat man sie eingeladen, muss man hinterher sein, ehe sie auf die Frage antworten, welche Musik sie anzubieten haben und tausend andere Dinge.

TV: Und immer ist die wirtschaftliche Seite mit zu bedenken. Ob bei solchen Festivals oder bei der Planung unserer Reihe im Berliner Konzerthaus – beides lebt davon, dass die eingeladenen Künstler in erster Linie aus künstlerischen und menschlichen Gründen innerlich dazu bereit sind. Sie werden selbstverständlich dafür bezahlt, aber – sagen wir mal so – nicht gerade fürstlich. Viele Künstler, und auch wirklich erstrangige, verstehen oftmals die finanziellen Rahmenbedingungen sehr gut und sind bereit, uns große Zugeständnisse zu machen – etwa die Reisekosten vom Honorar zu bestreiten. Manchmal wird die Freude über eine persönliche Zusage getrübt, wenn sich ein Management meldet und versucht, das mit dem Künstler Vereinbarte in Frage zu stellen und neu zu verhandeln. Andere vergessen oder ändern die Programme, die man vereinbart hat. Wieder andere protestieren, obwohl die Möglichkeit eines Radiomitschnitts kommuniziert war, wenn sie vor dem Mikrofon stehen und plötzlich der Meinung sind, dass so etwas nicht geht … Man erlebt die verrücktesten Dinge, auch weil ja immer irgendetwas geschieht. Und man lernt auch dazu. Soll diese Art Stress im Übrigen nicht die Gesundheit fördern?

Kommt es denn bei Ihnen niemals vor, dass angesichts so gehäufter Arbeit und solch dauerhafter Anstrengung, die verschiedenen Bereiche Ihrer diversen Tätigkeiten zu koordinieren und unter Strom zu halten, sich einmal ein Gefühl des Überdrusses, der Erschöpfung einstellt? Oder gibt es auch schon mal das Gefühl, einfach aufzuhören und etwas ganz anderes zu machen?

FR: Nicht wirklich, glaube ich. Aber es kann hin und wieder im Innern kriseln, wenn man sich nach einer Probe einmal ungerecht behandelt fühlt und dann danach fragt, warum man sich das gefallen lassen muss, warum man dies alles noch macht! Es ist ein allzu menschliches Gefühl, wie es jeder mehr oder weniger kennt. Der Gedanke an einen kompletten Ausstieg, an komplette Alternativen, ist mir aber nie gekommen.

SFE: Das ist auch bei mir nicht anders.

SFO: Doch, ich hatte einmal – das liegt lange zurück – eine richtige, ernsthafte Cello-Krise. Das war sicher auch eine menschliche Krise, bei der ich mich damals tatsächlich gefragt habe, ob Musiker-Sein, Cellospielen noch weiter mein Beruf sein soll und während der ich mich von Konzert zu Konzert gequält habe. Es begann mit dem Tod meiner Mutter und dauerte längere Zeit. Aber mit Unterstützung der Kollegen und Arbeit an mir selbst bin ich darüber hinweggekommen.

TV: Ich kann mich sehr gut an selbstkritische Zweifel erinnern. Als Jüngster im Quartett habe ich mich nach dem Studium, trotz sehr gut bestandenem Diplom, als Geiger einfach unfertig gefühlt. Ich war durch den unerwarteten Erfolg unserer Quartettarbeit so absorbiert, dass ich das Pensum für den Abschluss zwar pflichtgemäß erledigte, aber mein instrumentales Training nicht bis zur solistischen Reife führte. Es gab dann Phasen, wo ich Probleme mit der körperlichen Organisation meines Spiels bekam und spürte, dass ich nicht locker genug war, um den Anforderungen des Primparts optimal gerecht zu werden. Denn dieser Part, obwohl von der kammermusikalischen Idee her primus inter pares, ist durchaus auf Hochseiltanzrisiko ausgelegt, verlangt über weite Strecken solistische Qualitäten, größte Virtuosität. Da darf man sich körperlich einfach nicht verfestigen. Ich habe einmal Arnold Steinhardt, den Primarius des Guarneri Quartets, gefragt: »Kennen Sie auch diese Momente, bei denen man das Gefühl hat, dass man gar nicht mehr richtig spielen kann?« Er: »Oh, I know it«. Ich: »Was machen Sie dann?« Er: »Ein bisschen weinen – und ein heißes Bad.«

War es ein brauchbarer Ratschlag?

TV: Es war wichtig zu wissen, dass hinter der Kulisse großen Glanzes – ich habe es Steinhardts Augen angesehen – auch nicht alles ganz unproblematisch abgeht. Es gibt einem etwas Mut, sich selbst besser zu verstehen: Wenn man mit einem Instrument wie der Geige von Kind an aufwächst und dann das ganze Leben mit ihr verbringt, gibt es auch Zeiten, in denen man mit dem Instrument hadert und ringt. In einem Quartett kann es sein, dass eine Zeitlang der 1. Geiger mit sich und der Geige kämpft, ein anderes Mal hat vielleicht der Cellist Probleme, und plötzlich erwischt es den 2. Geiger mit einem Bogenzittern. Das Gute in einem Streichquartett und letztlich in jedem Ensemble ist, dass man trotzdem weitermachen kann, denn man ist nicht allein und kann sich gegenseitig auffangen und abfedern. Doch man kann davon ausgehen, dass es in der Regel meist nie allen vieren gleich gut oder gleich schlecht geht.

SFE: Im Team kann man sich gegenseitig helfen, das ist wirklich unbezahlbar; würden Vertrauen und Hilfsbereitschaft untereinander nicht da sein, könnte man daran zerbrechen. Aber bei jedem liegen die Dinge anders, ein solches spielerisches Unbehagen kann unterschiedliche Ursachen haben – physiologische, psychologische und mentale. Auch ich hatte vor langer Zeit zwei bis drei Jahre lang das enervierende Gefühl eines Defizits im spieltechnischen Vermögen, und offenbar hängt dies mit körperlichen Veränderungen zusammen, die sich im Alter zwischen 35 und 40 Jahren zeigen können. Als junger Mann weiß man von solchen Dingen noch gar nichts, und meist klären sie sich auch erst in der Rückschau, wenn man sie bewältigt hat.

Auf jeden Fall sind es wohl Probleme im Bereich »Mensch-Maschine«, die aus den Anforderungen des Metiers hervorgehen, und viel weniger solche, die einen privat-persönlichen, beziehungskritischen oder anderweitig familiären Hintergrund haben – was ja auch denkbar wäre.

SFO: In der Tat, auch das gibt es, nur ist es dann keine direkte und alleinige Auseinandersetzung mit dem Instrument. 2002 war eine Australien-Tournee geplant, doch als der Termin näher rückte, erkrankte meine Frau schwer und musste wochenlang im Krankenhaus liegen. Ich hatte beide Kinder bereits auf kürzere Konzertreisen mitgenommen, aber an eine lange Australien-Tournee war in dieser Situation nicht zu denken. Um die Familie nicht zu zerreißen, musste ich absagen und das Quartett mit der tabubrechenden Tatsache konfrontieren, dass es zum ersten Mal in seiner Geschichte die Reise mit einem fremden Cellisten unternehmen müsste.

TV: Es ging dann alles in allem gut aus, der neue, ebenfalls sehr gute Cellist hat sich professionell der Situation gestellt, und doch war aus meiner Sicht nicht die gleiche Intensität des Spiels zu erreichen, als wäre Stephan bei uns gewesen. Witzig ist, dass die Unternehmung, teilweise vom Goethe-Institut veranstaltet, unter dem Werbe-Slogan einer »Precision-Tour« des Vogler Quartetts lief – im Glauben, dass alles, was aus Deutschland kommt, auf Präzision beruht, vom Mercedes bis zum Streichquartett. Und dieser Titel gerade für unsere Tournee, die wir mit einem Ersatzcellisten bestritten!

FR: Wenn Stephan von Tabubruch spricht, dann war es jedoch vielleicht auch lehrreich. Man muss sehr aufpassen, dass trotz der unleugbaren Priorität des Quartetts die anderen Beziehungen in unserem Leben nicht verkümmern. Ich bin in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind, denn mir ist eine Ehe zerbrochen – nicht unbedingt am Quartett, doch auch teilweise an der Tatsache, dass man nie da ist, zu wenig Zeit hat für Menschen, denen man eigentlich am nächsten sein sollte. In vielen Fällen, in denen eigentlich Familienangelegenheiten Vorrang haben müssten, verwies ich mit durchaus arroganter und egoistischer Attitüde, aus einem seltsamen Gruppenzwang heraus, auf die Prioritäten der Profession: Wenn Konzert ist, fällt die Feier aus. Heute würde ich solche Alternativen anders behandeln, den Einzelfall ernsthaft abwägen, aber wohl kaum gegen die Interessen der Familie ausspielen.

Würde es die Lage gegebenenfalls denn nicht entspannen, wenn Sie die Frauen und Kinder zu Ihren Konzerten einfach mitnehmen – denn ein finanzielles Problem würden Sie ja damit kaum haben.

TV: Für das Quartett ist das kein Problem. Wir haben in früheren Jahren die Frauen gar nicht so selten mitgenommen, besonders bei kleineren Tourneen von etwa einer Woche. Aber auch das ist nicht ganz einfach, weil meist der quartettspielende Mann im Vordergrund steht und die Frau sich leicht als ein gewisses Anhängsel fühlen kann. Ich habe dieses Gefühl, eine Art anonymes Anhängsel zu sein, selbst auch schon gehabt und kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass man davon nur eine gewisse Dosis verträgt. Es ist wie Klassentreffen mit Partner, das geht irgendwie nicht.

FR: Es kommt noch hinzu, dass man sich als Musiker generell um die eigene Person kümmern muss: Üben, der nötige Schlaf, die erforderliche Fitness. Da bleibt eben auch für die Bedürfnisse des Partners, Sightseeing, Shopping et cetera, zu wenig Zeit. Ein Konzerttag ist für uns sehr durchstrukturiert, und deshalb kann zusätzliche Zweisamkeit überaus anstrengend, ja entnervend sein, wenn man sich nicht von vornherein über die unvermeidliche Rollenverteilung einig werden kann.

SFE: Konflikte lassen sich da nie ganz vermeiden, allein schon wegen der Fülle der Konzerttermine, von den ebenfalls zeitraubenden Professuren gar nicht zu sprechen! Immerhin haben wir über die Jahrzehnte pro Jahr durchschnittlich 80 bis 90, im Extremfall auch bis zu mehr als 100 Konzerte absolviert. Und es darf nicht vergessen werden, dass die Beanspruchung in punkto Schwierigkeit, Konzentrationsfähigkeit und Reaktionsvermögen ähnlich hoch ist wie bei einem großen Solokonzert, beim Primarius ohnehin, aber auch bei den anderen Spielern. Die Belastung ist sogar noch viel größer, denn ein Solist ist nach 30 bis 40 Minuten fertig und vom Podium weg, auf dem wir mindestens zwei Stunden verbringen und wenigstens drei Stücke spielen müssen.

TV: Und man sitzt und sitzt und sitzt …

SFE: Ja, das viele Sitzen ist schon ein Problem.

TV: Heute gibt es auch Quartette, die im Stehen spielen. Eigentlich eine mutige Entscheidung und gut nachvollziehbar, aber auch eine entlastende Alternative zum ewigen Sitzen von morgens bis nachts. Man sitzt im Flugzeug, im Auto, beim Essen, im Hotelzimmer, bei der Probe vor dem Konzert, beim Nachtmahl danach. Diese körperliche Einseitigkeit fördert nicht unbedingt die dann entscheidende physische Präsenz beim Hervorbringen der Töne mit einem Höchstmaß an Balance, Beweglichkeit und Koordination.

Sie aber sitzen, denke ich, auch weiterhin, und zwar hoffentlich auf stabilen, standfesten Stühlen, die sie beruhigt in die Zukunft blicken lassen.

FR: Keiner von uns ist ein Hellseher, aber wir befinden uns derzeit in einer sehr guten Situation. Sie hat sich gegenüber der Ausgangslage vor 30 Jahren vor allem durch unsere Lehrtätigkeit stark verändert. Mit der wirtschaftlichen Seite können wir mehr als zufrieden sein. Drei von uns müssen aufgrund der Professuren von der Konzerttätigkeit nicht wirklich leben. Das gibt uns viel Freiheit für programmatische Überlegungen und für unsere weiteren Ziele. Tim unterrichtet in der letzten Zeit nicht so viel, dafür organisiert er vorzüglich das künstlerische, logistische und ökonomische Management. Früher habe ich mich um die Programmarbeit und die Management-Kommunikation gekümmert, aber die Aufgaben verteilten sich fast paritätisch zwischen mir, Tim und Stefan. Die Leitung lag in meiner Hand.

TV: Nach dem Ende der Kollektiv-Professur in Stuttgart – wie gesagt, für uns eine kritische Situation – habe ich mich auch zunächst für einige Professuren beworben, war damit aber erst einmal nicht erfolgreich. Gleichzeitig wurde mir klar, dass im Falle des Erfolgs eine wirklich ernsthafte Krise für das Quartett entstehen könnte, weil bei vier Lehrverhältnissen ein Leben, wie wir es derzeit führen, einfach nicht mehr denkbar wäre. Der Organisationsaufwand ist enorm hoch und erreicht nicht selten die Grenze der Zumutbarkeit.

SFE: Er macht aber einen tollen Job, was wir alle sehr zu schätzen wissen. Ich glaube, manchmal bedauert Tim, dass wir aufgrund der pädagogischen Nebenbelastungen weniger Zeit für Proben haben, allerdings hat sich ja auch die gesamte Logistik im Hinblick auf unser Zeitmanagement geändert.

FR: Ich bin nicht wie Tim, der nächtelang Partituren studiert und das Stück bei den Proben voll im Kopf hat. Mich inspiriert das Unterrichten, das Arbeiten mit den Studenten, das zum Teil ganz andersartige Zugänge zur Musik eröffnet als diejenigen, die ich allein mit dem Quartett erschließen kann. Von daher kommen auch neue Impulse für unser Musizieren, obwohl natürlich die feste Basis und der Zusammenhalt, den wir mit Tim haben, unentbehrlich ist.

TV: Früher war es so, dass wir das meiste aus uns selbst geschöpft haben. Heute hat jeder sein zweites Aufgabenfeld. Wir treffen uns und jeder bringt von seiner Arbeit frische Anregungen mit. Da wir uns gut verstehen, ist dies für die gemeinsame Arbeit sehr befruchtend.

SFO: Ich glaube, im Moment ist mehr Individualität gefordert und gewünscht, und sie wird auch genutzt. Die Balance stimmt.


Berlin 2013, mit Ute Lemper und Stefan Malzew

Eine Welt auf sechzehn Saiten

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