Читать книгу Andi und die Außerirdischen - Frank Springer - Страница 5
2. Das erste Abenteuer
ОглавлениеAls Andi und Ferdi an den kleinen Fußballplatz zurückkehrten, waren Otto und Karl noch nicht da. Die beiden Jungen setzten sich ins Gras und schwiegen. Andi war wütend und enttäuscht. Heute sollte sein besonderer Tag werden. Er wollte Ferdi stolz die Siedlung zeigen und ihm damit imponieren. Stattdessen wurde er zuerst von einer halben Portion zu Boden geworfen und anschließend von einem Mädchen im Fußball besiegt. Immerhin war Andi froh, dass er zumindest zwei weitere Kinder gefunden hatte, die ebenfalls nicht verreist waren. Er freute sich darauf, dass er mit den beiden etwas unternehmen konnte, auch wenn das eine davon nur ein Mädchen war. Ferdi war ebenso enttäuscht. Innerhalb eines halben Tages hatte er alles gesehen, was seine neue Ferienumgebung zu bieten hatte und das war kaum interessant für ihn. Ihm bot sich die Aussicht auf langweilige Sommerferien.
Zehn Minuten später kamen Otto und Karl fast gleichzeitig.
„Was guckt ihr so traurig? Trauert ihr dem verlorenen Fußballspiel nach?“, platzte Otto heraus.
„Nein, das ist es nicht“, meldete sich Ferdi zu Wort. „Ich habe heute Vormittag die ganze Siedlung gesehen. Hier ist nichts los. Hier kann man nichts machen, außer sich im Fußballtor zusammenschießen lassen. So habe ich mir meine Sommerferien nicht vorgestellt. Hier ist es noch langweiliger als bei mir zu Hause.“
„Das stimmt nicht. Du solltest mal erleben, was hier los ist, wenn keiner verreist ist“, erwiderte Karl.
„Das mag ja sein, aber ich bin in den Ferien hier. Ich möchte jetzt etwas erleben“, antwortete Ferdi genervt.
Otto machte ein geheimnisvolles Gesicht und sprach mit gedämpfter Stimme: „Eine Sache gibt es noch, die du nicht kennst. Dort ist es wirklich sehr spannend.“
Andi wusste sofort, was Otto meinte und unterbrach sie empört: „Hör auf, sei still! Das kommt nicht in Frage. Dort gehen wir auf keinen Fall hin. Du weißt doch, dass das verboten ist.“
Jetzt war Ferdi hellwach. Bisher hatte er sich zurückhaltend und passiv verhalten, aber nun war seine Neugier geweckt. Wenn Ferdi eines hasste, dann war es, dass anderen etwas wussten, was er selbst nicht kannte. Er bohrte nach und fragte, was Otto gemeint hatte. Andi war überzeugt, dass der geheime Ort Ferdi mehr als interessieren würde und dass er ihn damit schwer beeindrucken könnte. Ebenso kannte er das strikte Verbot und hatte Angst vor der Strafe, falls sie dort erwischt werden. Daher sagte er zunächst nichts. Er unterschätzte jedoch Ferdis Hartnäckigkeit. Ferdi brauchte zwar eine gewisse Zeit, um in Gang zu kommen, aber wenn er in Schwung war, dann konnte ihn nichts bremsen.
Als Ferdi ihn immer stärker bedrängte, gab er nach und sprach: „Also gut, aber du musst versprechen, dass du niemandem davon erzählst.“
„Klar, selbstverständlich. Ich sage kein Sterbenswörtchen“, bestätigte Ferdi.
Andi schwieg zunächst und wartete, bis alle gespannt zuhörten.
Dann begann er leise: „Hier in der Nähe befindet sich einen Schrottplatz, auf dem alte Autos ausgeschlachtet und anschließend gepresst werden. Dort gibt es viele ungewöhnliche und spannende Dinge. Es ist jedoch bei Strafe verboten, den Platz zu betreten. Außerdem ist es dort gefährlich. Daher werden wir nicht dorthin gehen.“
Das war ein Volltreffer. Ferdi war augenblicklich davon begeistert und wollte unbedingt an den Ort, an dem es so viele technische und interessante Sachen zu sehen gab. Voller Erwartung hüpfte er wie ein Gummiball von einem Bein auf das andere.
„Heute ist Samstag. Da wird dort nicht gearbeitet. Keiner ist da, der uns entdecken könnte“, bemerkte Karl.
Nun gab es kein Halten mehr. Ferdi bekniete Andi so lange, bis er endlich einlenkte. Andi fragte Otto und Karl, ob sie mitkommen wollten. Die beiden waren sofort einverstanden.
Andi ermahnte eindringlich die drei: „Aber damit es von vorneherein allen klar ist, kein Wort zu niemandem, sonst bekommen wir echten Ärger. Als ich das letzte Mal dort erwischt worden bin, wurde ich von der Polizei nach Hause gebracht. Meine Eltern mussten Strafe an den Besitzer vom Schrottplatz zahlen und ich bekam drei Wochen Hausarrest mit Fernsehverbot.“
Die vier schworen sich gegenseitig, nichts zu sagen.
Alle Kinder aus der Siedlung kannten den Schrottplatz und sie waren mindestens einmal dort gewesen, obwohl sie wussten, dass es verboten war, ihn zu betreten. Trotzdem zog es sie immer wieder dorthin. Ihren Eltern war bewusst, welche magische Anziehungskraft dieser Ort auf ihre Sprösslinge ausübte. Daher achteten sie besonders streng auf die Einhaltung des Verbotes. Der Besitzer verstand keinerlei Spaß und zeigte jeden bei der Polizei an, den er ertappte. Das bedeutete zusätzlichen Ärger. Aus diesem Grunde war besondere Vorsicht geboten, wenn sie sich über das Verbot hinwegsetzen wollten.
Die vier Kinder fuhren los. Ihr Weg führte sie aus der Siedlung heraus. Sie mussten kräftig in die Pedale treten, da die Straße zum Schrottplatz leicht anstieg. Zusätzlich brachte die Nachmittagshitze die vier ins Schwitzen. Ferdi schnaufte wie eine alte Lokomotive, als er sich mit dem Fahrrad die Steigung hinaufkämpfte. Die Aussicht auf den interessanten Ort beflügelte ihn jedoch und ließ ihn seine Anstrengungen nicht spüren. Nach einer Viertelstunde erreichten sie den Schrottplatz. Er war von einem hohen Bretterzaun umgeben. Zur Straße hatte er eine Einfahrt mit einem großen Gittertor davor. An dem Tor hing ein Schild mit der Aufschrift: „Unbefugten Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder.“ Ein einsamer, angeketteter Hund bewachte die Zufahrt. Sonst war niemand zu sehen.
„Hier geht es für uns nicht rein, wegen des Wachhundes“, stellte Andi fest.
Er fuhr mit den anderen zu einem Feldweg, der seitlich am Schrottplatz von der Straße abzweigte. Der Weg führte entlang des Bretterzaunes. Am hinteren Ende des Geländes hielten sie an und versteckten ihre Fahrräder im Gebüsch. Dann führte Andi sie zu einer Stelle, die er kannte. Hier war zwischen Zaun und Erdboden ein größerer Spalt, durch den sie sich hindurch zwängen konnten. Ferdi benötigte dabei die Hilfe der drei anderen, da die Lücke zu eng für ihn war und er darin stecken blieb. Mit vereinten Kräften gelangte auch er auf die andere Seite. Durch den hohen Bretterzaun waren sie vor Blicken geschützt, sodass sie keiner von außerhalb des Geländes sehen konnte. Daher konnten sie sich auf dem Schrottplatz unbeobachtet bewegen.
Andi führte Ferdi herum und zeigte ihm den Platz. Im vorderen Teil bei der Einfahrt befand sich eine Hütte für die Arbeiter. Hier war auch der Hund in sicherer Entfernung von ihnen angekettet. Daneben gab es eine Werkstatt, in der die Autos ausgeschlachtet wurden, und einen Lagerschuppen. Außerdem stand dort ein Radlader mit einer Gabel, wie sie Gabelstapler haben, zum Bewegen der Schrottautos. Das Beeindruckendste war die riesige Presse, mit der die Autowracks zu Metallwürfeln zusammengedrückt wurden. Hinter der Autopresse lag ein großer Haufen dieser Metallklumpen. Im hinteren Bereich des Schrottplatzes standen in mehreren Reihen hintereinander und nebeneinander dicht an dicht alte Autos aufgestapelt. Jeweils drei Autowracks waren übereinander aufgeschichtet. Ferdi kannte von den meisten der Kraftwagen die genauen Herstellerangaben und den Typ.
Mitten auf dem Gelände war eine freie Fläche. Hier stand ein großer, alter Straßenkreuzer. Vermutlich war er erst kürzlich angeliefert und noch nicht ausgeschlachtet worden. Er sah heruntergekommen aus. Der Lack war stumpf und die Sitze verschlissen. Außerdem hatte die Karosserie überall Roststellen und Beulen. Trotzdem regte dieses Fahrzeug die Fantasie der vier Kinder an und reizte sie zum Spielen. Der Wagen war nicht verschlossen, sodass sie sich hineinsetzen konnten. Zuerst spielten sie, dass Otto eine reiche und berühmte Dame war. Ferdi war ihr Chauffeur und Andi und Karl ihre Leibwächter. Die vier wurden von bösen Banditen angegriffen und mussten gegen sie kämpfen.
Danach waren sie ein Sondereinsatzkommando von der Polizei, das mit ihrem Spezialfahrzeug gefährliche Verbrecher verfolgte. Zum Schluss war der Wagen ihr Raumschiff mit dem sie fremde Galaxien erkundeten und allerlei spannende Abenteuer zu bestehen hatten. Hierbei blühte besonders Ferdi auf. Er verwendete dabei Begriffe wie Photonenantrieb, Subraumsprünge und Astronavigation, von denen die anderen drei nie etwas gehört hatten. Es machte allen mächtigen Spaß und sie bekamen immer neue fantasievolle Einfälle. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung und alle vier Kinder spielten miteinander, als würden sie sich bereits eine Ewigkeit gut kennen.
Nach einigen Stunden hatte das alte Auto seinen Zweck erfüllt und die Kinder suchten nach neuen Möglichkeiten auf dem Schrottplatz. Andi schlug vor, sie sollten ausschwärmen und jeder von ihnen sollte besonders interessante Teile im Schrott finden. Anschließend wollten sie sich zusammensetzen und ihre Funde miteinander vergleichen. Die vier zogen in verschiedene Richtungen los. Nach einigem Suchen entdeckte Karl eine Reihe bunter Lampen. Ferdi hatte einen Scheibenwischermotor abgebaut, den er zum Basteln verwenden wollte. Andi fand ein bizarr geformtes Metallstück, von dem er nicht wusste, was es war oder wozu es einstmals gedient haben mag. Es sah ungewöhnlich und interessant aus. Daher steckte er es ein und nahm es mit. Er war überzeugt, dass Ferdi ihm sofort sagen konnte, was es war.
Die drei Jungen wollten gerade zu ihrem Treffpunkt zurückkehren, als sie Otto rufen hörten. Sie stand ganz oben auf den Reihen von aufgeschichteten alten Autos auf einem der Autodächer und winkte aufgeregt.
„Kommt her! Schaut euch das an! Ich habe hier etwas gefunden“, rief sie.
„Bring es doch mit!“, rief Andi zurück.
„Geht nicht. Es ist zu groß“, antwortete Otto.
Die Jungen gingen in Richtung der gestapelten Schrottautos auf Otto zu. Plötzlich war sie verschwunden. Die drei hielten inne, aber Otto war nirgends zu entdecken. Zuerst dachten sie, das Mädchen würde ihnen einen Streich spielen und sich verbergen. Nachdem sie längere Zeit nichts von ihr gehört oder gesehen hatten, wurde ihnen unheimlich. Die Jungen legten ihre Funde beiseite und kletterten auf die gestapelten Autowracks. Das war nicht einfach. Besonders Ferdi hatte damit Schwierigkeiten, aber Andi und Karl halfen ihm hinauf. Zu dritt standen sie oben auf einem Autodach. Dort war es wackelig und rutschig. Die Jungen stiegen von einem Auto zum nächsten zu der Stelle, an der sie Otto zuletzt gesehen hatten. Mehrere Male riefen sie zusammen ihren Namen. Es kam keine Reaktion.
„Wahrscheinlich hat sich Otto hier versteckt und amüsiert sich über uns“, vermutete Andi.
Die drei Jungen riefen erneut, ohne eine Antwort zu erhalten.
Als sie einen Moment lang still wurden, um zu überlegen, was sie tun sollten, hörten sie leise Ottos Stimme: „Hier unten bin ich. Direkt unter euch. Ich bin eingeklemmt. Ich kann nicht mehr heraus.“
Dann fanden die Jungen Otto nicht weit von dort, wo sie standen. Sie war von dem glatten Autodach abgerutscht und in eine Spalte zwischen den aufgestapelten Autos gefallen. Dort steckte sie tief unten fest. Aus eigener Kraft konnte Otto sich nicht befreien. Andi streckte seinen Arm hinunter, aber das Mädchen war außerhalb seiner Reichweite. Der Zwischenraum war zu schmal, als dass er mit seinem Oberkörper weiter hineinkommen konnte.
„Die kriegen wir da nie raus“, meinte Ferdi. „Wir müssen die Feuerwehr holen.“
„Die Feuerwehr? Spinnst du? Dann bekommen wir alle großen Ärger“, entgegnete Andi. „Außerdem hat keiner von uns ein Handy dabei. Es müsste also einer zur Siedlung zurück fahren, um Hilfe zu holen.“
„Aber wir können Otto nicht da unten lassen. Dann müssen wir lieber den Ärger in Kauf nehmen“, sagte Karl.
Nach kurzem Überlegen schlug Andi vor: „Wir versuchen zuerst selbst, sie dort rauszuholen. Wenn uns das nicht gelingt, können wir immer noch die Feuerwehr holen.“
„Macht aber bitte schnell. Ich halte es hier nicht mehr lange aus“, meldete sich Otto von unten.
Es war dunkel dort unten, wo Otto zwischen den alten Fahrzeugen eingeklemmt war. Damit Andi besser sehen konnte, nahm Ferdi eine kleine Taschenlampe, die er an einem Haken an seinem Gürtel trug, und reichte sie ihm. Dabei beugte er sich vor in Richtung des Spaltes, in dem Otto steckte. Die Autowracks fingen an zu schwanken und die Lücke wurde schmaler.
„Hilfe! Was macht ihr da?“, schrie Otto. „Ich werde hier erdrückt.“
Andi stieß Ferdi sofort zurück. Zuerst wollte er auf Ferdi böse sein, weil er beinahe mit seinem unvorsichtigem Verhalten Otto zerquetscht hätte, doch dann hatte er eine Idee.
„Ferdi“, sagte er, „geh auf die andere Seite vom Autodach und mach dich so schwer du kannst!“
Ferdi gehorchte, ohne zu wissen, wozu er das machen sollte. Tatsächlich wankte der Autostapel ein Stück zurück und der Spalt wurde sogar ein kleines Stück breiter als zuvor. Otto hatte nun mehr Platz zum Atmen. So war Ferdis Übergewicht zu etwas nütze.
Leider wurde der Zwischenraum dadurch nicht breit genug, damit Andi selbst dort hineinklettern konnte, um Otto herauszuhelfen. Sein Blick fiel auf Karl und er hatte einen weiteren Einfall. Der schmächtige Junge passte bequem in die Spalte, jedoch er war zu klein und seine Arme zu kurz, um das Mädchen zu erreichen, wenn er sich hinunterbeugte. Daher probierte Andi folgendes aus. Er hielt Karl an den Füssen fest und ließ ihn kopfüber in den Spalt hinab. Auf diese Weise konnte Karl Otto immerhin greifen, musste aber feststellen, dass er nicht genügend Kraft hatte, um das Mädchen herauszuziehen.
Andi hob Karl aus der engen Lücke und grübelte fieberhaft nach.
„Ein Seil. Wir brauchen ein Seil. Sucht ein Seil! Es muss hier doch irgendwo ein Seil geben“, rief er hektisch.
Wieselflink flitzte Karl kreuz und quer über die Autos und den Schrottplatz. Eine kurze Zeit später tauchte er wieder auf und schwenkte in seiner Hand wie eine Trophäe etwas, das wie ein Seil aussah. Genau genommen war es kein echtes Seil, sondern ein Schlauch oder Kabel, aber es war einen Versuch wert.
Andi ließ Karl erneut kopfüber zu Otto hinunter. Es gelang dem schmalen Jungen, das Seil unter den Armen des Mädchens hindurchzufädeln. Anschließend zog Andi ihn wieder hoch aufs Autodach. Andi und Karl nahmen das Seil und zerrten kräftig daran, aber es ging nicht. Otto rührte sich kein Stück. Daraufhin warf Andi das eine Seilende zu Ferdi hinüber, der auf der anderen Seite des Autodaches saß. Auf ein Zeichen von Andi hing sich Ferdi mit seinem vollen Gewicht an das Seil. An dem anderen Ende zogen gleichzeitig Andi und Karl. Endlich bewegte sich Otto. Sie rutschte in dem Spalt nach oben.
„Ah, aua! Halt, nicht mehr weiter! Ich hänge fest. Ich bin verletzt.“ schrie Otto vor Schmerzen laut auf.
Sofort hörten die drei Jungen auf zu ziehen. Andi leuchtete mit der Taschenlampe zu dem Mädchen hinunter. Sie war mit einem Bein an einer scharfen Kante von einem der Autowracks hängengeblieben. Wenn die Jungen jetzt an dem Seil zogen, würde Otto immer weiter auf diese Kante gedrückt werden. Andis gute Idee war gescheitert. Die drei konnten das Seil nicht mehr verwenden, um Otto zu befreien. Andi war verzweifelt. Er wusste nicht, wie er Otto helfen konnte. Viel Zeit zum überlegen hatte er nicht. Wenn er Otto retten wollte, dann musste es schnell gehen, bevor das Mädchen zwischen den Schrottautos zerdrückt wurde.
Immerhin war Otto durch den Versuch mit dem Seil ein weites Stück höher gekommen. Andi beugte sich, so tief er konnte, hinunter zu ihr und Otto streckte ihm ihre Hände entgegen. Es reichte gerade eben aus, dass er sie fassen konnte. Andi packte zu und hob Otto zunächst zur Seite von der scharfen Kante weg. Dann versuchte er sie hochzuziehen. Das war aber viel zu schwer. Er zerrte so stark, wie er konnte. Von dem Kraftaufwand wurde ihm schwarz vor seinen Augen. Die Stelle an seinem Oberarm, wohin das Mädchen ihn am Vormittag geschlagen hatte, schmerzte durch die Anspannung unerträglich. Doch Andi bemerkte es nicht vor lauter Anstrengung.
So sehr er sich auch mühte, er schaffte es nicht. Die Jungen waren so weit gekommen und mussten nun kurz vor dem Ziel aufgeben. Das wollte Andi nicht hinnehmen und mobilisierte seine Kräfte. Er zog so sehr, dass er dachte, seine Arme würden ihm abreißen. Doch plötzlich wie durch ein Wunder bewegte sich Otto langsam nach oben. Stück für Stück rückte das Mädchen höher. Zuletzt kam Otto so nah, dass Karl mit zupacken konnte. Zu zweit war es einfacher. Mit einem letzten Kraftakt gelang es den beiden, Otto aus dem Spalt auf das Dach des Autos zu ziehen.
Erschöpft lag das Mädchen auf dem Autodach. Andi und Karl setzten sich entkräftet neben sie. Otto sah schlimm aus. Sie war von Kopf bis Fuß voller Dreck, Staub und Öl. Am ganzen Körper hatte sie kleinere Schürfwunden, blaue Flecke und Beulen. Das Schlimmste war eine blutende Wunde an ihrem rechten Oberschenkel. Ein blutiger Riss ging von ihrem Knie hinauf bis fast zu ihren knappen Shorts. Als Ferdi, der immer noch als Gegengewicht auf der gegenüberliegenden Seite des Autodaches saß, zu den dreien hinüberkletterte, wankte der Autostapel ein letztes Mal. Die Spalte, aus dem die Jungen gerade eben Otto befreit hatten, verschloss sich mit lautem Getöse.
Alle vier waren wie benommen von den Anstrengungen, den Schmerzen und der Angst, die sie ausgestanden hatte. Nach einer kurzen Verschnaufpause halfen die drei Jungen Otto, von den aufeinandergeschichteten Autos herunterzuklettern. Unten angekommen setzten sie das Mädchen auf einen Reifenstapel. Sie schauten sich die Wunde an Ottos Bein an.
„Das sieht gefährlich aus. Ich kann kein Blut sehen. Mir wird schlecht“, würgte Ferdi.
Er wandte sich ab, um sich zu übergeben, aber er überlegte es sich anders, da ihm dazu die leckeren Speisen, die er zu Mittag gegessen hatte, zu schade waren. Stattdessen suchte Ferdi in seinen Hosentaschen und fand ein sauberes Stofftaschentuch. Er reichte es Otto, die es auffaltete und mit der Hand auf die Wunde drückte, um die Blutung zu stoppen.
Die Jungen wussten nicht, wie es weitergehen sollte.
„Ottos Wunde muss dringend ärztlich versorgt werden. Wir müssen sie in ein Krankenhaus bringen“, drängte Ferdi.
„Das nächste Krankenhaus befindet sich in der Stadt. Bis dahin können wir sie nicht bringen. Das ist viel zu weit von hier aus“, entgegnete Karl.
„Dann müssen wir einen Krankenwagen rufen“, forderte Ferdi.
„Wenn wir das machen, hätten wir uns die Strapazen sparen können und vorhin die Feuerwehr holen können. Wir haben Otto befreit und nun werden wir den Rest auch allein schaffen“, sagte Andi böse. „Außerdem haben wir kein Handy dabei.“
„Wir könnten Otto zu Dr. Müller bringen. Der kann sich um ihre Wunde kümmern“, schlug Karl vor.
Dr. Müller war der Arzt in der Siedlung. Er war der Hausarzt der meisten Familien, die dort wohnten. Alle Kinder kannten ihn, da sie irgendwann schon einmal von ihm behandelt worden waren.
„Gute Idee, Karl. Nur heute ist Samstag. Da hat er keine Sprechstunden. Wir müssen ihn privat erreichen. Ich hoffe, dass er zu Hause ist. Wir müssen es versuchen“, entschied Andi.
„Ja, bringt mich zu Dr. Müller! Den kenne ich. Das ist unser Hausarzt. Bei dem war ich schon öfters“, bekräftigte Otto.