Читать книгу Fluchtziel Erde - Frank Springer - Страница 5

2. Verbotene Spiele

Оглавление

Jan hatte einige Zeit betrübt zu den Sternen aufgesehen, als er hörte, wie sich erneut die Tür öffnete.

„Na, was macht mein fauler Cousin? Liegt er wieder rum und tut nichts?“, plärrte Mechthild los, als sie die Veranda betrat.

Jan entgegnete nichts. Er hasste seine Cousine. Mit ihren kurzen, blonden Haaren und ihrem schlanken, sehnigen Körper sah sie wie ihre Mutter aus. Auch sonst glich sie Tante Martha in jeder Beziehung. Sie war auf übermenschliche Weise fleißig und strebsam. Obwohl Mechthild mit ihren dreizehn Jahren ein Jahr jünger war als Jan, ging sie in seine ehemalige Klasse, da sie aufgrund ihrer herausragenden Leistungen eine Klassenstufe übersprungen hatte. Sofort hatte sie es dort zur Klassenbesten geschafft.

Jan konnte nicht verstehen, dass Lernen ihr so viel Spaß machte. Selbst in ihrer Freizeit lernte sie freiwillig und genoss das Vergnügen, das sie dabei empfand. Wenn Mechthild einmal nicht etwas für die Schule tat, dann trieb sie Sport wie ihre Mutter. An ihrem Verhalten war nichts von dem eines Kindes oder einer Heranwachsenden. Sie war nichts anderes als eine originalgetreue Kopie ihrer Mutter. Nach Jans Meinung war sie sogar schlimmer als das.

Mechthild versuchte nicht zu verbergen, dass sie sich für etwas Besseres hielt. Sie behandelte Jan arrogant von oben herab und sah in ihm einen arbeitsscheuen Nichtsnutz. Deutlich zeigte sie Jan, dass sie ihn verachtete, weil er nicht annähernd so fleißig und pflichtbewusst war wie sie. Jan litt darunter und verabscheute sie deswegen. Seit zwei Wochen machte Mechthild ein Praktikum bei ihrer Mutter in der Wissenschaftsabteilung. Dadurch war sie noch eingebildeter als ohnehin schon. Stolz zeigte sie allen die blauen Schulterstücke an ihrem Anzug, durch die sie als Angehörige des Wissenschaftspersonals zu erkennen war.

Alle Bewohner in der Mondstation mussten graue Anzüge tragen, die optimal für das Leben in dieser künstlichen Welt angepasst waren. Die farbigen Schulterstücke gaben zu erkennen, welche Tätigkeit der Träger ausübte und zu welcher Abteilung er gehörte. Nur Schüler, jüngere Kinder und die wenigen Personen, die aus anderen Gründen nicht arbeiteten, trugen graue Schulterstücke in der Farbe des Anzugsstoffes. Mechthild meinte, dass selbst dies zu viel Ehre für ihren Cousin sei und er noch nicht einmal diese einfachen Abzeichen verdient hätte.

Jan hasste es, diese Uniform tragen zu müssen, in der alle Menschen gleich aussahen. Dadurch verstärkte sich sein Gefühl, nur ein unbedeutender Teil einer großen anonymen Masse zu sein. Auf der Erde kleidete sich jedes Kind und jeder Mensch so, wie es ihm gefiel. Jan hatte Kleidung in den unterschiedlichsten Farben besessen und jeden Tag etwas anderes davon angezogen. Damals war ihm nicht bewusst gewesen, welche Freiheit das für ihn bedeutet hatte, die ihm nun genommen war.

Ohne auf Jan Rücksicht zu nehmen, setzte sich Mechthild auf einen der Sessel und begann sofort, auf ihrem Handcomputer Aufgaben für die Schule zu lösen. Jans Ruhe war durch ihren Arbeitseifer gestört. So konnte er nicht den Anblick der Sterne genießen und träumen. Er sprang auf und lief in den Wohnbereich.

Zielstrebig ging er auf die Wohnungstür zu und rief im Vorbeigehen Tante Martha und Onkel Wilhelm zu: „Ich gehe noch etwas spazieren. Ich komme bald wieder.“

„Geh nicht wieder zu diesem Piet! Wir haben dir verboten, ihn zu besuchen. Er ist kein guter Umgang für dich“, kommandierte Tante Martha mit strenger Stimme.

„Nein, ich laufe nur herum, sagte ich doch“, entgegnete Jan und verschwand durch die Tür, bevor Tante Martha etwas sagen konnte.

Draußen auf dem Gang waren nur wenige Menschen unterwegs, sodass Jan kaum jemandem begegnete. In diesem Bereich der Station, in dem das Appartement von Tante Martha und Onkel Wilhelm lag, befanden sich die größeren Wohnungen der leitenden Mitarbeiter. Nur wer hier wohnte oder etwas zu tun hatte, kam hierher.

Jan folgte dem Gang und bog um mehrere Ecken, bis er eine kleine Einkaufsstraße mit einigen Geschäften erreichte. Es herrschte reges Treiben. Vor einem der Läden drängten sich die Kunden. Jan ließ sich nicht davon beirren und durchschritt die Ladenstraße zügig. An deren anderem Ende fing der Teil der Station an, in dem die einfacheren Mitarbeiter wohnten. Der Junge kämpfte sich durch das unübersichtliche Wirrwarr von Gängen, Abzweigungen, Treppen und Aufzügen. Obwohl überall Wegweiser angebracht waren und die Mondstation nach einem strengen Schema aufgebaut war, musste Jan sich konzentrieren, um sich nicht zu verirren. Wenn er den Weg nicht schon öfter gegangen wäre, hätte er sich mit Sicherheit verlaufen.

Schließlich erreichte er den Bezirk, in dem die ungelernten Arbeiter und Hilfskräfte lebten. Die Luft war stickig und voller unangenehmer Gerüche. Die Gänge wurden schmaler und stellenweise lag Unrat auf dem Boden. Hier war die drangvolle Enge, die auf der Mondstation herrschte, um ein Vielfaches deutlicher zu spüren.

Jan kam an einer Bar vorbei, die verrufen aussah und es vermutlich auch war. Gerade als er an der Tür vorbeiging, torkelte ein stämmiger Mann heraus und lallte etwas Unverständliches. Jan verstand den Betrunkenen nicht und wollte weitergehen, aber der Mann stellte sich ihm in den Weg. Ihm wurde übel, als er den alkoholisierten Atem des Muskelprotzes roch. Der Junge versuchte, sich vorbeizudrängen, was ihm jedoch nicht gelang, da der Mann ihn packte und festhielt. Mit aller Kraft bemühte sich Jan freizukommen. Es hatte keinen Zweck. Der Kerl hatte seinen Arm fest umklammert. Obwohl er sich selbst kaum auf seinen eigenen Beinen halten konnte, war er ungeheuer stark.

Dabei war Jan keineswegs schwächlich. Er war auf der Erde geboren und hatte dort seine Kindheit verbracht. Daher hatte er sich an die höhere Schwerkraft, die dort auf ihn einwirkte, gewöhnt und war entsprechend kräftig. Zwar war dieser Mond größer und schwerer als der Erdenmond, aber die Anziehungskraft auf ihm war spürbar geringer als die, die der Junge von seiner Heimat her kannte. Auch nach den vier Jahren auf der Mondstation hatte Jan kaum etwas von seiner Kraft eingebüßt. Trotzdem hatte er gegen diesen Koloss, der harte, körperliche Arbeit gewohnt war, nicht die geringste Chance.

Panik stieg in ihm auf. Jan hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Volltrunkene von ihm wollte. Als er sah, dass ein weiterer Mann aus der Bar stürzte und auf ihn zugerannt kam, wäre er fast vor Angst gestorben.

Aber der Saufkumpan legte seine Hand auf den Oberarm des Betrunkenen und sprach beruhigend mit ihm: „Lass den Knirps doch los! Du bist ja bis zum Rand abgefüllt. Komm, ich bring dich nach Hause.“

Offenbar zeigte das Wirkung. Der Alkoholisierte ließ von Jan ab und taumelte mit dem anderen Mann fort. Jan atmete erleichtert auf und lief schnell weiter. Diese unerfreuliche Begegnung hatte den Jungen in Furcht und Schrecken versetzt. Sein Herz klopfte und sein Anzug war durchgeschwitzt. Jan mochte nicht daran denken, was alles mit ihm hätte geschehen können.

Er begegnete einigen weiteren Gestalten, die einen finsteren Eindruck erweckten, und wich ihnen aus, so gut es ging. Aber Jan machte das alles nichts aus, denn er kannte sein Ziel. Selbstverständlich ging er zu Piet, obwohl Tante Martha es ihm ausdrücklich verboten hatte. Jan hatte in der Mondstation keinerlei Freunde und kannte keine Gleichaltrigen, mit denen er etwas unternehmen konnte. Piet war der einzige Mensch, mit dem er zusammen seine Zeit verbringen mochte.

Vor zwei Jahren hatte Jan ihn zufällig kennengelernt, als Piet auf der Flucht vor mehreren Sicherheitsmitarbeitern war, die ihn verfolgten, und Jan sie in die falsche Richtung geschickt hatte. Zum Dank wollte ihm Piet etwas schenken und kam mit ihm ins Gespräch. Schnell stellte sich heraus, dass sich beide gut miteinander verstanden.

Piet arbeitete als Hilfskraft auf den Raumschiffdocks. Neben allerlei anderen Tätigkeiten half er beim Be- und Entladen der Versorgungsschiffe. Dadurch kam er in guten Kontakt zu deren Besatzungen. Um ihren Lohn aufzubessern, schmuggelten einige von den Mannschaften gelegentlich Dinge, die Piet aufkaufte und zu Geld machte.

Jan wollte nicht wissen, womit Piet alles handelte. Nur eine Sache interessierte ihn, die Spiele in künstlicher Realität. Dieses waren kleine Geräte, die man sich auf den Kopf setzte und die einen in eine Fantasiewelt eintauchen ließen. Die Eindrücke wurden dabei direkt ins Gehirn übertragen. Um damit zu spielen, musste man nicht auf Bildschirme schauen, den Ton aus Lautsprechern hören oder gar Knöpfe und Hebel bedienen. Die reine Vorstellung reichte aus, damit man sich in diesen erdachten Welten bewegen und handeln konnte.

Diese Spiele waren auf der Mondstation verboten, da sie süchtig machten und die Spieler so sehr von ihrer Arbeit ablenkten, dass ihre Leistungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft darunter litten. So etwas durfte es hier, wo nur Höchstleitung und maximaler Profit zählten, nicht geben. Wer mit so einem Spielzeug entdeckt wurde oder sogar damit Geschäfte machte, musste mit empfindlichen Strafen rechnen. Trotzdem war es unter den Arbeitern verbreitet und Leute wie Piet beschaffte es ihnen auf dunklen Wegen. Mit seinem Handel hatte Piet einen bescheidenen Reichtum erwirtschaftet. Er ließ sich dies jedoch nicht anmerken und behielt seine enge Arbeiterwohnung, um kein Aufsehen zu erregen.

Jan bog in einen schmalen Korridor ab. Links und rechts an den Wänden befanden sich in einer Reihe viele kleine Türen. Vor einer davon blieb er stehen und schaute sich um, ob kein anderer in der Nähe war. Damit er nicht auffiel, benutzte er nicht den Klingelknopf. Stattdessen klopfte leise das vereinbarte Zeichen.

„Wer ist da?“, fragte von drinnen eine Stimme.

„Ich bin’s“, antwortete Jan gedämpft.

Piet machte die Tür einen Spalt breit auf und schaute hinaus. Als er Jan erkannte, öffnete er ganz und zog ihn am Arm herein. Freundlich begrüßte er Jan, der sich freute, ihn wiederzusehen.

Er legte Jan zur Begrüßung seinen Arm auf die Schulter. Zumindest ihm gegenüber gab Piet sich stets sehr freundschaftlich. Er war älter als Jan. Sein genaues Alter kannte der Junge nicht, aber er schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Piet hatte eine rundliche Figur, obwohl er nicht dick war. Ständig hing eine Strähne seines dunkel gefärbten Haares quer über sein Gesicht. Seine Wohnung war eng und stickig. Es passten gerade ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl hinein. In dem Raum herrschte ein heilloses Durcheinander. Überall lagen Sachen verstreut herum. Jan wusste, dass dies Absicht war, damit man nicht so schnell erkennen konnte, welche Schätze Piet hier gehortet hatte.

Piet schob einige Dinge beiseite und bot Jan einen Platz auf der Bettkante an. Zwischen allerlei Krempel holte er etwas hervor und setzte sich selbst auf den Stuhl gegenüber.

„Schau mal, was ich hier habe“, sagte Piet stolz und schwenkte vor Jans Augen einen Gegenstand herum, der aussah, wie ein breites Stirnband, an dem ein kleines Kästchen angebracht war. Jan lächelte voll freudiger Erwartung, denn er erkannte sofort, dass es eines von diesen Geräten zum Spielen in der künstlichen Realität war.

„Das ist ganz neu. Ich habe es erst letzte Woche von den Leuten vom Versorgungsschiff bekommen. Es ist viel besser als die alten. Du wirst staunen. So etwas gab es noch nie“, pries Piet das Spielgerät an und gab es Jan.

Der setze es sich sofort auf den Kopf und berührte zum Einschalten das kleine Kästchen an dem Stirnband.

Jan war glücklich. Durch das Spiel konnte er nicht nur der unerträglichen Enge der Mondstation, sondern der ganzen Welt mit all seinen unerfüllten Sehnsüchten entkommen. In der Scheinwelt, in die er nun eintauchte, gab es weder Schule noch Tante Martha und Mechthild. Hier fühlte er sich frei von allen Zwängen und Verpflichtungen, die ihm das strenge Leben auferlegte. Sogar das quälende Verlangen, so schnell wie möglich auf die Erde zurückzukehren, vergaß er. Solange er spielte, hatte er seine Freiheit wieder, die er so schmerzlich vermisste. Auch wenn diese Freiheit nur künstlich war, genoss er sie, denn sie war die einzige, die er auf der Station erlangen konnte.

Genüsslich schloss Jan seine Augen. Dichter, undurchdringlicher Nebel umgab ihn. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Unsicher tastete er sich voran. Der Duft von Tannennadeln stieg ihm in die Nase. Der Nebel lichtete sich und Jan erkannte, dass er mitten in einem Tannenwald stand. Er bahnte sich einen Weg, durch die Zweige, die ihn mit ihren Nadeln im Gesicht streiften. Alles wirkte real, als ob er es tatsächlich erlebte. Er sah nicht nur den Wald, er spürte und roch ihn auch.

Nach einigen Schritten erreichte Jan den Waldrand und blickte über eine bunte Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckte. Er trat aus dem Wäldchen heraus und lief mit ausgebreiteten Armen durch das hohe Gras. Es war genau so eine Wiese, wie er sie von der Erde her kannte. Vor Glück machte er Freudensprünge und schlug Purzelbäume. Ausgelassen tollte er herum und fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr.

Nachdem sich Jan ausgetobt hatte, sah er sich um. Weit entfernt erblickte er eine Burg. Es war ein großes, prachtvolles Bauwerk, in der ein mächtiger Herrscher regierte. Der Junge machte sich auf den Weg und ging darauf zu. Er kam viel schneller näher, als es die große Entfernung vermuten ließ. Nach kurzer Zeit hatte er die Festung erreicht. Die Zugbrücke war herabgelassen und zwei Wachen mit Hellebarden standen davor. Als er auf die beiden zuging, hatte Jan große Angst, dass sie ihn sofort ergreifen würden. Jedoch die Wachposten wichen zurück und verneigten sich unterwürfig vor ihm. Jan verstand zunächst nicht, weshalb sie das taten, aber als er an sich herunterschaute, stellte er fest, dass er eine prunkvolle Rüstung trug und ein stattliches Schwert an seiner Seite führte.

Ein Mann in höfischer Kleidung begleitete ihn in einen prächtigen Thronsaal. Von der Tür führte ein langer, roter Teppich bis vor den goldenen Thron, auf dem der König saß. Er hatte eine reich verzierte Krone auf dem Kopf und hielt als Zeichen seiner Macht ein edelsteinbesetztes Zepter in den Händen. Sein purpurroter Mantel besaß einen Kragen mit Hermelinfell. Jan trat vor den König und verneigte sich. Der nahm seine Ehrerbietung wohlwollend entgegen.

Nachdem Jan sich vorgestellt hatte, sprach der König in würdevollem Ton: „Dank dir, oh du kühner Ritter, dass du mir in der Zeit meiner größten Not Beistand leistest. Meine einzige und liebste Tochter ist von einem grausigen Ungeheuer entführt worden und wird von ihm in einer dunklen Höhle gefangen gehalten. Viele mutige Männer sind ausgezogen, um sie zu befreien, aber nicht einer von ihnen ist zurückgekehrt. Du bist meine allerletzte Hoffnung, mein Kind vor dieser fürchterlichen Bestie zu retten. Sollte dir Erfolg beschieden sein, gebe ich dir meine Tochter zur Frau und das halbe Königreich dazu.“

Jan nahm dir Herausforderung an, verneigte sich abermals vor dem König und verabschiedete sich. Draußen im Burghof erwartete ihn ein edles Ross mit schneeweißem Fell. Der Junge stieg auf und galoppierte durch das Burgtor hinaus. Er trieb das Pferd an und hatte bald die Festung weit hinter sich gelassen. Sein Weg führte ihn über saftige Wiesen und fruchtbare Felder. Gegen Abend kam er in ein enges Tal, in dem kein Gras und keine Bäume wuchsen. Die Berge rundherum waren pechschwarz und düstere Wolken bedeckten den Himmel. Jan fröstelte und er bekam Angst, schreckliche Angst. Schritt für Schritt ritt er umsichtig in das Tal hinein. Kein Laut war zu hören. Es herrschte unheimliche Stille. Kurz vor dem Ende der Schlucht stieg er ab und ließ sein treues Pferd zurück. Mühsam kletterte Jan über Felsen und Vorsprünge, bis er die Höhle des furchtbaren Scheusals erreichte.

Der Eingang klaffte vor ihm im Berghang wie der Schlund eines riesigen und grässlichen Untieres. Jan zitterten die Knie, als er sich mitten vor diese unheilbringende Öffnung stellte. Darin war nichts außer tiefes, unergründliches Schwarz zu erkennen.

Er fasste all seinen Mut zusammen und rief in das Loch hinein: „Komm heraus, du Ungetüm! Ich werde dich zerschmettern, du widerlicher Wurm.“

Der Junge zuckte vor Schreck zusammen, als er das Echo seiner eigenen Stimme aus den Tiefen des Höhlenschlundes vernahm. Aus dem Bau des abscheulichen Wesens drang dumpfes Grollen und furchteinflößendes Fauchen. Jan wäre am liebsten vor Angst fortgelaufen, aber er blieb und erwartete das Unausweichliche.

Der Gestank von Schwefel schlug ihm entgegen. Er konnte die Nähe des Monsters spüren, bevor er es erblickte. Im Höhleneingang erschien eine grässliche Kreatur, scheußlicher als er sie sich je hätte vorstellen können. Sie war riesengroß und besaß sieben Köpfe mit messerscharfen Zähnen in den weit aufgerissenen Mäulern. Der gesamte Körper war mit unzähligen Warzen bedeckt, aus denen eine ätzende Flüssigkeit quoll. An den Klauen befanden sich dolchartige Krallen und der Schwanz war mit spitzen Stacheln besetzt. Jan wurde bei dem Anblick übel und er wollte sich übergeben, aber dazu bleib ihm keine Zeit.

Schon sauste der erste Kopf direkt auf ihn zu und schnappte nach ihm. Der Junge konnte gerade noch zur Seite springen. Er hob sein Schwert und schlug dem Ungeheuer den ersten Kopf mit einem Hieb ab. Die übrigen Köpfte stimmten daraufhin ein vielstimmiges Wehgeschrei an. Aber Jan konnte sich nicht ausruhen, denn der nächste Kopf schnellte zum Kampf hervor. Jan stieß sein Schwert tief in den Schädel, bis dieser mit lautem Krachen zerbarst. Die restlichen Häupter gaben im Chor ohrenbetäubende Schmerzensschreie von sich.

Nun griffen Kopf Nummer drei und vier von beiden Seiten an. Jan duckte sich schnell, bevor er zwischen den beiden Schädeln zermalmt wurde. Stattdessen prallten die zwei Köpfe mit voller Wucht aufeinander, so dass sie benommen zu Boden sanken. Hastig durchtrennte Jan die beiden Hälse, die schlaff herabhingen, sodass der Bestie nur noch drei von ihren sieben Häuptern blieben.

Die Kreatur wurde vorsichtiger und attackierte Jan nicht mehr direkt. Sie streckte den einen Kopf vor und zuckte immer wieder ein Stück zurück, wenn Jan ihm zu nahe kam. Der Junge bemerkte, dass das Ungeheuer ihn damit nur täuschen wollte, während sich ihm in seinem Rücken ein weiterer Kopf näherte. Jan durchschaute die List und wandte sich ruckartig um. Mit einem gewaltigen Schwerthieb spaltete er den Schädel, der ihn von hinten angriff, in zwei Teile. Blitzschnell drehte sich Jan zurück und bohrte sein Schwert in die Stirn des Kopfes, der ihn zuvor abgelenkt hatte.

Das grauenhafte Geschöpf besaß jetzt nur noch einen einzigen Kopf und änderte seine Taktik. Es holte mit seinem stachelbewehrten Schwanz aus und schlug damit so kräftig wie möglich nach Jan, der völlig überrascht war, da er diese Art von Angriff nicht erwartet hatte. Der vernichtende Schlag traf ihn mit voller Kraft. Der Junge wurde in hohem Bogen durch die Luft geschleudert und prallte hart auf den felsigen Boden auf. Alle Knochen taten ihm weh und Blut sickerte aus mehreren tiefen Wunden. Benommen richtete er sich unter Schmerzen auf. Er hatte sein Schwert verloren und stand nun wehrlos dem furchteinflößenden Monster gegenüber, für das er jetzt zu einer leichten Beute geworden war.

Der letzte noch verbliebene Kopf schnellte hervor, um dem Jungen den Todesstoß zu versetzen. Jan sah sich seinem eigenen Tode gegenüber, denn nichts mehr konnte ihn retten. Er hatte keine Waffe, mit der er diesen verheerenden Angriff hätte abwehren können. Ohne Aussicht auf Rettung schaute er sich ratlos um. Das furchterregende Antlitz des grauenhaften Ungeheuers befand sich bereits unmittelbar vor ihm. Es war zu spät. Im nächsten Augenblick würden sich die langen und spitzen Zähne in seinen Körper bohren.

In diesem Moment entdeckte Jan neben sich einen großen Stein. Mit einer allerletzten Anstrengung nahm er den Felsbrocken auf, der so schwer war, dass er ihn kaum heben konnte. Der Junge spürte schon den nach Verderben riechenden Atem der todbringenden Kreatur in seinem Gesicht. Da stemmte er den Stein so hoch es ging und zertrümmerte mit aller Kraft den letzten Schädel des hässlichen Monstrums, das leblos auf den Boden sackte.

Jan atmete erleichtert durch. Das Ungeheuer war tot. Mit seinen eigenen Händen hatte er es getötet. Es war endgültig besiegt. Der Junge hatte damit etwas geschafft, was er bis zuletzt für unmöglich gehalten hatte. Jedoch fühlte er sich so schwach, dass er seinen großartigen Triumph nicht auskosten konnte. Seine blutenden Wunden schmerzten. Wankend schleppte er sich mit kraftlosen Schritten zum Höhleneingang.

Mit unsicherer Stimme rief er hinein: „Holde Maid, kommt heraus! Habt keine Angst. Euer Peiniger ist vernichtet.“

Zunächst geschah nichts.

Dann hörte Jan aus den Tiefen des Schlundes zaghaft rufen: „Ist das wahr? Besteht keine Gefahr mehr?“

„Aber ja, wenn ich es so sage“, entgegnete Jan entschlossen.

Nach einiger Zeit tauchte aus der Dunkelheit der Höhle ein wunderhübsches Mädchen auf. Sie war in ein kostbares Gewand gekleidet und sah bezaubernd aus. Ihr goldblondes Haar fiel ihr wogend über die Schultern. So ein liebliches und wunderschönes Geschöpf hatte Jan bisher noch nie gesehen. Sie mochte etwa so alt sein wie er. Mit leichten Schritten lief sie auf ihn zu und schloss ihn in ihre Arme.

„Dank dir, mein tapferer Retter“, hauchte sie zart.

Dann neigte sie ihren Kopf zu ihm und legte behutsam ihre Lippen auf seinen Mund, um ihn zu küssen.

Das Bild verschwamm und die gesamte Wahrnehmung verschwand. Jan bekam einen Schrecken, denn vor seinen Augen tauchte Piet auf, der ihm das Spielgerät vom Kopf genommen hatte und in seiner Hand hielt. Jan wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Es musste etwas Unerwartetes geschehen sein, sonst hätte Piet das Spiel nicht unterbrochen.

Erst allmählich fand Jan zurück in die Realität. Er saß immer noch auf der Kante von Piets Bett. Obwohl er in der Fantasiewelt weite Strecken zurückgelegt hatte, war er in der realen Welt an seinem Platz geblieben. Jan war von den Eindrücken des Spiels überwältigt, sodass er nicht reagieren konnte. Es war so real, als ob er es tatsächlich erlebt hätte. Selbst der Schmerz, den er empfunden hatte, war echt, wenn auch nicht unerträglich gewesen. Am meisten hatte er das Erlebnis mit der Königstochter genossen, das ihn nachhaltig beeindruckte. Zu gerne hätte er ihren Kuss erwidert und sie dabei zärtlich liebkost.

Da Jan außer Piet keine Freunde auf der Mondstation hatte, war er auch mit keinem Mädchen befreundet. Seine einzigen Beziehungen zu ihnen gestalteten sich in ähnlicher Weise wie die zu seiner verhassten Cousine Mechthild. Daher sehnte sich Jan nach dieser Art von menschlicher Wärme und Zuneigung, wie er sie beinahe im Spiel erfahren hatte.

Piet legte seinen Finger auf die Lippen und gab Jan damit zu verstehen, dass er leise sein sollte. Der Junge hörte sofort den Grund dafür. An der Tür wurde heftig geklopft und das schrille Signal der Türklingel drang in seine Ohren.

„Los, aufmachen, sofort!“, forderte eine energische Stimme im Befehlston. „Hier ist der Sicherheitsdienst. Aufmachen, sonst entriegeln wir die Tür gewaltsam.“

Es war aus. Piet war entdeckt worden. Jan bekam panische Angst. Mit den Sicherheitskräften wollte er sich nicht anlegen. Piet stopfte das Spielgerät unter einigen Kram, der herumlag, und schlich leise zum Eingang.

„Du stellst dich hinter die Tür, so dass dich niemand sehen kann“, flüsterte er Jan zu. „Ich mache auf und lasse die Störenfriede herein. Während ich sie ablenke, passt du einen günstigen Augenblick ab und fliehst.“

„Und was wir aus dir?“, fragte Jan zweifelnd.

„Mach dir um mich keine Sorgen“, beruhigte Piet ihn. „Ich kann auf mich aufpassen. Mir wird schon nichts passieren.“

Genauso machten sie es. Jan stand hinter der Tür und Piet öffnete sie mit einem Ruck. Zwei Sicherheitsleute purzelten ihm fast entgegen, da sie nicht erwartet hatte, dass der Eingang so plötzlich aufgerissen wurde. Sie stürzten sich augenblicklich auf Piet und hielten ihn fest.

„Lasst mich los! Ich habe nichts getan. Was wollt ihr von mir?“, schrie Piet aus Leibeskräften und wehrte sich vergeblich.

Die beiden vom Sicherheitsdienst waren so sehr mit Piet beschäftigt, dass sie nicht auf Jan achteten.

‚Jetzt ist eine gute Gelegenheit zur Flucht’, dachte sich der Junge und stürmte aus der Tür.

Draußen auf dem Gang prallte er direkt gegen einen weiteren Sicherheitsmitarbeiter, der ihn sofort packte. Jan versuchte sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Der Mann war stark und darin geübt, Flüchtende einzufangen.

Neben ihnen stand eine Frau, die offensichtlich die Vorgesetzte dieses Sicherheitstrupps war.

Sie beugte sich zu Jan hinüber und fragte ihn in verächtlichem Tonfall: „Wen haben wir denn hier?“

Als Jan nicht antwortete, nahm sie ein kleines Gerät von ihrem Gürtel und hielt es vor den Identifikator, den Jan um seinen Hals trug. In dieser kleinen Kapsel waren sämtliche wichtigen Informationen über ihn gespeichert. Alle in der Station mussten so ein Halsband tragen. Es diente als Ausweis und als Schlüssel.

Die Frau las die Daten von dem Gerät ab. In ihrem Gesicht erkannte Jan ein gewisses Erstaunen.

„Was treibst du dich in dieser verrufenen Gegend herum? Du gehörst nicht hierher“, sagte die Sicherheitsmitarbeiterin barsch.

Sie gab ihrem Kollegen, der Jan festhielt, die Adresse, die auf ihrem Lesegerät angezeigt wurde, und wies ihn an: „Bringen Sie den Jungen sofort dahin und sorgen Sie dafür, dass er dort in Empfang genommen wird!“

Dann deutete sie auf Piet und rief den beiden Sicherheitsleuten in seiner Wohnung zu: „Nehmt den da fest und durchsucht hier alles!“

Tante Martha war außer sich vor Wut, als Jan so spät nach Hause kam und dazu noch von einem Sicherheitsmitarbeiter begleitet wurde, der ihr berichtete, wo und unter welchen Umständen Jan aufgegriffen worden war. Geduldig ließ Jan das Geschimpfe seiner Tante über sich ergehen. Anschließend schickte sie ihn in sein Zimmer. Das machte ihm jedoch nichts aus, im Gegenteil, denn dorthin wollte er sowieso schnellstmöglich, um seine Ruhe zu haben. Er legte sich in sein Bett und versuchte zu schlafen, aber er musste ununterbrochen an Piet denken.

Jan wusste, dass Piet großen Ärger bekommen würde und eine strenge Bestrafung zu erwarten hatte. Er war traurig, dass er ihn voraussichtlich für eine längere Zeit nicht mehr sehen würde. Dabei war Piet für ihn der einzige Mensch auf dieser trostlosen Mondstation, von dem er sich verstanden fühlte. Fast noch schlimmer war, dass er durch Piets Verhaftung keinen Zugang zu dem Spielgerät mehr hatte. Dadurch war ihm die einzige Möglichkeit genommen, seinem Elend zu entfliehen. Jan hatte ein unbändiges Verlangen nach diesem Spiel. Am eigenen Leib spürte er, weshalb davor gewarnt wurde, dass das Spielen damit süchtig machte, wenn er es auch nicht zugeben mochte. Jan fühlte sich einsam und verzweifelt.

Fluchtziel Erde

Подняться наверх