Читать книгу Fluchtziel Erde - Frank Springer - Страница 6
3. Ein Ausflug mit Folgen
ОглавлениеDas unangenehm aufdringliche Wecksignal beendete Jans viel zu kurzen Schlaf. Er quälte sich mühevoll aus dem Bett und taumelte schlaftrunken zur Schule, nachdem er bereitwillig auf ein Frühstück verzichtet hatte. Als er in die Nähe des Schulbereichs kam, dämmerte ihm, dass an diesem Tag etwas Besonderes stattfinden sollte. Heute fiel der Unterricht aus, weil für seine Klasse ein Berufsinformationstag geplant war. Dazu wurden die Schüler in Grüppchen aufgeteilt, die jeweils von einem Lehrer in die verschiedenen Abteilungen der Station geführt werden sollten, damit die Kinder erleben konnten, wie dort gearbeitet wurde, um ihre spätere Berufswahl zu erleichtern.
Jan hatte sich für keines der zur Wahl stehenden Ausflugziele eingetragen, weil er keinerlei Interesse an dieser Veranstaltung hatte. Daher wurde er derjenigen Gruppe zugeteilt, für die sich die wenigsten Teilnehmer gemeldet hatten. Obwohl Jan ihr zugewiesen wurde, blieb es ein kleines Grüppchen, denn außer ihm nahmen nur vier weitere Schüler teil. Jan hasste seine Mitschüler. Voller Arbeitseifer hatten sie ihren Blick nur auf eine erfolgreiche Karriere gerichtet. Anderer Ziele wie Spaß und Freude am Leben kannten sie nicht. Sie blickten auf Jan herab, weil sie ihn für einen faulen Taugenichts hielten.
Da niemand von seinen Mitschülern jemals auf der Erde gewesen war, konnte keiner von ihnen nachvollziehen, was Jan für seine Heimat empfand. Wenn sie von ihr sprachen, dann nur abfällig als heruntergekommenen Planeten. Sie konnten nicht verstehen, dass Jan sich nicht freute, die Erde verlassen zu haben, und dass er sich zu ihr zurücksehnte. Insofern waren sie nicht besser als seine Cousine Mechthild. Das waren für den Jungen mehr als genügend Gründe, um seine Mitschüler zu verachten. Es ärgerte ihn, dass er mit seinen vierzehn Jahren zusammen mit den Zwölfjährigen unterrichtet wurde, nachdem er zwei Klassen zurückgestuft worden war. In seinen Augen waren sie nur kleine Kinder, mit denen er zu allem Überfluss jetzt auch den Ausflug machen musste.
Jan war der Letzte, der zur Gruppe stieß, weil er wieder einmal unpünktlich war. Die anderen Schüler stöhnten missmutig, da sie auf ihn warten mussten.
„Na, kommst du auch schon?“, fragte Dimitri herausfordernd.
Der Dreizehnjährige war in der kleinen Gruppe der einzige außer Jan, der älter als der Klassendurchschnitt war. Er war so groß wie Jan und hatte einen athletischen Körperbau. Das gelbblonde Haar hing ihm bis auf seine Schultern herab. Seine Kindheit hatte er in einer entlegenen Forschungsstation verbracht, in der seine Eltern als Wissenschaftler tätig waren. Dort gab es keine Schule, die er hätte besuchen können. Erst nach seinem Eintreffen auf der Mondstation, konnte er eingeschult werden. Damals war er bereits ein Jahr älter als die anderen Schulanfänger.
Dafür war Lewis erst elf Jahre alt. Da er übermäßig intelligent war, hatte er eine Klasse übersprungen. Er war klein und dürr. Sein Kopf wirkte riesig und sein Gesicht war blass. Dabei war sein Kopf nicht größer als bei anderen Kindern, was aufgrund seiner enormen Intelligenz nicht verwunderlich gewesen wäre. Es sah nur so aus, weil im Verhältnis dazu sein Körper winzig und hager war. Sein kurzer Stoppelhaarschnitt verstärkte diesen Eindruck zusätzlich. Jan verabscheute ihn am meisten von seinen Mitschülern, da er immer alles wusste und auf jede Frage eine Antwort hatte. Zudem war er Klassenbester, obwohl er der Jüngste in der Klassengemeinschaft war. Nur im Sportunterricht war er noch schlechter als Jan. Lewis beachtete Jan nicht weiter, sondern tat wie sonst auch so, als sei er Luft. Jan war ihm deswegen keinesfalls böse, denn er wollte mit Lewis möglichst wenig zu tun haben.
„Hast du endlich ausgeschlafen?“ provozierte Chira frech.
„Ein Wunder, dass er überhaupt kommt“, pflichtete ihr Yumiko bei.
In der Fünfergruppe entsprachen nur die beiden Mädchen dem in dieser Klassenstufe üblichen Alter von zwölf Jahren. Chira war schlank und hatte eine braune Hautfarbe. Ihr krauses, dunkles Haar stand zu allen Seiten ab, wenn sie es nicht zu einer dicken Quaste hinter ihrem Kopf zusammenband. Yumikos Augen waren mandelförmig und ihr fast schwarzes, glattes Haar, das sie meist offen trug, reichte ihr bis zur Hüfte. Trotz ihrer hohen Wangenknochen wirkte ihr Gesicht schmal. Mit Abstand war Yumiko die Zierlichste aus der Klasse, sodass sie jünger wirkte. Nur Lewis war noch schmächtiger als sie. Die beiden Mädchen waren beste Freundinnen. Sie unternahmen alles gemeinsam und lachten viel miteinander. In der Schule machten sie sich oft über Jan lustig, wenn er sich im Unterricht mit seinen schwachen Leistungen blamierte.
„Schön, dass du da bist. Dann können wir gleich losgehen“, begrüßte Frau Dubois den verspäteten Ankömmling.
Das Grüppchen wurde von der Lehrerin für Raumfahrt und Technik betreut. Frau Dubois war mittleren Alters und selbstbewusst. Obwohl sie auch zu Jan immer nett und freundlich war, mochte er sie nicht, da sie ständig versuchte, ihm gegen seinen Willen etwas beizubringen.
Nachdem Jan den Gruß seiner Lehrerin unwillig erwidert hatte, setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Es ging zu den Raumschiffdocks. Jan trottete lustlos den anderen hinterher. Solange sie ihn nicht zur Erde zurückbringen würden, fand Jan Raumschiffe langweilig. Nach einem Fußmarsch durch die Station erreichten sie den Zugang zu den Docks. Dort wurden alle vom Sicherheitsdienst überprüft. Dazu wurden ihre Indentifikatoren ausgelesen und jeder erhielt einen elektronischen Passierschein. Anschließend durften sie durch die Eingangstüren die große Raumschiffhalle betreten.
Jan war überwältigt. Noch nie hatte er auf der Mondstation so einen gigantisch großen Raum gesehen. Über ihn spannte sich eine riesige Kuppel aus Glas, durch das er die Sterne sehen konnte. Für einen Moment fühlte sich Jan wie unter dem freien Sternenhimmel, den er von der Erde her in Erinnerung hatte, auch wenn die Sternbilder hier anders aussahen. Er genoss diesen Anblick der Freiheit und konnte sich nicht daran sattsehen. Jan hätte stundenlang dastehen und in den Himmel schauen können, aber Frau Dubois trieb ihn weiter.
Seine Mitschüler beachteten die Sterne in keiner Weise. Sie interessierten sich nur für die Raumschiffe, die in der Halle standen. Es waren überwiegend kleinere Frachtschiffe, die das abgebaute Erz zu den riesigen Raumfrachtern brachten, die zu groß zum Landen waren und daher im Orbit kreisen mussten. Am Rand der Raumschiffhalle waren mehrere Startrampen in Form von dicken, durchsichtigen Röhren, die schräg nach oben führten, in die Hallenwände eingebaut.
Ein Sicherheitsmitarbeiter führte die Schüler und Frau Dubois quer durch die gesamte Halle zu einer Startrampe, auf der ein kleines Raumfahrzeug stand, das offensichtlich dem Transport von Personen diente. Ein Mädchen war gerade dabei, an dem Raumschiff zu hantieren. Jan kannte sie von der Schule. Sie war früher zwei Klassen über ihm und hatte inzwischen ihren Abschluss gemacht.
Als sie die Schüler bemerkte, richtete sie sich auf und kam ihnen ein Stück entgegen. Das Mädchen war auffällig dünn und hoch gewachsen, wie es für Menschen üblich war, die in Schwerelosigkeit oder unter nur sehr geringer Schwerkraft aufgewachsen sind. Jan schloss daraus, dass sie ihre Kindheit an einem entsprechenden Ort verbracht haben musste, bevor sie auf die Mondstation gekommen war. An ihrem aschblonden Haar, das sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt hatte, und ihren leuchtend grünen Augen erkannte er, dass das Mädchen ein Designerkind war. Das heißt, sie war ein normales Kind aus Fleisch und Blut wie Jan und seine Mitschüler, jedoch hatten ihre Eltern mit den Möglichkeiten der Gentechnik ihr Aussehen und weitere persönliche Merkmale nach ihren Wünschen vorherbestimmt. Es war zwar verboten, Kinder nach Wunschvorstellungen zu erzeugen, aber das konnte nicht überall in dem grenzenlosen Universum lückenlos kontrolliert werden. Daher gab es einige von diesen Designerkindern.
Die Staaten, die es auf der Erde gab, waren aufgelöst worden und die Menschheit hatte sich zu einer einzigen großen Nation zusammengeschlossen, die das Weltall eroberte. Überall im Weltraum galten die gleichen Rechte und Gesetze. Manche Kolonien legten diese aber sehr eigenwillig zu ihren Gunsten aus. Insbesondere in den weiter entfernten Ansiedlungen der Menschen war es nahezu unmöglich, die Einhaltung aller Bestimmungen und Vorschriften zu überwachen. Einige dieser Außenposten wirtschafteten in ihre eigene Tasche. Korruption und Verbrechen waren an der Tagesordnung. Ordnung und Gerechtigkeit gab es dort nicht. In der Mondstation war es anders. Obwohl sie sich weit weg von den anderen Kolonien befand, wurde hier die Befolgung der Gesetze weitgehend durchgesetzt, wofür die verantwortungsbewusste und strenge Leitung der Station sorgte.
Frau Dubois begrüßte das Mädchen und sprach zu ihren Schülern: „Das ist Xenia. Sie ging früher auf unsere Schule und wird euch nun ihren Beruf vorstellen.“ Zu dem Mädchen gewandt fuhr sie fort: „Bitte Xenia, sagt etwas zu dir und deiner Ausbildung, die du gerade machst.“
Das Mädchen lächelte kurz verlegen und begann dann selbstsicher zu sprechen: „Hallo, ich heiße Xenia und bin sechzehn Jahre alt. Vor einem Jahr habe ich den Schulabschluss gemacht und werde seitdem in der Wartung von Raumfahrzeugen ausgebildet. Zu meinen Aufgaben gehört es, die Raumschiffe für ihren nächsten Flug vorzubereiten. Dazu sehe ich nach, ob alles funktioniert, fülle bei Bedarf Verbrauchsmittel auf und führe auch kleinere Instandhaltungs- und Ausbesserungsarbeiten durch. Wenn ich feststelle, dass größere Reparaturen erforderlich sind, melde ich dies der Raumschiffwerft, die sich dann darum kümmert.“
„Was ist das für ein Raumschiff da?“, fragte Chira, wobei sie auf das Raumfahrzeug deutete, an dem Xenia gearbeitet hatte.
„Das ist ein Personentransporter. Der wird eingesetzt, um die Passagieren vom Versorgungsschiff zu holen oder dorthin zu bringen“, antwortete das Mädchen bereitwillig.
„Und was machst du damit?“ wollte Yumiko wissen.
„Ich bin fast fertig damit, es startklar zu machen“, entgegnete Xenia.
„Warum machst du das jetzt schon? Das Versorgungsschiff war doch letzte Woche da und das nächste kommt erst in einem halben Jahr“, hakte Lewis nach.
Xenia lächelte mild und erklärte es geduldig den Schülern: „Übermorgen kommt ein unbemannter Frachter, um Erz abzuholen. Während er beladen wird, fliegt ein Wartungstrupp zu ihm und schaut nach, ob alles in Ordnung ist oder ob etwas repariert werden muss. Dazu habe ich einige Werkzeuge an Bord des Personentransporters gebracht und Raumanzüge, falls außen am Frachtschiff Reparaturen erforderlich sind.“
Die Kinder staunten, was Xenia alles wusste und konnte. Sie zogen ihre Handcomputer, die sie in einer Tasche von ihren Anzügen bei sich trugen, hervor und machten sich Notizen. Nur Jan hatte seinen Computer nicht dabei. Es war aber ohnehin nichts darauf gespeichert.
„Darfst du das Raumschiff auch selbst fliegen?“, erkundigte sich Dimitri.
„Nein, das dürfen nur ausgebildete Piloten. Ich darf es nur von seinem Abstellplatz zur Startrampe manövrieren“, lachte Xenia.
Jan hatte kein Interesse an alledem und war dem Gespräch nicht gefolgt.
Da er nicht dumm dastehen wollte, rang er sich durch, Xenia eine Frage zu stellen: „Musst du das Raumschiff auch auftanken?“
Seine Mitschüler schauten ihn daraufhin an und belächelten ihn, weil er eine törichte Frage gestellt hatte.
„Der weiß aber auch gar nichts“, grinste Dimitri.
„Nein, Raumfahrzeuge muss man nicht betanken. Schon seit Langem werden die Raumschiffe mit Antimaterie betrieben. Die reicht fast ewig. Die Antimaterie ist in Kapseln aus besonderem Material eingeschlossen, damit sie gefahrlos transportiert und aufbewahrt werden kann. Falls doch einmal eine Antimateriekapsel ausgetauscht werden muss, dürfen das nur besonders geschulte Wartungsarbeiter machen, da das sehr gefährlich werden kann, wenn man nicht aufpasst“, erwiderte Xenia sachlich.
Jan ärgerte sich, dass er sich wieder einmal vor seinen Mitschülern mit seiner Unwissenheit eine Blöße gegeben hatte.
„Dürfen wir das Raumschiff besichtigen?“, platzte Lewis neugierig heraus.
„Selbstverständlich dürft ihr das. Kommt mit! Ich zeige euch alles“, antwortete Xenia und führte die Schülergruppe zu dem Personentransporter.
Zwar war dieser Mond schwerer als der Erdmond und seine Anziehungskraft war so stark, dass man keine großen Sprünge machen konnte, wie Jan sie in alten Filmaufnahmen von den ersten Landungen auf dem Erdenmond gesehen hatte, aber seine Schwerkraft reichte nicht aus, um eine Atmosphäre an sich binden zu können. Außerhalb der Mondstation gab es also keine Luft. Damit das Raumfahrzeug aus der luftgefüllten Halle in den Weltraum gelangen konnte, befand es sich in einer bereits luftleeren Startröhre, die nach draußen führte. Um es dennoch betreten zu können, war eine Tür in der Seitenwand der Startrampe eingebaut. Dahinter führte ein kurzer Gangstutzen zur Eingangstür des kleinen Raumschiffes.
„Dieser Zugangsstutzen schließt luftdicht mit der Außenhaut des Personentransporters ab, sodass keine Luft aus der Halle durch die Startröhre entweichen kann“, erzählte Xenia ihren Zuhörern. „Zum Start muss nicht nur die Tür vom Raumschiff, sondern auch die Tür an der Startrampe geschlossen werden, bevor die Verbindung gelöst werden darf. Dann erst kann das Raumfahrzeug starten. Sonst würde die Luft aus der Raumschiffhalle durch den Gang in die Startröhre ausströmen.“
Die Schüler waren beeindruckt von Xenias Wissen.
Das Mädchen begleitete die kleine Gruppe durch den Gangstutzen und die beiden offenstehenden Türen ins Raumschiff. Dort erklärte sie alles, was die Kinder wissen wollten. Zuerst ging es nach vorne ins Cockpit. Xenia zeigte ihnen die Anzeigen und Bedienelemente. Jan war überrascht, wie einfach und übersichtlich alles aufgebaut war. Im Mittelteil des Raumfahrzeuges befanden sich mehre Sitzreihen für die Passagiere. An den Seitenwänden dahinter waren einige Schränke angebracht, die Xenia öffnete, damit sich die Schüler die unterschiedlichen Werkzeuge zur Reparatur von Raumschiffen und die Raumanzüge ansehen konnten.
Im hinteren Bereich des Fahrzeugs war der Antrieb untergebracht. Xenia betätigte einen Hebel und eine massive Sicherheitstür glitt zur Seite. Die Kinder waren begeistert, als sie einen Blick in den Maschinenraum werfen durften.
Mit einfachen Worten beschrieb Xenia, wie aus Antimaterie die Antriebsenergie gewonnen wurde: „Trifft Antimaterie auf normale Materie, dann werden unglaublich große Mengen an Energie frei. Daher reicht ein winziges bisschen davon aus, um ein Raumschiff anzutreiben. Wenn zuviel Antimaterie in die Brennkammer vom Treibwerk gelangt, wird es gefährlich und das ganze Raumschiff kann explodieren. Eine genaue Regelung mit einer Sicherheitsvorrichtung sorgt dafür, dass das nicht geschieht.“
Jan verstand nichts davon, aber seine Mitschüler hörten dem Mädchen aufmerksam zu.
Anschließend verließen die Kinder den Personentransporter und versammelte sich vor der Startrampe. Xenia berichtete, wie sie an den Ausbildungsplatz gekommen ist, was sie lernen musste, wie lange die Ausbildung noch dauerte und was sie nach dem Abschluss alles machen konnte. Jan stand daneben und döste im Stehen, da er müde war.
„Schaut mal, was ist das dort oben?“, unterbrach Yumiko den Vortrag.
„Bitte, Yumiko, störe jetzt nicht, solange Xenia spricht!“, wies Frau Dubois das vorlaute Mädchen zurecht.
Yumiko ließ sich aber nicht beschwichtigen. „Nein, da oben ist etwas. Schauen Sie doch selbst.“
„Das sehen wir uns an, wenn wir hier fertig sind. Bis dahin gedulde dich, Yumiko!“, beharrte die Lehrerin.
Die anderen Schüler waren neugierig geworden und blickten ebenfalls durch die Glaskuppel zum Himmel auf. Jan war aus seinem Halbschlaf erwacht und wandte seinen Blick nach oben. Dort war tatsächlich etwas. Es sah aus wie ein fernes Flimmern und Glitzern. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es längst nicht so weit entfernt war wie die Sterne. Die Schüler beobachtete das Phänomen. Nach einiger Zeit stellten sie fest, dass es näher kam.
Inzwischen hatte sich auch Frau Dubois die Erscheinung angesehen und kommentierte fachmännisch: „Das ist nichts weiter als ein Meteoroidenschwarm, zwar ein besonders großer, aber nichts Ungewöhnliches.“
„Ist das gefährlich, wenn der auf uns fällt?“, fragte Chira ängstlich.
„Keine Angst“, beruhigte die Lehrerin das Mädchen. „Wahrscheinlich fliegt er vorbei und trifft uns nicht. Falls doch, dann hat die Mondstation ein gut funktionierendes Abwehrsystem für Meteoroiden.“
Die Kinder waren nun beruhigt und schauten dem Spektakel interessiert zu.
„Heißen die nicht Meteoriten?“, wunderte sich Jan.
Yumiko und Chira kicherten albern, Dimitri verdrehte die Augen und Lewis tat so, als hätte er Jans Frage nicht gehört.
„Aber das weißt du doch, Jan“, lächelte Frau Dubois freundlich.
Jan wurde rot im Gesicht und wagte nicht, etwas zu erwidern.
„Lewis, könntest du Jan den Unterschied bitte erklären!“, fuhr die Lehrerin fort.
„Ja, selbstverständlich“, antwortete der schlaue Junge. „Meteoriten heißen sie erst, nachdem sie auf dem Boden aufgeprallt sind, wo wir sie dann finden können. Wenn sie in die Atmosphäre eines Himmelskörpers eintauchen und dadurch einen leuchtenden Schweif hinter sich herziehen, werden sie Meteore genannt. Das können wir hier aber nicht beobachten, da unser Mond keine Lufthülle besitzt. Solange sie durch das Weltall fliegen, sind es Meteoroiden. Dass wir sie sehen können, liegt daran, dass die Sonne auf sie scheint und sie deren Licht reflektieren.“
„Das ist richtig, Lewis“, bestätigte Frau Dubois. „Jan, merkt dir das!“
„Wie schön die funkeln“, sprach Yumiko voller Bewunderung und legte ihren Kopf in den Nacken, um die Erscheinung besser beobachten zu können.
„So etwas Beeindruckendes habe ich noch nie gesehen“, gestand Dimitri, der auf der Forschungsstation bei seinen Eltern viel erlebt hatte.
„Interessant. Ich frage mich, woher die kommen“, rätselte Lewis.
Er peilte den Schwarm über den Daumen an und versuchte dessen Richtung abzuschätzen.
„Das werde ich nachher meinen Eltern erzählen“, nahm sich Chira vor.
Dabei hüpfte sie vor Aufregung von einem Bein auf das andere.
„Das Weltall hält allerlei Überraschungen für uns bereit. Als Raumfahrer muss man auf alles vorbereitet sein“, fügte Xenia gelassen hinzu.
Jan sagte nichts.
Die Meteoroiden flogen direkt auf die Mondstation zu. Bald konnte Jan erkennen, dass sich in dem Schwarm einige dicke Brocken befanden.
„Und nun könnt ihr gleich sehen, wie unser Meteoroidenabwehrsystem funktioniert. Schaut bitte alle hin“, dozierte Frau Dubois.
Als die Himmelskörper sich auf einen bestimmten Abstand genähert hatten, schossen mehrere Plasmakanonen, die rundherum um die Mondstation aufgestellt waren, ihre heißen Strahlen auf sie ab. Die kleineren von ihnen zerplatzten zu Staub, wenn sie getroffen wurden. Die Kinder staunten und betrachteten begeistert dieses Schauspiel.
Immer wenn einer der Meteoroiden zerschossen wurde, riefen sie im Chor: „Ah!“ und „Oh!“.
Die dickeren Brocken wurden von den Plasmastrahlen aber nur in mehrere Teile gespalten und deren Bruchstücke rasten weiter auf die Station zu. Je öfter sie getroffen wurde, desto mehr Trümmerteile wurden es, die unaufhaltsam näher kamen. Der Schwarm war riesig und immer weitere Meteoroiden folgten nach. Die Plasmakanonen feuerten ununterbrochen auf die herannahenden Objekte. Tatsächlich schafften sie es, die Flut im Zaum zu halten. Keiner der Brocken berührte die Station, ohne zuvor zu kleinen Krümeln zerfallen zu sein. Die Schüler und ihre Lehrerin fühlten sich in ihrem Vertrauen in die Technik bestätigt.
„Seht ihr? Was habe ich euch gesagt? Wir sind bestens dagegen geschützt. Uns kann nichts zustoßen“, sprach Frau Dubois mit leicht überheblich klingendem Unterton.
Doch dann passierte es. Eine der Plasmakanonen fiel wegen Überlastung aus. Die anderen übernahmen ihre Aufgabe mit und schützten die Mondstation zuverlässig. Die Kinder beobachteten fasziniert das Geschehen und glaubten sich in Sicherheit, bis das nächste Abwehrgeschütz aussetzte. Die restlichen Kanonen schleuderten unentwegt ihr heißes Plasma den Meteoroiden entgegen, jedoch konnten sie nicht so viel schießen, um alle zu zerstören. Hoffnungslos überfordert gab eine nach der anderen ihren Dienst auf, bis auch das letzte Plasmageschütz versagte. Für so einen heftigen Ansturm waren sie nicht geschaffen. Die Station war nun dem Meteroroidenschauer schutzlos ausgeliefert. Nichts mehr konnte sie retten.
Es gab einen ohrenbetäubenden Knall und der Boden bebte untern ihren Füßen. Der Schreck fuhr den Kindern in die Glieder. Einer der großen Brocken war in der unmittelbaren Nähe eingeschlagen. An dem berstenden Geräusch erkannte Jan, dass die Mondstation getroffen worden war. Angsterfüllt blickten ihre Schüler Frau Dubois an, die zunehmend unruhiger wurde.
Kurz darauf hörten sie ein Splittern hoch über sich. Ein kleineres Bruchstück hatte die Glaskuppel der Raumschiffhalle durchschlagen. Ein lautes Brausen und Heulen ertönte, als die Luft durch das Loch ausströmte. Die Kinder spürten an dem Druckgefühl in ihren Ohren, dass der Luftdruck in der Halle abnahm. Sie gerieten in Panik. Chira und Yumiko klammerten sich aneinander. Lewis wurde noch bleicher im Gesicht, als er ohnehin schon war, und Xenia starrte wie gebannt zum Himmel.
„Wir müssen weg hier, zurück in die Station, sonst ersticken wir“, schrie Dimitri außer sich.
Er rannte planlos in Richtung zur Hallenmitten. Chira und Yumiko folgten ihm blindlings.
„Halt, nein, kommt zurück! Bis zur Eingangstür ist es zu weit, das schaffen wir nicht mehr. Außerdem sind wir in der Station auch nicht sicher“, rief Frau Dubois beherrscht.
Weitere heftige Einschläge in der Mondstation waren deutlich zu hören und ließen die Umgebung erzittern. Chira, Yumiko und Dimitri erschreckten sich dadurch so sehr, dass sie auf der Stelle umkehrten und zu den anderen zurückliefen.
Jan stand wie angewurzelt da und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er beobachtete seine Mitschüler, als wenn es ihn nicht betreffen würde, was da vor sich ging. Innerlich war er jedoch aufgebracht und hatte schreckliche Angst. Alles krampfte sich in ihm zusammen und ihm wurde schlecht.
„Gibt es hier einen Schutzraum?“, fragte Lewis aufgeregt.
Xenia schüttelte den Kopf. Auch sie hatte keinen Vorschlag, wie sie sich retten konnten. Der Druck auf den Ohren wurde stärker und die Luft in der Halle spürbar dünner. Wieder vibrierte der Boden unter ihnen von einem Aufprall in ihrer Nähe. Alle zuckten vor Schreck zusammen.
Die Schüler starrten voller Furcht auf Frau Dubois. Es war ihr anzusehen, dass sie fieberhaft überlegte.
„Zurück in die Mondstation können wir nicht. Hierbleiben können wir auch nicht“, fasste sie zusammen.
Dann schaute sie Xenia hilfesuchend an und fragte sie: „Kannst du das Raumschiff starten?“
„Nein, ich kann nur damit rangieren“, entgegnete das Mädchen unsicher.
„Du bist doch schon öfter im Simulator geflogen. Das haben wir sogar in der Schule geübt. Also kannst du das Schiff auch starten“, bedrängte die Lehrerin sie.
„Das ist etwas ganz anderes. Dies hier ist ein richtiges Raumfahrzeug und keine Simulation. Wir werden sterben, wenn ich es versuche“, wand Xenia sich verzweifelt.
„Wenn wir hier bleiben, werden wir auf jeden Fall umkommen. Wir müssen es zumindest versuchen. Los alle einsteigen, rein ins Raumschiff!“, befahl Frau Dubois streng.
Xenia sah sie ungläubig an, gehorchte aber und bestieg den Personentransporter. Die anderen drängten sich hinter ihr durch die Tür ins Innere des Schiffes. Xenia ging ins Cockpit und setzte sich zögerlich auf den Platz des Piloten. Als Letzte betrat Frau Dubois das Raumfahrzeug und schloss hinter sich dessen Tür.
„Los Xenia, starte endlich! Worauf wartest du noch?“, brüllte sie nach vorne.
„Das geht nicht. Wir müssen zuerst die Tür in der Startrampe schließen, bevor wir abheben können“, schrie das Mädchen zurück.
„Es ist doch unwichtig, wenn die Luft durch die Rampentür ausströmt. Die Glaskuppel ist undicht. Die Halle wird ohnehin bald luftleer sein“, erwiderte die Lehrerin ungeduldig.
„Nein, das funktioniert nicht. Es gibt eine Sicherheitsvorrichtung. Es reicht nicht, wenn nur die Raumschifftür geschlossen ist. Erst wenn auch die Tür in der Rampe verschlossen wird, kann ich die Verbindung trennen und starten“, rief Xenia aus dem Cockpit.
„Dann machen wir sie eben zu. Was ist daran so schlimm?“, beschwerte sich Frau Dubois.
„Die Rampentür lässt sich nur von außen schließen. Einer muss aussteigen und die Tür von der Halle aus zuschieben. Anders geht das nicht“, erklärte ihr Xenia, wobei ihre Stimme vor Angst zitterte.
„Dann kann also einer von uns nicht mitfliegen und muss hierbleiben?“, fragte Yumiko zweifelnd.
„Ja, genauso ist es“, bestätigte Xenia.
„Wenn das so ist, dann können wir nicht starten und müssen hierbleiben“, entschied Dimitri.
Seine Mitschüler stimmten ihm traurig zu.
„Wir könnten die Verbindung zur Startrampe gewaltsam trennen. Wir haben doch Werkzeuge hier. Lasst uns das ausprobieren“, schlug Lewis vor.
„Auch das geht nicht. Um die Verrieglung zu lösen, müssten wir außerhalb vom Raumschiff arbeiten. Sobald sie sich löst, strömt sofort die Luft aus und wir ersticken“, versuchte Xenia ihm begreiflich zu machen.
„Und wenn wir uns Raumanzüge anziehen, macht uns das nichts aus“, entgegnete Lewis.
„Es sind aber nur zwei davon an Bord. Die reichen nicht für uns alle. Zu zweit schaffen wir es nie rechtzeitig“, verwarf Xenia seinen Plan.
„Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wir müssen jetzt etwas tun, sonst ist es zu spät“, herrschte die Lehrerin die Kinder voller Verzweiflung an.
In diesem Moment zertrümmerte ein größerer Meteoroid einen Teil des Glasdachs. Der Luftdruck fiel nun deutlich schneller ab.
Frau Dubois sprang auf und schrie: „Ich mach sie zu.“
„Nein, bitte nicht!“, riefen ihre Schüler ihr entsetzt hinterher.
„Doch! Wenigstens ihr müsst euch in Sicherheit bringen. Sobald ich die Rampentür verschlossen habe, startet ihr! Keine Widerrede! Das ist ein Befehl“, kommandierte die Lehrerin.
Noch ehe die Kinder reagieren konnten, war Frau Dubois aus dem Raumschiff gerannt und schob von außen die schwere Tür in der Startrampe zu, bis sie hörbar in der Verriegelung einrastete. Der Weg zurück in das Raumfahrzeug war ihr dadurch versperrt.
Jan war erschüttert. Frau Dubois opferte ihr eigenes Leben, um ihre Schüler und auch ihn zu retten, der sie nicht mochte und der dies nicht vor ihr verbarg. Jan hatte ein schlechtes Gewissen. Das hatte er nicht verdient, dass ein anderer Mensch sein Leben für ihn hingab. Frau Dubois hatte sich immer um Jan gekümmert und war freundlich zu ihm, auch wenn er sie seine Ablehnung spüren ließ. Das war zuviel für ihn, dass sie in den sicheren Tod ging, damit er leben konnte. Durch die Fenster in der Seitenwand des Raumfahrzeuges konnte er sehen, wie Frau Dubois neben der Startrampe stand und den Kinder zuwinkte. Jan konnte den Anblick nicht ertragen, wie sie im Angesicht des Todes versuchte, ihre Schüler aufzumuntern.
Xenia zögerte mit dem Start. Sie war unsicher, ob sie das Richtige tat. Ein kleiner Fehler und sie alle würden sterben. Während das Mädchen überlegte, schlug direkt neben der Startrampe ein Meteoroid mit lautem Krachen ein. Staub und Metallteile wirbelten auf. Es dröhnte gefährlich, als eines der Metallstücke von außen gegen die Startröhre prallte. Die Kinder schrien voller Furcht durcheinander. Xenia wurde klar, dass sie nicht länger warten durfte.
„Setzt euch hin, schnallt euch an und haltet euch fest!“, brüllte sie.
Zeit für einen Startcheck blieb ihr nicht. Sie musste es jetzt riskieren, sonst wären sie verloren. Das Mädchen schluckte, atmete tief durch und drückte den Startknopf. Mit einem kräftigen Ruck zündete das Treibwerk und die Kinder wurden so fest in die Sitze gepresst, dass ihnen die Luft wegblieb. Der Personentransporter beschleunigte und schoss aus der Startröhre heraus in das tiefe Schwarz des Weltalls hinein.