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5. Ein Bild der Zerstörung

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„Was machen wir jetzt?“, fragte Yumiko.

„Wir müssen uns sofort bei der Mondstation melden, damit sie wissen, dass wir noch leben“, antwortete Chira.

„Ja, sonst denken die, dass wir im Meteoroidenhagel umgekommen sind“, ergänzte Dimitri.

„Wir sollten so schnell wie möglich den Funkkontakt zur Station aufnehmen“, schlug Lewis vor, der wieder den Platz des Navigators eingenommen hatte.

„Ihr habt recht“, stimmte Xenia zu und ging ins Cockpit, wo sie sich auf den Pilotensitz setzte.

„Hier Personentransporter 3 für Mondstation MX 3852“, sprach Xenia ins Mikrofon.

Sie wartete ab, aber keine Antwort kam aus dem Lautsprecher.

„Personentransporter 3 ruft Mondstation, bitte melden“, wiederholte das Mädchen.

Wieder Stille.

„Hallo, hört mich jemand? Hier ist Personentransporter 3. Wir sind im Orbit. Kann uns jemand empfangen?“, versuchte Xenia es noch einmal.

„Nimm einen anderen Kanal“, riet ihr Lewis.

„Ich probiere den Notfallkanal. Dort muss immer jemand zu erreichen sein“, entgegnete Xenia und wechselte die Funkfrequenz.

„Hier Personentransporter 3 für Mondstation MX 3852“, sprach Xenia erneut ins Gerät, aber auch hier kam keine Antwort.

„Ich denke, der Funk ist gestört durch so einen Quasar. Ich kann meine Eltern auf der Erde schon seit über einem Jahr keine Nachricht mehr senden“, platzte Jan dazwischen.

„Du bist aber schwer von Begriff. Das betrifft doch nur den Hyperraumfunk. Der normale Funkverkehr funktioniert weiterhin“, machte sich Chira über ihn lustig.

„Vielleicht ist unser Funkgerät kaputt“, vermutete Yumiko.

„Das kann nicht sein. Ich sehe auf der Anzeige, dass unser Signal tatsächlich gesendet wird, und ich empfange kosmisches Rauschen. Unsere Funkeinrichtung ist also in Ordnung“, erwiderte Xenia.

„Das stimmt zwar“, warf Lewis ein, „aber wir sollten es trotzdem mit einem zweiten Gerät überprüfen.“

Lewis sprach in den Funkapparat, der sich am Platz des Navigators befand. Die Kinder warteten gespannt auf eine menschliche Stimme am anderen Ende der Funkverbindung, die ihnen sagte, dass alles gut werden würde. Aber die Stimme kam nicht, auch sonst keine Reaktion, nur das leise Rauschen des Kosmos im Hintergrund. Lewis versuchtes es ein weiteres Mal, jedoch ohne Erfolg.

„Möglicherweise sind die Funkantennen auf der Mondstation durch den Meteoroidenschauer zerstört worden. Dann können wir lange warten, bis uns jemand hört“, suchte Dimitri nach einer Erklärung.

„Ja, das wird es sein“, bestätigte Lewis. „Das ist der Grund für die Funkstille.“

„Vielleicht reparieren sie inzwischen ihre Funkanlagen. Wir müssen regelmäßig versuchen, die Mondstation anzufunken“, beschloss Xenia.

„Können wir nicht einfach auf dem Mond landen?“, fragte Jan.

„Uns wird auf Dauer nichts anderes übrig bleiben, wenn wir von der Mondstation nichts hören. Aber bevor wir das tun, will ich mir zuerst ansehen, wo wir aufsetzen können. Ich möchte wissen, ob es dort einen sicheren Landeplatz für uns gibt“, antwortete Xenia.

Während sie in ihrem Orbit über der Mondstation kreisten, schauten die Kinder aus den Fenstern und versuchten angestrengt, etwas zu erkennen.

„Wir sind viel zu hoch. Von hier aus können wir nicht sehen, was dort unten los ist. Wir müssen weiter runter“, stellte Xenia fest.

„Können wir nicht tiefer fliegen?“, erkundigte sich Jan.

„Das geht nicht so einfach. Wir sind mit einem Raumschiff den Gesetzen der Schwerkraft ausgesetzt“, erklärte Lewis ihm.

„Wieso? Ich dachte, hier im Weltraum gibt es keine Schwerkraft“, fragte Jan ungläubig.

„Ach Jan, hast du im Unterricht denn nicht aufgepasst? Hier draußen auf unserer Bahn um den Mond ist die Anziehungskraft fast genauso groß wie unten auf seiner Oberfläche“, versuchte Lewis ihm verständlich zu machen. „Es wirken bloß auf das Raumfahrzeug und auf uns die gleichen Kräfte. Deswegen spüren wir nichts davon und fühlen uns schwerelos. Auch wenn wir durch das Raumschiff schweben können, solange die künstliche Schwerkraft nicht eingeschaltet ist, müssen wir dennoch die Anziehungskraft des Mondes bei unseren Flugmanövern berücksichtigen.“

Jan begriff nichts davon und schmollte, weil er sich erneut vor seinen Mitschülern lächerlich gemacht hatte.

„Ich könnte uns in eine niedrigere Umlaufbahn bringen, damit wir besser sehen können“, überlegte Lewis laut. „Das ist aber zu gefährlich, da die Flugbahn instabil werden könnte und wir dann abstürzen. Besser wäre es, wenn wir uns in einen stark elliptischen Orbit schießen, der auf einem seiner Enden dicht über der Mondoberfläche liegt. Dadurch kämen wir weiter herunter, ohne uns zu gefährden.“

„In Ordnung, mach das“, stimmte Xenia zu.

„Wir müssen nur den richtigen Zeitpunkt abpassen, damit unsere dichteste Annährung an den Mond direkt über der Station liegt“, gab Lewis zu bedenken.

Jan verstand von alledem nichts, vertraute aber darauf, dass der superschlaue Junge wusste, was er tat.

Zur genau berechneten Zeit zündete das Triebwerk und katapultierte den Personentransporter weit in den Weltraum hinein.

„Ich dachte, wir wollten tiefer hinunter. Weshalb fliegen wir denn jetzt vom Mond weg?“, wunderte sich Jan.

„Warte es ab. Du wirst es bald sehen“, entgegnete ihm Lewis geheimnisvoll.

Tatsächlich wurde das Raumschiff immer langsamer, bis es schließlich umkehrte und auf den Mond zustürzte.

Die Kinder nutzten die Zwischenzeit, um sich mit Wasser aus Trinkflaschen und Astronautennahrung zu stärken. Das Wasser schmeckte abgestanden und die Paste aus den Tuben fade, aber die Mahlzeit tat ihnen gut. Von ihren traumatischen Erlebnissen der letzten Stunden waren sie verstört und fanden erst nach und nach wieder zu sich selbst. Teilnahmslos saßen die sechs Kinder in ihren Sitzen und versuchten das verarbeiten, was sie durchgestanden hatten. Die Erschöpfung war ihnen allen anzusehen.

„Meine Eltern werden sich schon große Sorgen machen. Die denken sicherlich, dass ich tot bin“, sagte Yumiko.

„Meine auch“, pflichtete Chira bei.

„Wir müssen so bald wie möglich landen, sonst ängstigen sich mein Vater und meine Mutter noch zu Tode“, drängte Dimitri.

„Wir landen sofort, sobald wir wissen, wo wir sicher aufsetzen können“, erwiderte Xenia.

Jan war von der Rettungsaktion im Weltall verschwitzt und sein Anzug klebte an seinem Körper. Er beschloss, sich zu duschen. Dazu stieg er in die enge Duschkabine, die von außen aussah wie ein Schrank. Seine Kleidung einschließlich der Schuhe stopfte er in die trichterförmige Öffnung des Regenerators, der an einer Seitenwand in der Duschkabine angebracht war. Die Dusche besaß eine Absaugung für das Wasser, sodass sie auch bei Schwerelosigkeit hätte benutzt werden können. Nun aber floss es aufgrund der künstlichen Schwerkraft von allein in den Abfluss. Nachdem Jan mit dem Duschen fertig war, lag seine Bekleidung sauber und frisch im Ausgabefach des Regenerators.

Als Jan die Dusche verließ, stellte er fest, dass das Raumschiff den Mond fast erreicht hatte.

„Wir werden in einer engen Bahn tief über die Mondoberfläche fliegen“, verkündete Lewis. „Daher sind wir sehr schnell und haben nicht viel Zeit zum Beobachten. Passt also gut auf, damit uns nichts entgeht.“

Die Seite des Mondes, auf der die Station lag, war von ihnen abgewandt, sodass sie sie nicht sehen konnten. Die Anziehungskraft des Mondes zwang das Raumfahrzeug, ihn in geringem Abstand mit hoher Geschwindigkeit zu umrunden. In wenigen Minuten würde die Station in Sichtweite kommen. Die sechs Kinder schauten erwartungsvoll aus den Fenstern der Kabine.

Endlich erspähten sie die Mondstation oder genauer das, was von ihr übrig geblieben war. Ihnen bot sich ein verheerendes Bild der Zerstörung. Überall lagen verbogene Metallteile und gesplittertes Glas herum. Der Boden war umgewühlt und mit unzähligen Kratern übersät. Die großen Streben der Raumschiffhalle ragten daraus wie die Finger eines gigantischen Skelettes empor. Kleinere Bruchstücke waren in der gesamten Umgebung verstreut. Jan fand die Stelle, an der sich die Wohnung von Tante Martha und Onkel Wilhelm befunden hatte. Nichts mehr davon war übrig geblieben. Die Kinder konnten nicht einen einzigen Bereich der Station entdecken, der von dem Meteoroidenschauer verschont worden war. Alles war zerstört. Nirgendwo war ein Anzeichen menschlichen Lebens zu finden.

Die Flugbahn des Schiffes führte sie weiter zu den Minen, die außerhalb der Mondstation lagen. Dort wurde mit einer riesigen Maschine das Erz abgebaut. Sie war fast so groß wie eine kleine Stadt. Viele Menschen arbeiteten in ihr. Die Kinder waren entsetzt, als sie die Abbaumaschine erblickten. Sie lag zerborsten vor ihnen wie ein ausgeweidetes Tier. Ihre Trümmer waren über ein weites Gebiet verteilt. Nichts mehr war von ihrer ursprünglichen Gestalt und Größe zu erahnen. Wie dürre Halme waren die massiven Ausleger abgeknickt und verdreht.

„Wir müssen landen und ihnen helfen“, schrie Chira.

„So wie das aussieht, kann dort unten keiner mehr leben“, entgegnete Lewis mit einer unnatürlichen Sachlichkeit.

„Schnell, meine Eltern sind da draußen irgendwo. Wir müssen zu ihnen“, forderte Yumiko aufgeregt.

„Tut mir leid, aber ich muss Lewis recht geben. Niemand kann so eine schreckliche Katastrophe überlebt haben“, sprach Xenia bedrückt.

„Zumindest müssen wir es versuchen. Lasst uns nachsehen, ob nicht doch jemand das Unglück überstanden hat“, verlangte Dimitri energisch.

„Wo soll denn noch jemand sein? Es ist alles zerstört. In der Station kann keiner mehr am Leben sein“, versuchte Lewis ihm zu erklären.

„Vielleicht sind sie verschüttet und liegen unter Trümmern begraben. Wir sind doch auch davongekommen“, sagte Jan.

„Ohne Luft kann aber kein Mensch existieren. Die Außenhaut der Station ist völlig zerfetzt. Nirgendwo kann dort noch jemand atmen“, erwiderte Lewis.

„Wir können ohnehin nicht landen. Schaut euch die Mondoberfläche an. Die ist vollständig verwüstet und von Kratern überzogen. Auf diesem unebenen Untergrund kann kein Raumfahrzeug sicher aufsetzen. Wenn wir es versuchen, bringen wir uns in große Gefahr. Falls wir es doch schaffen sollten, dass Raumschiff heil zu landen, werden wir von der zerfurchten Oberfläche nie wieder starten können. Außerdem bräuchten wir Raumanzüge, um in die Station zu gehen, da dort keine Luft mehr ist. Wir haben nur zwei davon“, gab Xenia zu bedenken.

„Was sollen wir sonst machen?“, fragte Dimitri weinerlich.

Keiner gab ihm darauf eine Antwort. Allen war inzwischen klar geworden, dass sie nichts mehr für die Menschen auf dem Mond tun konnten.

Lewis programmierte in den Steuerrechner einen höheren Orbit ein, in dem der kleine Personentransporter in gleichmäßigem Abstand um den Mond kreiste. Die Kinder standen an den Fenstern und schauten traurig auf seine Oberfläche hinunter. Alle schwiegen. Keiner von ihnen sagte etwas. Sie konnten nicht fassen, was geschehen war. Chira weinte laut los und Yumiko schluchzte leise. Dimitri verbarg sein Gesicht in den Händen und über Lewis Wangen rannen dicke Tränen. Xenia stand mit bleichem Ausdruck wie versteinert da.

Äußerlich zeigte Jan keine Gefühlsregung. In seinem Innersten war er aber aufgewühlt. Er dachte an seine Tante, seinen Onkel und seine Cousine. Auch wenn er Tante Martha und Mechthild nicht mochte, so hatten sie dieses Ende nicht verdient. Jan machte sich Vorwürfe, dass er sie gehasst hatte. Er vermisste den gutmütigen Onkel Wilhelm, der ihm immer helfen wollte und dessen Hilfe Jan zurückgewiesen hatte. Jan schämte sich. Er würde alles dafür tun, damit sie weiterleben konnten. Aber es gab nichts, mit dem er die drei vor ihrem Schicksal hätte bewahren können.

Jan konnte den Anblick nicht vergessen, wie Frau Dubois an der Startrampe stand und ihren Schülern nachwinkte, als sie ihr eigenes Leben gab, um die Kinder zu retten. Sein Gewissen quälte ihn, da er sie ablehnte, obwohl sie sich um ihn bemühte. Jan grübelte. Was war mit Piet? Ihn gab es nun nicht mehr. Jans einziger Freund, den er auf der Mondstation gehabt hatte, lag begraben unter den Trümmern. Immerhin musste sich Piet keine Sorgen mehr machen, welche Strafe ihn für das Schmuggeln der verbotenen Spiele erwartete. Das war aber kein Trost für Jan. So einsam und mutlos wie jetzt hatte er sich noch nie zuvor gefühlt.

Zu der unermesslich großen Trauer der Kinder mischte sich ein anderes Gefühl, das Gefühl, allein auf sich gestellt zu sein. Weit und breit gab es außer ihnen keine anderen Menschen, die ihnen hätten helfen oder sie hätten trösten können. Schmerzlich wurde ihnen bewusst, dass sie ohne Hilfe hoffnungslos verloren waren, verschollen in den unendlichen Tiefen des Weltalls wie ein Staubkorn im Sand der Wüste oder eine Träne in den Wassermassen des Ozeans. Sechs Kinder in einem winzigen Raumschiff mitten im Universum weit entfernt von jeglicher menschlichen Zivilisation fühlten sich mutterseelenallein und von allen verlassen.

Fluchtziel Erde

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