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9.

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Als Modeverkäuferin einer Kette, die sich darauf spezialisiert hatte, die Haute Couture mit billigen Stoffen nachzumachen und an junge Leute zu verkaufen, legte die junge Frau aus dem Ruhrgebiet Wert auf einen »gewissen Status«. So redete kein Mensch in ihrer Stadt, aber immerhin: Um dem Reden ein Alibi zu verleihen, fuhr sie gerne nach Düsseldorf, um mal etwas anderes zu sehen, wie sie sich ausdrückte.

Natürlich gab es anschließend immer viel zu erzählen vom Bummel auf der sündhaft teuren Königsallee, wo all die Rang-mit-Namen-Boutiquen vertreten waren, und ihr fiel auf, wie überdreht die Verkäuferinnen dort wirkten. Vielleicht waren sie auch nur stolz darauf, für eine Luxusmarke arbeiten zu dürfen, die sie sich selbst niemals leisten konnten. Vielleicht wäre eine gewisse Heiterkeit auch unpassend. Wer für einen Pullover 1.850 Euro bezahlt, erwartet vom Personal respektvolles Verhalten. Angemessene Distanz. Ruhige Stimme. Jede Unebenheit im Aufritt würde das Kaufritual erheblich stören.

Ihr kleines Badezimmer mit einem überdimensioniert großen Spiegel war ihr Sehnsuchtsort. Er war umrahmt mit 16 Glühbirnen, um das Gesicht fasergenau auszuleuchten. Wie eine Sonne aus der Steckdose verbreitete dieses Licht Wärme für ein Gefühl der Genugtuung. »Das bin ich. Ich bin die Schönheit. Die Engel werden es bezeugen.«

Von oben betrachtet wirkte ihr Badezimmer wie ein Atelier. Ordnung würde nur stören. Chaos bedeutete Leben. Ein Leben ohne Anpassung. Wild. Frei. Selbstbestimmt. Lebe dein Leben und nicht die Erwartungen anderer Menschen.

Sie lächelte in sich hinein und die Konturen ihres Gesichtes offenbarten einen Stolz, der auf den großen Applaus wartete. Was in diesem Leben wirkte, war großes Theater. Die kriechende Raupe mutierte zum begehrten Schmetterling, und seine Flügel, olivgrün mit feinem Ockergelb, ach wie schön, schlugen heiter im weichen Wind.

»Ich bin die Schönste im ganzen Land«, sang sie heiter zu ihrem Ebenbild im Spiegel.

In Augenhöhe des Spiegels stand ein roter Samtplüschhocker wie in einem Hollywood-Filmstudio, als würde sich gerade Cate Blanchett oder Julia Roberts für die nächste Szene die Lippen nachziehen. Aber hier saß nicht Hollywood, sondern das Ruhrgebiet. Auf der schmalen Ablage unter dem Spiegel und dem Beistelltischchen neben der Toilette befanden sich all die Instrumente für die Vollendung ihres Gesichtes. Puderdöschen, Rouge, Pinselset mit breiten und schmalen Bürsten aus Echthaar, sechs Lippenstifte in Kirschrot, Rosé, Beerentönen, Pink und Orange. Lipgloss, Lidschatten mit matten und schimmernden Nuancen, Augenbrauenzupfer, Abdeckcreme, Kajalstifte, Glätteeisen, Lockenmaschine, Wimperntusche, Abdeckfarben, Nagellack, Scheren, Haarbürsten wiederum in Echthaar, Anspitzer für die Kosmetikstifte, Schwämmchen, Seifen, Haargummis in verschiedenen Farben.

Sie saß mit geradem Rücken auf ihrem Samtplüschhocker und betrachtete ihr Gesicht. Sie versuchte, sich an einem großen Gedanken zu orientieren, um ihren Gefühlen eine Stoßrichtung zu geben. Daraus wurde eine Kette aus Impulsen, Fiktionen und Offenbarungen: Die Menschen mussten sie einfach mögen, dachte sie.

Sie träumte. Ein Künstler malte ihr ins Gesicht das Bild einer Versonnenen, die Liebreiz und Begierde in verlockender Ausstrahlung auslebte. Er folgte damit all den Fügungen seiner Kreativität, um seinem Schöpfungsauftrag für sie gerecht zu werden. Aufbegehren, Wille, Struktur. Dafür überwand er Grenzen, um seine Idee von einem magischen Gesicht zu einem großartigen Erlebnis werden zu lassen.

Sie lächelte unterschiedlich in den Spiegel hinein, um zu sehen, welches Lächeln anmutend klar wirkte. Lachen ist das schönste Kompliment an das Leben. Lachen ist wie ein Vulkan, der statt vernichtender Lava eine sinnliche Fröhlichkeit in die Herzen der Menschen fließen lässt. Sie variierte dafür verschiedene Gesichtsausdrücke, bis sie ihre Form mit der passenden Botschaft gefunden hatte: keck, herausfordernd mit gütiger Weiblichkeit.

Sie war getauft worden. Sie war ein Geschenk Gottes. Sie bedeckte ihr Gesicht behutsam mit ihren Händen, als wollte sie es liebkosen, weil sich ihre Haut über Nase, Ohren und Wangenknochen zu einer idealtypischen Schönheitsfassade spannte. Was die Geburt hervorbrachte und über Kindheit und Pubertät bis heute formte, verbarg sich allerdings hinter einer Maske. Wer darauf schaute, konnte nicht ahnen, was sich dahinter verbarg.

Ihre Wahrheit.

Ein letzter Frühling am Rhein

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