Читать книгу Ein letzter Frühling am Rhein - Frank Wilmes - Страница 15
10.
Оглавление»Okay, kommt mal alle zusammen!« Dabei klatschte Kilian wie ein Trainer in die Hände, als müsste er sein Team anstacheln, alles aus sich herauszuholen. Kraft, Energie und Willensstärke, um den Mörder zu finden.
»Ich brauche keine Motivation, ich bin motiviert«, bemerkte Miko trocken.
»Wer ist das nicht?«, fragte Cosima herausfordernd.
Kilian schaute ernst. »Denkt dran, wir sind die Jäger, der Mörder ist der Gejagte. Er weiß nicht, welchen Vorsprung er hat. Ein Vorsprung, der jede Minute, jede Stunde und jeden Tag weg sein kann, und dann läuft alles auf das Finale zu. Die Angst sitzt ihm im Nacken. Wenn wir wissen, wer dieser Mensch sein könnte, ist, finden wir ihn auch. Dann gibt es kein Entkommen mehr.« Dabei ballte er seine Faust.
»Bist du unter die Wikinger gegangen?«, warf Miko belustigt ein.
Kilian verkniff sich einen Kommentar.
Cosima wollte gerade etwas sagen, bevorzugte aber dann doch einen Schluck aus dem Kaffeebecher.
Kilian schaute Cosima und Miko an. »Ich komme auf den Brief zurück, der uns zum Opfer geführt hat. Eine erste fototechnische Analyse und die Kameraaufzeichnungen haben ergeben, dass ein Mädchen diesen Brief in unseren Briefkasten geworfen hat. Das heißt wiederum, der Mörder oder – ganz allgemein gesprochen – ein schuldfähiger Erwachsener war es nicht.«
»Aber das ist ja unglaublich«, ereiferte sich Cosima, »dass eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind zum Komplizen machen.«
»Moment, nicht so schnell«, grätschte Miko in die steile These seiner Kollegin. »Wir wissen viel zu wenig, um dies oder das zu behaupten.«
Cosima stöhnte den Einspruch weg.
Kurzes Schweigen.
Kilian nippte an seinem Kaffeebecher, schaute in die Runde und animierte: »Lasst doch die Fotos von diesem Mädchen einfach mal auf euch wirken. Schaut euch alles genau an, als müsstet ihr die ›Mona Lisa‹ begutachten. Wie häufig schauen wir zum Beispiel auf ein Urlaubsfoto, aber wir schauen nicht mehr richtig hin, weil Urlaubsfotos immer gleich sind. Also: Pupillen scharf stellen, Gehirn anmachen.«
Kurzes Schweigen.
Cosima ergriff das Wort. »Also, das ist ein Mädchen mit weißen Söckchen und schwarzen Lackschuhen. Es trägt einen übergroßen Mantel, der Schal ist so lang, dass sie ihn mehrmals um Hals und Mund gewickelt hat, und sie trägt eine schwarze Kappe mit der Aufschrift ›Be nice‹. Sie sitzt aber so tief im Gesicht, dass man tatsächlich rein gar nichts sieht.«
»Wenn dieses Mädchen kein Kind ist, sondern ein verkleideter Liliputaner«, fragte Miko unsicher in die Runde.
»Dagegen spreche doch die foto- und videotechnische Analyse der Körpermaße«, entgegnete Cosima eine Spur zu lehrerhaft.
»Nee«, erwiderte Miko nunmehr kraftvoll, »die fototechnische Analyse kann nicht zwischen Kind und Liliputaner entscheiden.«
Cosima runzelte die Stirn. »Doch! Schau auf das gesamte Erscheinungsbild. Es ist völlig klar, dass es sich um ein Kind und nicht um einen kleinwüchsigen Menschen handelt. Schau auf den Gang. So geht doch kein Erwachsener.«
Kilian zog die Lippen breit, knetete mit den Fingern und ließ die Schneidezähne des Oberkiefers kurz hintereinander mehrmals auf die Schneidezähne des Unterkiefers fallen.
Seine Sinne, Gefühle und Gedanken haderten mit diesen komischen Aufnahmen von diesem komischen Kind, weil das Gesamtbild absurd wirkte.
»Das Kind trägt sogar Handschuhe, im Frühling, na klar, damit es keine Fingerabdrücke gibt«, fügte Cosima hinzu.
»Tja, an alles gedacht«, ergänzte Miko und fasste seinen Eindruck zusammen. »Das Kind, wenn es denn ein Kind war, schaut ständig auf den Boden, selbst, als es den Brief in den Briefkasten wirft. Die Anweisung war wohl: Da hängen Kameras, schau nicht in die Kameras! Das Kind ertastet ziemlich umständlich die Klappe des Briefkastens. Na ja, wie ein Blinder oder so ähnlich. Dann geht das Kind langsam zurück. Sehr langsam. Ich habe noch nie so ein langsames Kind gesehen. Es musste wahrscheinlich so langsam gehen, damit die vermummende Kleidung nicht verrutscht. Es kann natürlich auch sein, dass ein hastiges Weglaufen so aussieht, als hätte man etwas zu verbergen. Ah, das Kind trägt eine rosafarbene Tasche mit der Aufschrift ›Grizzly love‹. Ich weiß von meiner Nichte, dass junge Mädchen total auf diese Tasche stehen. Der Renner sind allerdings die Grizzly-love-Sneakers mit den knallbunten Schnürsenkeln und der gummiartigen Bärenkralle, die so cool locker vom Schuh abfällt.«
Kilian schaute sich ein weiteres Mal die Video-Aufzeichnungen an.
Der Gang.
Die gekrümmte Haltung.
Der Briefeinwurf.
Der Rückzug.
Er sah nichts, was ihn weiterbrachte.
Er fragte sich, was er übersehen haben könnte. Wie müsste er den Film anschauen, um neue Gesichtspunkte zu erkennen? Er versuchte, seine Sehgewohnheiten auszublenden. »Aber wie blendet man so etwas aus?«, fragte er sich ratlos. »Ich sehe doch, was ich sehe. Mit den gleichen Augen und dem gleichen Sinn und dem gleichen Kopf. Ich schaue ja genau hin, aber bin ich in der Lage, nicht nur das zu sehen, was ich sehe, sondern auch dahinter zu schauen wie bei einem Kinofilm, um den Regisseur zu verstehen, was er sich bei den Szenen und Dialogen, der Hintergrundmusik und der Kameraeinstellung gedacht hat?«
Kilian verstaute seine Hände in den Hosentaschen und entspannte sich mit Grimassen, verformte seinen Mund zu einem Kuss, zog die Stirn nach oben und wieder nach unten und schloss für einige Sekunden die Augen.
Dann stand er wieder vor der Wand mit den Fotos. Er vertiefte sich in den Vorsatz, die Fotos nicht anzuschauen, sondern sie zu betrachten. Anschauen war für ihn wie angucken und anstarren, um sich einen Eindruck ohne tieferen Sinn zu verschaffen. Betrachten verband er dagegen mit Einkehr und Hingabe, um dem Blick Raum und Zeit zu geben. Denn nur so, meinte er, hebe sich die Distanz zwischen Bild und Betrachter auf.
Meinte er tatsächlich.
Seine Pupillen scannten das Foto. Er musste mehrmals die Augen schließen, um die Pupillen zu entlasten. Je intensiver er sich in dieses Foto verlor, desto starrer wurde seine Aufmerksamkeit. Er hatte das Gefühl, dass sich alle Farben und Konturen zu einer Masse aus Weiß verdichteten. Für einen Moment überlegte er, wie er wohl einem Künstler wiedergeben würde, was er sah.
Sollte er antworten: »Ich sehe nur weiß?«
Der Künstler wäre beleidigt, weil Kilian nicht erkannte, was in diesem Weiß vor sich ging, die feinen Strukturen, Bewegungen, ein Aufbegehren, Mühsal, Kampf.
Wer das Bild nicht lesen konnte, taugte nicht für die Kunst. Er war Durchschnitt. Aber nur die Elite erkannte das Edle. Nur sie konnte die Gedanken des Malers lesen, sie deuten und der Welt öffnen.
Kilian sah immer noch weiß. Er gehörte nicht zur Elite der Kunstkenner. Er war nur Beamter, Leiter der Mordkommission, zuständig für Pragmatismus und »Das-ist-die-Welt«. Kein Platz für Spinner und Lebenskünstler, für inspirierte Intellektuelle und hoffnungslose Esoteriker. Sein Job war die nüchterne Selbsterkenntnis, dass er zu dienen hatte.
Er wunderte sich über seine Gedanken.
»Cosima, komm doch mal«, rief er ihr aus seinem Büro zu, »du bist ja Expertin für die Jugend-Marken-Kultur oder wie ich das nennen soll. Finde bitte alles zur Mütze mit dieser Aufschrift ›Be nice‹ und die Markenbezeichnung ›Grizzly love‹ heraus. Wie teuer diese Produkte sind, in welchem Alter sie gekauft werden und in welchen sozialen Gruppen, Gruppierungen oder Milieus sie zu einem Statussymbol geworden sind. Okay?«
Cosima salutierte ihm mit ironischer Beflissenheit. »Ja, Chef.«
Er rief auch Charlotte an, ob sie von »Be nice« und »Grizzly love« gehört hätte.
»Nein.«
Und er rief Tilda an, immerhin war sie eine Journalistin aus der Modeszene.
»Nein.«
Nein ist die Fratze der Aufklärung.
Nein ist ein Stoppschild.
Nein bedeutet: Such dir dein »Ja!« woanders.
»Mein Gott, ein Scheißfall, wenn es schon an solchen Kinkerlitzchen scheitert.« Kilian schluckte die Buchstaben wie eine Überportion Lebertran.
Cosima fragte sich, weshalb er so einen Wind um läppische Fragen machte. »Ein paar Klicks im Internet, und schon haben wir die Antworten.«
Kilian warf ihr ein angedeutetes Lächeln zu, seine Art, eine Kapitulation zuzugeben. Dann begann er aber schnell mit der Rückeroberung seiner Autorität, meistens mit einem Allerweltsatz: »Dann wollen wir mal.«
Sein Chefgehabe klang immer dann durch, wenn er mit seinen Gedanken und Worten in eine Einbahnstraße fuhr und daraus nicht mehr heil herauskam.
Cosima nahm seine Attitüden gar nicht mehr wahr. Er war durchaus ein emotionaler Mensch, aber berechenbar. Wenn er schlecht drauf war, wirkte er in allem sehr reduziert. Er sprach weniger, ging nicht zum gemeinsamen Mittagessen, machte die Tür seines Büros zu.
In heiteren Momenten oder in Momenten, wenn ihm der Sinn nach neckischer Ironie stand, nannte er Cosima »Divchen«, um das Wort Diva zu verniedlichen. Er bezog dieses Wort nicht auf ein affektiertes und blasiertes Verhalten, sondern auf ihren Kleidungsstil.
Sie verweigerte sich dem Cool-Image ihrer Kolleginnen, die sich alle Mühe gaben, dem Bullenklischee gerecht zu werden. Vernehmungen mit harten Jungs, eine Schießerei mit Gangstern, eine Verfolgungsjagd über hohe Mauern hinweg, geschafft, harter Job. Genau betrachtet, unterschieden sich Frauen und Männer in ihrem Dezernat kleidungsmäßig kaum voneinander. 80 Prozent Übereinstimmung bei Sportschuhen und Jeans. Kilian war mit seinem Jeans-plus-X-Outfit auf der sicheren Seite, weil er damit in keiner Weise auffiel.
»Du hast eine Modephobie«, stichelte Cosima, »weil du Angst davor hast, dich mal anständig anzuziehen.«
Er entgegnete ihr, dass er kein Opfer der weiblichen Geschmacksdiktatur sein wolle. Jeans mit blauer Jacke war für ihn ein gesunder Mittelweg zwischen Diktatur und Selbstbestimmung. Mittelweg hieß: Sei anders, aber falle dabei nicht auf.
Er dachte sich: Wer cool ist, braucht nicht schick zu sein.
Divchen dagegen dachte: Wer cool ist, kann es sich leisten, sich schick zu kleiden. Schick zu sein war für sie nicht nur eine Frage der weiblichen Ausstrahlung. Sie verband damit auch ein Statement, eine Botschaft, um ihre Persönlichkeit und ihre Sinnlichkeit unterschiedlich darzustellen, und das sei nun einmal mit einer blauen Jeans jeden Tag nicht möglich.
Kilian fand das amüsant. Miko war das völlig egal. Miko gab sich nicht einmal die Mühe, sich ein größeres Hemd zu kaufen, um seinen Bauch kleiner erscheinen zu lassen. Wenn er einen guten Einfall hatte, trommelte er zärtlich mit den Fingern auf seine Rundungen, und das Hemd spannte sich auffällig darüber. Er bemerkte es nicht. Er war frei von jeglichem Stilempfinden.
Cosima trug gerne unifarbene Hosenanzüge in Blau, Schwarz und Anthrazit. Das entsprach tatsächlich nicht dem üblichen Sichtfeld in der Kollegenschaft, aber sie wirkte dadurch nicht abgehoben oder aufdringlich, weil ihr natürliches Naturell alle Gegenargumente überspielte.
Nur einmal, und das führte nach vielen Monaten zu vereinzelten, aber feinen und gepflegten Lästereien, erschien sie im Präsidium mit Stresemann-Hose und Rüschenbluse, ein bisschen sexy 30er-Jahre, als stünde sie in der Filmkulisse mit Greta Garbo oder Marlene Dietrich. Sie hatte sich mittlerweile von all den Lästereien erholt, sie machte sogar selbst Witze darüber.
Wenn sie über den Flur ging, multiplizierte sich das Stakkato ihrer Trittgeräusche, und das Publikum aus Zeugen, Anwälten und Beschuldigten verfolgte das Geschehen wie einen herankommenden Zug, der in den Bahnhof einfuhr.
Saß sie einem Beschuldigten gegenüber, arbeiteten ihre Fantasie und ihre Schauspielkunst. Sie stellte harmlose Fragen und öffnete damit das große Buch der psychologischen Gesprächsführung.
Ein Lächeln bedeutete: Du bist doch sympathisch. Du Arschloch.
Ein leises Sprechen bedeutete: Immer mit der Ruhe. Komm in mein Spinnennetz.
Empfindsame Worte bedeuteten: Du bist nicht allein. Mach endlich dein Maul auf.
Sie liebte es, unterschätzt zu werden. Dann verschob sich die Skala des Beschuldigten von kluger Raffinesse zum grandiosen Trottel. Er redete sich um Kopf und Kragen, und der Anwalt kam gar nicht hinterher, den Wortausstoß seines Mandanten in eine andere Richtung zu lenken.
Sagte ein Beschuldigter von ganz allein, ja, ich war es, dann war sie die ehrlichste Spezialistin für Lob und Anerkennung. Eine Tat mochte noch so schlimm sein, aber wenn dem Bösen eine radikale Ehrlichkeit innewohnte, dann sagte sie dem Täter: »Sie haben ihr kostbarstes Gut nicht verloren, ihre Würde.«
Die richtig harten Jungs wurden ihr allerdings noch nicht vorgesetzt. Darum kümmerte sich der Chef immer noch selbst.
Miko hatte in der Kantine ein paar Nussecken gekauft und neben die Kaffeemaschine gelegt, »für alle«, wie er einladend bemerkte. Cosima fragte ihn, weshalb er ständig Hunger habe. Kilian wollte das wohl auch wissen. Er schaute wissbegierig in Mikos Richtung.
Er knöpfte sich den mittleren Knopf seines Hemdes zu, den sein gespannter Bauch aus der Umklammerung herausgeschleudert hatte, und fragte Kilian und Cosima, ob sie bereit seien, eine traurige Geschichte zu hören. Er würde sie auch ganz schnell erzählen.
Kilian hörte schweigend zu.
Cosima nickte und schaute dabei in ihren Computer.
»Also, in meinem früheren Leben lebte ich in bitterer Armut. Meine Eltern mussten hart auf den Feldern arbeiten, um die Familie vor dem Hungerstod zu retten. Der König und die Fürsten lebten prächtig, und ich träumte davon, statt Grießbrei ein knuspriges Hähnchen zu essen. Meine Eltern hatten kaum noch Kraft, den Tag zu überstehen. Sie starben sehr früh, und wenige Jahre später folgte ich in den Tod, weil ich nichts zu essen bekam. Meine Seele aber starb nicht. Sie wanderte durch die Gezeiten. Als ich wiedergeboren wurde, empfing mich meine Seele mit einem Festmahl, und meine innere Stimme schwor meinem Geist, lieber dick als dünn zu werden. Wie ihr seht, habe ich mein Versprechen gehalten.«
»Ooohhhhh, ist das eine traurige Geschichte«, alberte Cosima, »aber jetzt verstehe ich dich endlich. Ich melde dich bei den Weight Watchers sofort ab, und die bestellte Waage schicke ich auch zurück. Ehrenwort.«
Kilian zog demonstrativ seine Tür zu und sagte, so war er jedenfalls zu verstehen, »Kindergarten«.