Читать книгу Den Feigen tritt jeder Lump! - Frank Winter - Страница 9
ОглавлениеMannheim, Frühjahr 1847
Vom Mannheimer Bahnhof ritt Hecker und konnte sich vor Müdigkeit kaum im Sattel halten, schaukelte hin und her. Ein Pferd wollte er vorerst nicht mehr sehen. Langsam wurde die dicke, knarzende Eichentür geöffnet. Josefine hielt eine zylindrische Öllampe in Armlänge von sich. Sie trug ihr schlichtes Hauskleid, das sie größer und schlanker machte, und fragte, ob das vielleicht ihr Ehemann sein könne?
»Nein, vor dem Tor lungert der ungewählte Herrscher von Baden.«
»In dem Fall bekommen die Kinder morgen alle Reste des Hasenbratens aufgetischt. Großherzog kann man nicht zu Tisch bitten, denn unser Hausherr ist sehr gegen ihn eingestellt.«
Er lächelte breit und ritt auf den Hof.
»Glücklicherweise ähnelt der Herr auf dem Ross mehr Friedrich Hecker als Großherzog Leopold.«
»Wie ist sie vorgestern schon auf die Idee gekommen, einen Hasen in Essig zu marinieren?«
»Reine Intuition.«
»So? Der begegnet man in Algerien auch oft!«
»Im Grunde ist es kaum von Bedeutung, oder? Vor dem Braten wird es noch eine Suppe geben.«
»Ein Mann, den solche Festmähler erwarten, kann getrost nach Hause kommen! Die Kinder?«
»Bei seiner Ankunft wachte Arthur auf, und wenn er weiter in dieser Heftigkeit deklamiert, werden Erwin und Malwina ebenfalls aus ihren Bettchen krabbeln. Sie schienen bereits gestern etwas geahnt zu haben.«
»Noch einmal die Intuition?«, sagte er und senkte das Kinn. »Es fragt sich, wer wen angesteckt hat. Kinder ihre Mutter oder umgekehrt.«
Josefine lächelte ihn herausfordernd an. »Gutes Fleisch verschmäht der Verstandesmensch aber nicht?«
Sie ging ins Haus zurück und er versorgte das Pferd mit Wasser und Heu. Bis in den Flur duftete die Grießsuppe. Er betrachtete die Einrichtung: Dielenboden aus Ahorn, elfenbeinfarbene Kronleuchter, dicke Teppiche. Nach seinem Geschmack hätte man sich spartanischer möbliert, aber Josefine brachte ohnedies genug Opfer. Ein Vollbad wäre angenehm gewesen, doch stürmten die Kinder bereits die hölzerne Treppe herunter. Er nahm Erwin auf den linken und Malwina auf den rechten Arm, wo sie um die Wette schaukelten. Arthur drückte sich an Vater und Geschwister. »Brave Kinder sollten längst im Bett sein. Heute jedoch machen wir eine Ausnahme.«
Malwina nickte und Arthur schüttelte den Kopf.
»Wenn ihr keine mündigen Staatsbürger werdet! Jeder vertritt seinen Standpunkt.«
»Lässt sich der Unterricht eventuell auf den kommenden Tag verschieben? Sonst wird man eine Bewirtung des Großherzogs überdenken müssen«, rief Josefine aus der Küche.
»Mit der politischen Erziehung kann man kaum zu früh beginnen. Allerdings kommt es nach langer Pause auf einen Tag nicht an. Vor allem, wenn eine Grießsuppe so gut riecht.«
Arthur fand seinen Platz alleine, streckte die Arme aus und freute sich, dass die Hemdsärmel nach hinten rutschten wie beim Vater. Josefine setzte die Geschwister auf ihre Stühle und band ihnen Servietten um. Den Tisch hatte sie mit einer Seidendecke geschmückt, schöpfte aus goldgerandeter Schüssel die Suppe. »War die Reise erfreulich?«
»Kurzweilig, ja. Bereits auf der Überfahrt von Marseille nach Algerien begegneten wir einem jungen Norddeutschen mit vernünftigen Ansichten. Er wird uns in den nächsten Tagen besuchen.«
Josefine nickte. An spontane Gäste ihres Mannes hatte sie sich gewöhnt.
»Auch der Ritt über das Atlasgebirge war passabel. Algerien ist eine Exkursion wert. Wie war es, alleine mit den Kleinen?«
Josefine nickte mit leichter Verzögerung: »In Ordnung.«
»Aber …?«
»Es wäre angenehmer, den Ehemann öfter zu sehen.«
»In der Zukunft werden wir uns nicht mehr allzu weit von Mannheim entfernen.«
»Versprochen?«
»Fest vorgenommen.«
Sie lächelte: »Bei ihm bedeutet das sehr viel.«
Malwina und Erwin aßen kaum, blickten lieber zum Vater. Josefine trug die Teller ab und kümmerte sich um den Braten. Er zwinkerte den Kindern zu und während des Hauptgangs erzählte er Geschichten von opulenten Palästen, Löwen und hungrigen Hyänen. Arthur und Malwina klatschten in die Hände. Zweimal musste er seine Kamelabenteuer wiederholen. Als Erwin am Tisch einschlief, brachte seine Mutter alle Kinder zu Bett. Hecker schenkte sich noch etwas Hallgartener Wein von Itzsteins Gut ein. Josefine kehrte mit einem Brief ins Esszimmer zurück. »Auf dem Sekretär liegt der Rest der Post. Dieses Schreiben ist uns besonders ans Herz gelegt worden!«
Er sah sich den absenderlosen Brief an. In krakeligen Lettern war sein Name aufgemalt.
»Überreicht von einem Herrn mit wirrem Haarkranz und steinernem Blick …«
Heckers Freund Struve war sechs Jahre älter und hatte auch Juristerei studiert. Seiner kritischen Publikationen wegen setzten die Zensoren ihm beständig zu.
»Dieser … Herr platzte ins Essen. Natürlich bat man ihn zu Tisch, doch weder Fisch noch Fleisch akzeptierte er, geschweige denn ein Glas Wein. Kein Wunder, dass er heiser klingt wie ein Rabe. Nein, oh nein, er wolle doch nur das Kuvert abgeben!«
»Überzeugter Abstinenzler und Vegetarier. Daran ist leider nicht zu rütteln«, erklärte Hecker.
»Prinzipien in Ehren. Zur Geselligkeit tragen sie jedoch nicht bei. Wortkarg, das Wasserglas wie eine Standarte umklammernd, jagte er den Kindern Angst ein. Warum nimmt ein Mann, der sich so unwohl fühlt, überhaupt Platz?«
»Vielleicht hatte er Durst? Gustav ist ein wenig schrullig, ja, doch wenn man sich an seine Art gewöhnt hat, alles halb so schlimm.«
»Wie lange dauert es bitte, bis dieser Zustand eintritt?«
»Jahre mitunter.«
Weil Struve seine Nachricht selbst zugestellt hatte, konnte er auf die Sicherheit ein Liedchen pfeifen. Ein Briefgeheimnis gab es weder im badischen Großherzogtum noch in den anderen Fürstendespotien. Großherzog Ludwig unterhielt eigene Kabinettstunichgute, die den lieben langen Tag Briefe öffneten, wieder verschlossen und weitersendeten, als ob es das Normalste der Welt wäre! In anderen Ländern war es nicht besser und die Zusammenarbeit mit Louis Philippes Polizei gestaltete sich glanzvoll: Für die Reise nach Algerien benötigte er eine Genehmigung der Marseiller Beamten, die sonderlich auftraten. Als er später seine Reisedokumente untersuchte, entdeckte er zwei winzige Buchstaben: f.o. für »fait opposition«, macht Opposition. Unglaublich war, dass die meisten Bürger es guthießen, getreu dem dummen Ausspruch, ein rechtschaffener Bürger habe nichts zu befürchten. Demokraten schlugen die Inquisition jedoch mit ihren eigenen Waffen. Der Staatspost setzten sie Volkspost entgegen, überbrachten viele Briefe etappenweise selbst, mitunter in der Kutsche eines Fürsten. Er wählte eine Gänsekielfeder, die sich, ungleich den neumodischen Metallfedern, beständig ausbessern ließ. Viel hatte er Struve nicht zu berichten. Ein kleiner Bogen im Registerformat würde genügen, und schwarze Tinte, die sich vom weißen Grund am besten abhob. Hecker wusste, wie empfindlich der Mann auf vermeintliche Zurücksetzungen reagierte, und entschuldigte sich für die lange Wartezeit, er sei in der Tat erst zu dieser Stunde aus Algerien zurückgekehrt. Struve wollte wissen, was er von einer außerparlamentarischen Versammlung in Offenburg hielt. Dort könnte man in einem Gasthof die weitere Marschrichtung festlegen. Hecker nickte beim Lesen. Südbaden war näher als Nordafrika und er musste Josefine und die Kinder nicht lange alleine lassen. Seine Antwort verfasste er vage, sodass nur Struve sie verstehen konnte. Er las den Text durch und trocknete ihn mit rotem Löschpapier. Aus einem Döschen zog er Katzenhaare, die er in kleine Teile spaltete und zwischen den Fingern in das Schreiben rieseln ließ wie Salz in eine Suppe. Öffneten die Spitzel den Brief, fielen die Härchen zu Boden und der vorgesehene Empfänger wusste, dass kontrolliert worden war. Struve würde sich bald melden. In Demokratiefragen waren sie beide ruhelos. All die Regeln, Protokolle und Zeremonien im Karlsruher Parlament hatten ihn fast wahnsinnig werden lassen! Vertröstete man sie weiterhin, würde er sich auf radikale Wege begeben und Abgeordnetengestalten wie Mathy und Bassermann einen demokratischen Marsch blasen!