Читать книгу Karma-Chaos auf der Alm - Franka Serino - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеAm nächsten Tag fuhren Wolfi und Lorenz mit der S7 nach Solln, wo Katharina Burnhaus, Wolfis Tante, seit Kurzem ihr neues Domizil hatte.
„Sie hat mal eben auf die Schnelle ’ne Villa in der Hagenauerstraße gekauft?“ Lorenz machte große Augen. „Mann, glaubst du, wir werden auch mal so reich?“
„Wenn wir weibliche Dagobert Ducks finden, die wir heiraten können, vielleicht.“ Wolfi hatte Mühe, sich an den ersten Ehemann seiner Tante zu erinnern, der ihr bei seinem Ableben infolge eines simplen Verkehrsunfalls – er hatte als Fußgänger bei Rot eine Kreuzung überquert, in der irrigen Meinung, dass die Autos für einen so bedeutenden Mann wie ihn schon anhalten würden – ein riesiges Vermögen hinterlassen hatte. Welche Nationalität hatte er gehabt? War er nicht aus den USA gekommen? Texas, um genau zu sein? Ja, richtig. Und Tante Katharina schwärmte noch immer von seiner sexuellen Leistungsfähigkeit, die angeblich keiner seiner Nachfolger je hatte erreichen können. Dabei hatte die Tante an Ehemännern nicht gespart: Schon fünfmal war sie bisher verheiratet gewesen, und dazwischen oft genug für kürzere oder längere Phasen mit den seltsamsten Typen liiert.
Wenig später standen die beiden Studenten vor einem schmiedeeisernen Gittertor, über dem zwei rotgoldene Lampions schwebten.
„Bist du sicher, dass es hier ist?“, vergewisserte sich Lorenz.
„Hausnummer stimmt.“ Aber auch Wolfi zog die Stirn kraus. „Sieht wie’n Chinarestaurant aus.“ Er fuhr mit dem Finger über das Keramikschild am Steinpfosten. „Trotzdem, wir sind richtig. Hier steht’s: Burnhaus.“ Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht. „Wär doch was, wenn sie uns mit ’ner Pekingente empfängt.“
„Burger-Gutscheine, höchstens.“ Lorenz kannte den Geiz von Wolfis Tante zur Genüge. Nur um Kohle zu sparen, ließ sie schließlich die psychologischen Problemchen ihrer jeweiligen überkandidelten Haustiere von einem mittelmäßig begabten Psychologiestudenten behandeln, anstatt eine reguläre Praxis aufzusuchen.
„Na dann: auf in den Kampf!“ Wolfi klingelte. Das Tor glitt geräuschlos zur Seite und gab eine lange Einfahrt unter dichten Bäumen preis. Hier und dort spähte unter lichterem Gebüsch ein steinerner Löwe oder Drache hervor, und als die Jungs die ehrwürdige Stuckvilla erreichten, zeigte sich eine von zwei mannshohen Buddhastatuen flankierte Haustür.
„Ist wohl nicht bloß der Geburtstagstyp allein aufm Asientrip“, murmelte Wolfi seinem Freund zu.
Die Haushälterin, die ihnen öffnete, trug eine hellgrüne Schürze mit dezentem Bambusmuster.
„Wir wollen zu meiner Tante.“
„Sie meinen Frau Katharina?“ Annalena Kupfergut arbeitete lange genug für Wolfis Tante, um zu wissen, welchen Wert ihre Chefin auf Förmlichkeiten legte.
„Oder so.“ Wolfi hoffte, dass die Tante wenigstens anwesend war und die Verabredung nicht vergessen hatte, wie dies früher gelegentlich passiert war. Er schnüffelte wie ein Hund mit hochgereckter Nase. „Hat’s hier gebrannt?“
„Das sind Räucherstäbchen, du Depp!“, flüsterte Lorenz ziemlich hörbar, doch die Haushälterin mit ihrer strengen Frisur verzog keine Miene.
„Wolfiii!“, rief es in diesem Moment von der monumentalen Marmortreppe her. „Mein lieeeber Junge!“ So freundlich war Katharina nur, wenn sie etwas besonders Extravagantes wollte. Und in dem Moment, als Wolfi seine in ein mit Drachen besticktes blaues Etuikleid gezwängte Tante auf sich zueilen sah, begriff er, dass er mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte.
Eine Viertelstunde später wussten die Freunde, worum es sich dabei handelte.
„Es muss perfekt werden, habt ihr das wirklich verstanden?“
„So perfekt wie texanische Sexbomben“, entfuhr es Wolfi gegen seinen Willen. Während Lorenz einen Hustenanfall vortäuschte und dabei knallrot anlief, schenkte die Kupfergut der Tante ungerührt frischen weißen Tee ein.
Katharina Burnhaus sah Wolfi strafend an. „Vergiss nicht, wer dein Studium bezahlt und dich dabei ungestraft rumtrödeln lässt.“ Gleich darauf änderte sich ihre Miene, wurde geradezu beseligt. „Ich darf mich nicht vergessen“, murmelte sie. „Das würde mich nur zurückwerfen.“ Für ein paar Sekunden schloss sie die Augen und legte die Hände in den Schoß.
Als sie Wolfi wieder anblickte, seufzte sie. „Vielleicht sollte ich besser einen professionellen Eventveranstalter beauftragen. Aber die guten sind für den Sommer längst ausgebucht, und wir haben nicht viel Zeit.“
„Wann soll das … äh … Fest denn genau stattfinden?“, wollte Lorenz wissen.
„Am Samstag, dem vierundzwanzigsten August.“
„Das sind ja nur noch … fünfundvierzig Tage!“
„Freut mich, dass wenigstens einer von euch rechnen kann. Und es ist nicht bloß eine Geburtstagsfeier. Spirit und ich werden uns auch verloben.“ Tante Katharina zückte ihr Scheckbuch. „Damit müsst ihr auskommen“, erklärte sie, während sie eine Summe in einen Verrechnungsscheck einsetzte. „Und vergesst nicht: Es muss in den Bergen sein, mit perfektem Feng-Shui, und das Essen vegetarisch. Wegen dem Karma. Aber vor allem will ich auf keinen Fall mit irgendwelchen schnöden Einzelheiten behelligt werden. Spirit sagt, ich sei auf einem sehr guten Weg. Jeglicher Ärger würde meiner positiven Entwicklung schaden.“ Ihr Blick glitt zurück in die Beseligung, ihre Augen schlossen sich wieder. Annalena Kupfergut nahm ihrer Chefin den Scheck ab, drückte ihn Wolfi in die Hand und öffnete die Tür zum Zeichen, dass die Konferenz beendet war.
„Nicht mal Burger!“, murrte Wolfi, als sie zur S-Bahn-Haltestelle zurückstapften. „Die wird auch immer geiziger. Und ihr Guru, dieser Spirit, sorgt sich zwar um ihr Karma, aber mir wär’s lieber, er würd auch an uns denken.“
„Er weiß doch gar nichts von der Feier, die soll ja eine Überraschung werden. Seine Geburtstagsüberraschung“, erinnerte Lorenz. „Auch wenn sein echter Geburtstag eine Woche früher liegt, aber den will er zum Glück meditierend in einem Tempel verbringen, sonst bliebe uns noch weniger Zeit. Und immerhin hat die Tante dir einen Tausender versprochen, ganz für dich allein, wenn tatsächlich alles perfekt klappen sollte. Und ich soll auch einen halben … äh, also einen Fünfhunderter kriegen, wenn ich dich angemessen unterstütze, wie sie’s genannt hat.“
„Von der Kohle könnte ich nach Kalifornien fliegen.“ Wolfis Miene wurde träumerisch, in seinem Hinterkopf läuteten Kirchenglocken. Hochzeitsglocken. Allerdings nicht lange, denn den beiden Jungs war klar, dass vor der Belohnung ein Haufen Arbeit auf sie wartete.
„Wir brauchen einen Schlachtplan, was alles erledigt werden muss“, erklärte Lorenz, der manchmal erstaunliche Anfälle von methodischem Vorgehen an den Tag legte. „Und dann müssen wir überlegen, womit wir am besten anfangen.“
„Ich denke, wir sollten zuerst die passende Location suchen“, entschied Wolfi spontan. „Um warm zu werden, gewissermaßen.“
„Wenn der Meisterguru auf Berge steht, die gibt’s südlich von München in Massen. Und in jeder Größe. Sollte also keine zu schwierige Herausforderung sein, einen Platz zu finden, an dem vierzig Irre mit deiner Tante feiern können.“
„Aber immer dran denken: Es muss perfekt werden!“, imitierte Wolfi seine Tante mit Fistelstimme.
„Weißt du, wer uns bei der Organisation toll beraten könnte?“, warf Lorenz ein, als er aufgehört hatte zu lachen. „Die zwei Chinesinnen von gestern. Die wollten heut Abend sowieso wieder zum Friedhof kommen, wegen dem Ripper.“
„Brauchen wir überhaupt Hilfe?“
„Wie ich die Ansprüche deiner Tante kenne, ganz bestimmt!“ Lorenz blickte den Freund schräg an. „Oder weißt du, was man für ’ne Vegetarierparty alles braucht? Und ob irgendeiner der tausend Alpengipfel das perfekte Feng-Shui für diesen Meisterguru hat?“
„Können wir das nicht einfach googeln?“, hielt Wolfi dagegen.
„Eh ich nicht was Solides im Magen hab, bin ich zu keinem Mausklick fähig.“ Lorenz kramte in seiner Hosentasche. „Mal schauen, ob’s für zwei Döner reicht?“
Wenig später hatten sie die Bahn verlassen und hockten an einem winzigen Tisch, einen Zettel zwischen sich, für das erste Brainstorming zum Projekt Party für Spirit. Und zwischen großen Bissen von der langersehnten Mahlzeit wuchs die Stichpunktliste langsam, aber stetig:
Alm suchen.
Feng-Shui. Platz für etwa 40 Leute. Separater Raum vorhanden?
Transport.
Zufahrtsstraße? Seilbahn? Offener Sessellift? (Wäre bei Schlechtwetter scheiße!) Klären: Wie lange dauert der Aufstieg zu Fuß? Weg für jeden Deppen geeignet oder nur für geübte Wanderer?
Essen.
Vegetarisch. Ausreichend Servicepersonal vorhanden?
Sektempfang vorher? Kuchen für Nachmittag?
Abendliches Grillen gewünscht? Wie grillt man vegetarisch?
Unterhaltungsprogramm.
Musik. Vorführungen? Welche?
Dekoration.
Tischschmuck. Geburtstagsdeko? Abendliche Beleuchtung?
Sonstiges: Hoffentlich nichts mehr!!!
***
Vor allem Hong lag viel daran, an der weiteren Rippersuche teilzunehmen, wobei Mailin den Verdacht hegte, dass es der Freundin weniger um das entsprungene Kaninchen als um den hübschen Psychologiestudenten mit den wirren Locken ging. Aber Mailin sprach es nicht aus. Zwar hatte sie selbst die Nase voll von Männern, vor allem von deutschen Männern. Doch sie wollte das magere schwarze Kaninchen, das wie eine gealterte Version ihres Mondkaninchens aussah, in Sicherheit wissen.
Als die Freundinnen gegen sieben Uhr am Friedhof ankamen, mussten sie allerdings erfahren, dass die beiden Jungs noch mit einem zweiten Problem zu kämpfen hatten. Und natürlich sicherte Hong ihnen auch hierfür jede erdenkliche Unterstützung zu, obwohl sie das Reden aus Schüchternheit zum großen Teil Mailin überließ.
Da der Ripper vorerst nirgends zu entdecken war, setzten sich die fünf – mittlerweile hatte sich auch Bekka eingefunden – zu den Füßen eines steinernen Engels ins Gras, damit die Jungs ihrer ersten Feng-Shui-Lehrstunde lauschen konnten.
„Zuallererst“, belehrte sie Mailin, „solltet ihr wissen, dass feng und shui die chinesischen Worte für ‚Wind‘ und ‚Wasser‘ sind. Daraus ergibt sich, dass an dem Ort für die perfekte Feier die Elemente in Einklang stehen müssen.“
„Und wie stellt man fest, ob sie das tun?“ Bekka, die angeblich ebenfalls nur wegen des Rippers an dem Treffen teilnahm, gab sich skeptisch. „Mann, für mich sehen die Berge alle ziemlich gleich aus. Groß, unten grün, oben grau und an der Spitze vielleicht weiß. In der Mitte dekoriert mit ein paar Almhütten und Kühen, und das war’s.“
„Mir gefallen eure Berge. Ich würde gern mal in den Alpen wandern gehen.“ Mailin schnitt ihrer Freundin eine Grimasse. „Aber Hong macht das lange Laufen nicht wirklich Spaß.“
„Auto und – wie nennt man das? – Kabelbahn wurden schließlich schon erfunden. Warum sollte man sie also nicht nutzen?“, verteidigte sich Hong.
Sorgenvoll blickte Wolfi von einer zur andern. „Ist das mit dem Feng-Shui wirklich so wichtig? Ich hab immer gedacht, das sei nur ’n Trick von den modernen Architekten, um sich und ihre Projekte interessanter zu machen.“
Mailin widersprach. In China wurden seit Jahrhunderten Häuser und Grabstätten nach den Prinzipien des Feng-Shui errichtet. Ein schützender Berg im Hintergrund etwa sei gut, erklärte sie. Und fließendes Wasser könne, wenn es aus der richtigen Richtung komme, energetisierend wirken. „Auch Wohn- und Schlafräume werden gern Feng-Shui-gemäß geplant. Ein Sofa unter einem Fenster zum Beispiel ist nicht besonders günstig, aber …“ Mailin zögerte etwas. „Vielleicht kommt das Ganze für euch mystisch rüber, doch in vielen Punkten entspricht es dem gesunden Menschenverstand. Wenn das Fenster schlecht isoliert ist, zieht es dem, der auf dem Sofa davor sitzt, in den Nacken. Dadurch wird er öfter krank.“ Sie zuckte die Achseln. „Vielleicht muss man bloß unterschiedliche Erklärungen benutzen. Die wissenschaftliche für die Realisten und die ein bisschen mystische für die Menschen, die gern Geschichten hören. Das Prinzip dahinter aber bleibt gleich.“
„Und was soll das mit dem schützenden Berg?“
„Er könnte zum Beispiel stürmische Winde abhalten, wenn du die wissenschaftliche Erklärung suchst“, schlug Mailin vor. „Oder … Regenwolken könnten sich an ihm abregnen, sodass über deinem Feng-Shui-Haus öfter die Sonne scheint.“
„Wie bei Föhn in den Alpen“, begriff Wolfi. „Die Alpen geben München also das klasse Feng-Shui?“ Er stöhnte. „Heißt das, ich muss einen Berg mit fröhlich plätscherndem Bach und einem zweiten, größeren Berg im Rücken suchen?“
„Na ja, wie genau die Anordnung sein muss, sieht man erst, wenn man weiß, welche Ausrichtung Eingang beziehungsweise Terrassenbereich der Almhütte haben“, sagte Hong nachdenklich.
„Wird immer komplizierter.“ Lorenz sah Mailin an. „Hör mal, wenn ihr euch so gut auskennt und du sowieso gern in die Berge gehen würdest … Hättet ihr dann eventuell Lust, uns bei der Auswahl der passenden Alm zu helfen?“
„Genau!“, sagte Wolfi enthusiastisch. „Ich zahl euch sogar was dafür. Weil, wir Jungs bringen den ganzen Feng-Shui-Kram bloß komplett durcheinander. Und wenn dieser Spirit nach der Feier die Grippe kriegt, bringt mich meine Tante um.“
Vorsichtig zog sich Mailin ein Stück zurück. „Das … geht nicht.“
„Und warum nicht? Musst du arbeiten? Hast du ’nen Ferienjob oder so?“, fragte Lorenz enttäuscht.
„Nein …“
„Aber ’nen Freund, vermutlich.“ Wolfi seufzte. „Der ihr wahrscheinlich besser zusagt als wir zwei Deppen.“
„Deppen seid ihr tatsächlich.“ Mailin schüttelte den Kopf. „Aber das ist nicht das Problem. Weißt du, wir kennen euch doch gar nicht richtig. Alles, was wir von euch wissen, ist, dass er“, sie wies auf Wolfi, „eine seltsame Tante hat und dass ihr ein mindestens genauso verrücktes Kaninchen sucht. Und von solchen Typen sollen wir uns in finstere Bergwälder verschleppen lassen?“
Zwei Tage später hatten sie den Ripper immer noch nicht fangen können. Möglicherweise gefiel ihm das relativ ungestörte, aber einsame Kaninchenleben zwischen grünen Gräbern sogar.
An diesem Freitag jedoch warteten Wolfi und Lorenz in aller Früh am Harras auf die Bayrische Oberlandbahn statt am Friedhof auf den Ripper. Beide waren nahezu perfekt rasiert und mit zünftigen Rucksäcken ausgestattet. Und da sich das Semester schon dem Ende zuneigte und es deshalb kaum noch Lehrveranstaltungen mit Anwesenheitspflicht mehr gab, verfügten sie glücklicherweise über ausreichend Zeit für den Ausflug in die Berge.
„Ob sie kommen?“, fragte Wolfi mit einem Blick auf die Uhr.
„Sie haben bloß gesagt, dass sie sich’s überlegen wollen“, erwiderte Lorenz. „Für mich sieht das eher nach ’nem Nein aus. Ich hab mal gehört, dass Chinesen nicht gern Nein sagen. Die umschreiben das lieber mit höflichen Phrasen. Ganz im Gegensatz zu Bekka. Die sagt grundsätzlich klar heraus, was sie denkt, und kommt bestimmt.“
„Aber ihr Geschmack hinsichtlich Party deckt sich vermutlich nicht mit dem meiner Tante. Und in ihrer Wohnung würde jeder Feng-Shui-Berater vor Schreck abnibbeln …“
„Zumindest im Netz sieht die Blausteinalm ganz hübsch aus. Und wenn wir Zweifel haben, können wir später immer noch bei ’nem offiziellen Feng-Shui-Berater ein Gutachten bestellen“, tröstete Lorenz. Er grinste dem Freund zu. „Hättest du vermutet, dass Draculas Tochter wandern geht? Wonach die dabei wohl sucht? Nach Kühen mit schadstofffreiem Bioblut vielleicht?“
Wolfi kam nicht zum Antworten, denn in dem Moment liefen drei junge Frauen auf die beiden Studenten zu, alle in Sneakers und Windjacken. Bekka trug einen schwarzgrauen Rucksack, der aussah, als habe er bereits zwei Weltkriege überstanden und, wie sich im Zug herausstellte, intensiv nach muffigem Kellerverlies roch. Hong hatte eine riesige Handtasche über der Schulter hängen und Mailin eine Wasserflasche in der Hand.
„Super, dass ihr dabei seid!“ Wolfis Enthusiasmus war echt, und Lorenz konnte von Natur aus nicht anders, als charmant zu sein. Nicht wenn ihn drei Mädels gleichzeitig anlächelten. Zudem hatte Bekka ihre weiße Schminke weggelassen, was sie trotz ihres Stachelarmbands und eines schwarzgrauen Totenkopfshirts weniger angsteinflößend aussehen ließ.
„Habt ihr eigentlich keine eigenen Mädels, die euch begleiten wollten?“, fragte Bekka, kaum dass sie es sich in der Bahn gemütlich gemacht hatten.
„Ich bin derzeit solo“, erklärte Lorenz, und Hong warf ihm einen raschen Blick zu.
„Und ich Strohwitwer.“ Wolfi mühte sich, es fröhlich rüberzubringen, obwohl er Gesa unendlich vermisste und liebend gern sie statt Draculas Tochter an seiner Seite gesehen hätte.
„Deine Frau ist gestorben?“ In Mailins Augen trat ein mitleidiger Ausdruck. „Das … muss so schrecklich für dich sein.“ Lorenz und Bekka brachen synchron in Gelächter aus, was die jungen Chinesinnen entsetzte. „Ist doch nicht lustig, wenn jemand stirbt!“ Mailin ballte unwillkürlich die kleinen Fäuste und sah drein, als wolle sie zu einer erneuten Kung-Fu-Attacke ansetzen, weshalb Wolfi das Missverständnis rasch aufklärte.
„Strohwitwer sein heißt, dass die Frau oder Freundin verreist ist. Und der Mann damit … äh … eine gewisse Narrenfreiheit hat. Aber heute suchen wir einfach nur ’ne Alm und sonst nix.“
„Obwohl wir deswegen gegen Nebeneffekte nicht immun sein müssen“, murmelte Lorenz.
„An deiner Stelle wär ich vorsichtig. Zumindest bei der Mailin.“ Bekka grinste. Die drei jungen Frauen waren offenbar in den letzten Tagen dicke Freundinnen geworden. „Die bringt mir demnächst Kung-Fu bei.“
Draculas Tochter mit asiatischen Kampfkünsten. Lorenz stellte sich vor, wie das schwarz gekleidete Mädel ein halbes Dutzend Vampirjäger mit gezielten Fußtritten in eine Gruft hinabschleuderte, und fand das Bild nicht allzu ansprechend.
„Was studiert ihr Mädels überhaupt?“, fragte Wolfi nach einer Weile. „Von der Mailin weiß ich, dass sie Kaninchen zwar nicht essen, ihnen aber problemlos den Bauch aufschneiden kann. Aber was macht ihr anderen?“
Mailin sandte ihm ob dieser wenig schmeichelhaften Beschreibung ihres Veterinärmedizinstudiums einen nicht besonders freundlichen Blick zu.
„Ich studiere Medien“, sagte Bekka.
„Und ich Kunstgeschichte“, erklärte Hong, während sie ihre Brille abnahm und die runden Gläser mit einem Mikrofasertuch aus ihrer Handtasche polierte.
„Und in welche Richtung willst du hinterher? Lässt sich in China mit Kunstgeschichte was anfangen?“, fragte Wolfi interessiert.
„Ich werde einen Kunsthandel aufziehen. International.“ Hong hatte sich ihre Zukunft genau überlegt. „In China gibt’s viele Reiche, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Und ich werde sie zu Kunstsammlern machen.“ Sie strich ihre langen Haare zurück und lachte über Wolfis verblüfftes Gesicht. „Das gehört zu den cultural differences zwischen euch Deutschen und mir. Ihr studiert was mit Kunst und fahrt anschließend Taxi. Ich studiere was mit Kunst und eröffne ein Geschäft, um reich zu werden.“
„Vielleicht sollte ich das mal meinem Vater erzählen.“ Wolfi seufzte übertrieben.
„Wieso ausgerechnet dem?“, fragte Hong.
„Weil er das ist, was man bei uns einen brotlosen Künstler nennt … der nicht mal Taxi fährt. Weil er nie die Führerscheinprüfung bestanden hat.“
„Wie kommt’s eigentlich, dass ihr so gut Deutsch sprecht?“, erkundigte sich Lorenz. „Also, wenn ich in China studieren müsste, ich verstünde nicht mal Bahnhof.“ Grinsend fügte er hinzu: „Obwohl, das könnt ich verschmerzen. Aber ich würde noch nicht mal kapieren, wenn mir ein Mädel ‚Ich liebe dich’ zuflüstert.“
„Wŏ aì nĭ heißt das“, erklärte Hong, und die nächsten Minuten amüsierten sich Wolfi und Lorenz damit, die komplizierte Aussprache der drei Silben zu lernen. Danach kam Wolfi auf Lorenz’ Frage nach den hervorragenden Deutschkenntnissen der beiden Chinesinnen zurück.
„Ich hatte privaten Intensivunterricht“, erzählte Mailin. „Meine Familie wohnt in einer Stadt im Osten von China, aber ein Teil meiner Verwandtschaft lebt in Europa, und deshalb wollte mein Vater, dass ich hier studiere. Deutsche Unis besitzen bei uns einen ausgezeichneten Ruf.“
Bei Hong, die aus Peking stammte, war es ähnlich gelaufen. Zudem hatte sie über den Deutschclub eines Goetheinstituts zusätzliche Übung im Sprechen bekommen. Und natürlich hatten die beiden Mädchen auch online gelernt.
„Lorenz’ Vorlesungen stehen ebenfalls online“, spottete Wolfi. „Aber damit sie ihm nützen, wenn er schon so gut wie nie einen Hörsaal betritt, müsste er sich die Online-Versionen wenigstens mal anschauen.“
Eine Stunde später, als sie zu fünft einen Forstweg entlangmarschierten, fragte Hong die neben ihr gehende Bekka leise: „Wie hat Wolfi das gemeint mit der Narrenfreiheit? Mailin und ich, wir verstehen diesen Ausdruck nicht.“
Bekka zog amüsiert die Brauen hoch. „Welche Frau kann schon verstehen, was Männer wirklich meinen? Aber gut: Also, der Wolfi ist eigentlich mit jemandem zusammen. Allerdings ist seine Freundin, die Gesa, für ein Jahr nach Kalifornien gegangen, das hat mir der Lorenz erzählt. Die Gesa studiert Ethnologie oder so was. Und von den schönen Stränden Kaliforniens aus kann sie natürlich nicht sehen, was ihr Wolfi in München treibt. In diesem einen Jahr kann er deshalb Dummheiten machen, ohne dass gleich die Welt untergeht. Und das nennt man Narrenfreiheit haben.“
„Der Kerl denkt also, er könnte jetzt andere Frauen anbaggern? Weil seine Freundin es nicht sieht?“ Mailins Empörung war so stark, dass sie lauter sprach als beabsichtigt und sich die beiden Jungs, die weiter vorn gingen, nach den Mädchen umdrehten.
„He, ihr da hinten! Streitet ihr?“, fragte Wolfi.
„Höchstens darüber, weshalb Männer so gefühllos sind!“, fauchte Mailin. Dass der Joe sie betrogen hatte, schmerzte noch arg, sonst hätte Mailin niemals derart die Beherrschung verloren.
Doch davon konnten die Jungs nichts wissen. Wolfi zog die Brauen hoch und sah Lorenz an. „Was ist denn in die gefahren?“ Der Freund schaute ebenso verblüfft drein und hob lediglich die Schultern zum Zeichen seiner Ratlosigkeit.
„Gar nichts ist in mich gefahren!“ Mailin sah drein, als wolle sie gleich ihre Kung-Fu-Künste am lebenden Objekt ausprobieren. „Ich verteidige einfach nur die Würde der Frauen!“
„Jetzt weiß ich, warum’s bei den Chinarestaurants so viele Drachenbilder gibt. Weil die Drachen für die chinesischen Frauen stehen!“, rief Wolfi spaßeshalber zurück.
Abrupt drehte sich Mailin, die seine Bemerkung keinesfalls lustig fand, um und wollte den Weg wieder hinablaufen. Hong rannte ihr nach, hielt sie am Arm fest und begann, drängend auf sie einzuflüstern.
Wolfi und Lorenz begriffen gar nichts mehr und warteten auf Bekka. „Sag mal, was haben die beiden eigentlich? Vorhin waren die doch ganz normal?“, fragte Wolfi.
„Cultural differences?“, bot Bekka an. „Oder einfach schlechtes Feng-Shui.“
Hong konnte ihre Freundin schließlich überreden, nicht umzukehren, aber Mailin blieb von nun an weit hinter den Jungs zurück und redete kaum, nicht einmal mit Bekka. Ihre einsilbigen Bemerkungen richtete sie ausschließlich an Hong, die allerdings entschlossen war, sich den Ausflug nicht vermiesen zu lassen.
„Wandern ist schöner, als ich dachte“, verkündete sie nach einer Weile. „Aber gibt es eigentlich auch eine Straße hier herauf? Oder eine … äh … Kabelbahn?“
„Warum? Laufen macht viel mehr Spaß“, meinte Lorenz.
„Aber vielleicht sind nicht alle Gäste von Wolfis Tante gut zu Fuß. Wenn sie selbst um die sechzig ist, werden die anderen ebenfalls schon älter sein, oder?“
„Daran hab ich natürlich gedacht, als ich diesen Berg ausgesucht habe“, erklärte Wolfi. „Man kann eine Forststraße, die für den normalen Verkehr gesperrt ist, mit dem almeigenen Jeep rauffahren und damit gehbehinderte Senioren und das Catering-Zeug raufbringen. So stand’s zumindest im Internet. Und ’ne Kabinenbahn gibt’s auch.“
„Hast du schon mit den Almleuten telefoniert?“, fragte Bekka.
„Bin nicht durchgekommen. Aber wir können heut ja direkt mit ihnen reden. Das ist meist eh effektiver.“ Wolfi wies nach oben, wo der Wald lichter wurde. „Auf den Internetfotos sieht das Gelände echt toll aus.“ Er erklärte, dass sie vom ersten kleinen Gipfel aus in eine Mulde, die sie jetzt noch nicht einsehen konnten, absteigen mussten, jedoch nur ein paar Meter weit. „Die Alm liegt in der Senke, sehr geschützt.“ Er grinste Mailin zu, in der Hoffnung, ihre Verstimmung zu vertreiben. „Gutes Feng-Shui, nehm ich an.“
„Dein eigenes Karma sollte dir mehr Sorgen machen“, gab sie ungerührt zurück.
Wolfi seufzte und stapfte wortlos weiter. Da war wohl nichts zu machen, zumindest vorerst.
„Wie findest du den Weg?“, fragte er seinen Freund nach einer Weile. „Die Katharina will ihn mit ihrem Spirit unbedingt raufwandern. Nach dem Motto Der Weg ist ein Teil des Ziels.“
Lorenz blieb stehen und blickte sich um. Rechts Hochwald, links Hochwald. Der Weg wand sich langsam den Berg hinauf, doch nur von ein paar Punkten aus konnte man zum Gipfel schauen. Ansonsten waren sie meist unter Bäumen dahinmarschiert und hatten auch nicht viel anderes gesehen als Bäume. „Na ja, oben wird’s sicher interessanter …“
„Früher hab ich mir nie Gedanken gemacht, worauf man bei Bergen alles achten muss“, brummte Wolfi.
„Weil du dauernd in Gesas schöne Augen gestarrt und den Wald höchstens bemerkt hast, wenn du über eine Wurzel gestolpert bist“, grinste Lorenz.
Schließlich jedoch trat der Wald immer mehr zurück und niedrige Latschenkiefern lösten die hohen Fichten ab, dazwischen felsüberstreute, grüne Almwiesen mit bunt blühenden Blumen.
„Endlich“, stöhnte Hong, die ziemlich außer Atem schien.
„Vielleicht hättest du den Jeep nehmen sollen, um den gleich mal zu testen?“, grinste Bekka. Mailin sagte gar nichts, aber ihre Miene hellte sich deutlich auf. Das hier war die Bergwelt, von der sie träumte.
„Gefällt’s dir?“ Lorenz hatte das Gefühl, sich ein wenig um das Mädchen kümmern zu müssen, selbst wenn er nicht wusste, weshalb ihre Stimmung sich zuvor so verdüstert hatte.
„Es ist schön.“ Sie sprach ernster, als er erwartet hatte. „Da, wo ich herkomme …“ Sie brach ab, zuckte die Achseln.
„Gibt’s da keine Berge?“, fragte Wolfi.
„Die Berge sind nicht das Problem“, antwortete Mailin und klang dabei immerhin nur ein klein wenig schroff. Für den Moment zumindest schien sie ihren Groll gegen den Anführer der Expedition vergessen zu haben. „Das Problem ist, dass wir in China weite Teile unserer Umwelt vergiftet haben. Mit allen Mitteln: Chemikalien, Smog, Ruß … Unsere Wirtschaft ist eine Zeit lang so schnell gewachsen, dass das Umweltbewusstsein nicht hinterherkam. Zwar bemüht sich unsere Regierung seit etlichen Jahren um eine nachhaltigere Entwicklung des Landes, und auch für den Tierschutz wird einiges getan, zum Beispiel gibt es neue Schutzgebiete für Pandabären. Aber die Umsetzung der fortschrittlichen Pläne braucht vermutlich viel Zeit.“
Wolfi fiel kein Trost ein. Glücklicherweise erwartete Mailin auch keinen; außerdem bot ein Zauntritt, der die Wanderer auf eine eingezäunte Weide führte, Abwechslung.
„Laufen die Kühe da frei herum?“ Unruhig blickte Hong nach allen Seiten.
„Das ist das Prinzip einer Alm. Die Viecher bleiben den gesamten Sommer hier oben.“ Lorenz verbarg ein Lächeln. „Aber keine Sorge, die sind in der Regel friedlich.“
„Aber es gibt Ausnahmen von der Regel?“
„Ab und an rastet ein Stier aus. Aber dann flüchtet man einfach über den nächsten Zaun“, behauptete Wolfi. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Hongs Miene deutlich sorgenvoller wurde.
„Wir sind … ziemlich weit weg vom Zaun“, bemerkte Hong ein paar Minuten später. „Vielleicht sollten wir nicht quer über die Wiese, sondern … uns mehr am Rand halten?“
„Wär ein Riesenumweg“, lehnte Wolfi den Vorschlag ab. Im nächsten Augenblick sprang Hong auf Lorenz zu und klammerte sich an seinen Arm.
„Dort drüben! Dort!“
Fünf Tiere mit wolligem Fell und langem Hals, die definitiv nicht in die Rubrik Kühe fielen, trabten in geschlossener Formation heran und wurden immer schneller. Hong ließ Lorenz’ Arm los und rannte gleich darauf nach links, wo ihr der rettende Zaun am nächsten schien.
„Bleib stehen, die tun nichts!“, brüllte Wolfi, während Lorenz längst handelte und zusammen mit Mailin der Fliehenden hinterherlief, die im nächsten Moment allerdings von allein anhielt, als sei sie gegen eine Mauer geprallt. Denn vor dem rettenden Zaun tauchte ein weiteres Tier auf, das die junge Frau misstrauisch musterte.
Glücklicherweise war Lorenz mittlerweile bei Hong angekommen und legte den Arm um sie, was sie augenblicklich zu beruhigen schien.
„Sind das … Lamas?“
Lorenz nickte. „Und die sind total nett. Schau mal, was es für schöne Augen hat.“
Mailin rupfte ein bisschen Gras ab und hielt es dem Tier hin. Vorsichtig, als ob es nicht wisse, ob man den jungen Leuten trauen dürfe, kam das Lama näher und nahm die Halme aus Mailins Hand.
„Siehst du, wie lieb es ist?“ Mailins Miene hatte sich nun vollends geklärt, was jedoch nur Wolfi auffiel. Der zudem feststellte, dass die junge Frau mit ihrem dunklen Pferdeschwanz, ihrer hellen makellosen Haut und ihrem zarten, aber keineswegs schwächlich wirkenden Körperbau ausnehmend hübsch war.
Hong weigerte sich dennoch, das Lama zu füttern. Auch wenn das Tier nicht angriffslustig schien, hatte es vermutlich gefährliche Zähne.
„Du hast bisher nicht viel mit Tieren zu tun gehabt, wie?“, meinte Lorenz, der nun wagte, Hong loszulassen.
„Wie denn? Ich komm aus einer großen Stadt.“
Wolfi plagten andere Sorgen. „Dieser Spirit … Meint ihr, der könnte sich auch vor den Lamas erschrecken?“
„Der ist doch ’n Ami, habt ihr im Zug erzählt, oder?“ Bekka kraulte das Tier jetzt am Kopf.
„Und in Amerika gibt’s Weidetiere, die viel gefährlicher sind als diese zierlichen Lamas. Bisons zum Beispiel und Longhorn-Kühe. Außerdem sind in den USA alle Männer im Grunde ihres Herzens ein bisschen Cowboy“, wusste Lorenz. „Selbst wenn dem Typen die Lamas nicht geheuer wären, würde er es nie wagen, das auch zu zeigen.“
Erleichtert stapfte Wolfi weiter bergauf und die anderen folgten ihm, Hong dicht neben Lorenz.
„Wir müssen nur noch bis zu dem Grat dort. Gleich dahinter liegt die Senke mit der Alm.“ Aufmunternd sah Wolfi die Gefährten an. „Und dort erwarten uns frisches Bier und ’ne Brotzeit.“
Der letzte kurze Anstieg den Grat hinauf war steil. Nur ein schmaler Pfad wand sich durch niedrige Latschen, Felsblöcke und Almrausch.
„Schaut mal zurück! Das Panorama!“, schwärmte Wolfi.
Sie blieben stehen und blickten ins Tal. Häuser, klein wie Kinder-Bauklötze, winzige Autos, denen man Abgase und Lärm nicht zutraute. Ein Fluss, der sich wie ein Satinband durch Wiesen und Wäldchen wand, und über allem ein weißblauer Bilderbuchhimmel.
„Das ist wirklich wunderschön“, sagte Mailin leise.
„Wenn’s dem Guru-Typen hier oben nicht gefällt, ist er ein undankbarer Sack“, erklärte Bekka, und die anderen stimmten einhellig zu. Selbst Hong.
„Und jetzt das Beste von allem: die Alm!“ Wolfi rannte die letzten Meter hinauf, riss in Siegerpose die Arme nach oben – und blieb wie erstarrt stehen.
„Wolfi?“ Bekka begriff als Erste, dass etwas nicht stimmte, doch sie war außer Atem, genau wie die anderen. Mit Ausnahme von Mailin, die nun leichtfüßig ebenfalls zu laufen begann, neben Wolfi anhielt und ebenso regungslos wie er auf die Blausteinalm hinabstarrte.
„Ach, du schwarze Scheiße!“ Bekka verschlug es wohl nie die Sprache. Mittlerweile waren auch sie und die beiden anderen auf den Grat gestiegen. Vor ihnen breitete sich das genaue Gegenteil der lieblichen Szenerie aus, die sie beim Anstieg bewundert hatten.
Verbrannte Erde statt grüner Wiese. Tote Latschenkiefern und einzelne höhere Stämme mit verkohlter Rinde und ohne Wipfel. Die steinernen Überreste der Hüttenwände waren schwarz von Ruß, und der Kamin ragte wie ein Mahnmal durch ein Dach, von dem lediglich ein paar halbverkohlte Sparren übrig waren.
Als die fünf langsam in die Mulde hinabstiegen, nahmen sie auch den Geruch wahr. Einen Geruch, wie zumindest Wolfi und Lorenz ihn von Kachelöfen und Wohnzimmerkaminen her kannten.
„Kein so tolles Feng-Shui, nehme ich an“, murmelte Lorenz, aber Wolfi war zu niedergeschlagen, um zu lachen.
„Die Leute hätten verdammt noch mal ins Netz stellen können, dass es da gebrannt hat“, murrte er.
„Kann noch nicht lange her sein. Deshalb hatten die wahrscheinlich erst mal andere Probleme“, vermutete die pragmatisch veranlagte Bekka.
„Die Lage wäre für eure Zwecke perfekt gewesen“, stellte Mailin fest. „Seht mal, der Berg dort hätte wunderbar Schutz vor Ostwind geboten, während von Süden her alles offen ist.“
„Ja.“ Lorenz grinste. „Absolut perfekt. Wir müssen bloß die Wiese grün streichen und Blätter an die toten Stämme kleben, dann ist’s die optimale Location. Na ja, abgesehen von der Hütte. Die müsste man ebenfalls ’n bisschen aufpeppen.“
„Oder wir lassen alles, wie’s ist, und feiern dort nicht den Geburtstag von irgendeinem asiatisch angehauchten Amerikaner, sondern meinen“, fiel Bekka versonnen ein. „Dafür wär’s tatsächlich perfekt.“
Alle starrten sie an. Ihre schwarzen Sneakers, die schwarzen Jeans, das grauschwarze Totenkopfshirt. „Könnte lustig werden“, sagte Wolfi schließlich. „Mit Särgen als Sitzgelegenheit oder so. Wie viele Leute willst du einladen? Nur damit wir die passende Anzahl an Särgen organisieren. Kann man so was eigentlich ausleihen?“
„Eher nicht …“ Bekka zuckte die Achseln. „Überhaupt, ein einzelner Minisarg würde komplett reichen. Ich feiere immer allein.“
„Ohne Schmarrn jetzt? Allein?“ Wolfi war entsetzt. „Ist das nicht ’n bisschen langweilig?“
„Willst du behaupten, meine Gesellschaft sei nicht anregend genug?“
„Doch, sicher, für uns ist sie’s auf jeden Fall.“ Wolfi und Lorenz tauschten einen Blick. Wenn Bekka keine eigenen Freunde hatte, erklärte das, warum sie sich ihnen so bereitwillig anschloss. Wann sie genau Geburtstag hatte, wollte sie allerdings trotzdem nicht verraten.
Langsam machte sich die Gruppe auf den Weg in die Mulde. An der Hütte hing ein handgeschriebenes Blatt, vor Regen und Nebelnässe durch eine Klarsichthülle geschützt: Nicht betreten! Einsturzgefahr!
Lorenz und Wolfi lasen die Warnung mit ernsten Mienen und betraten die Hütte.
„Da stand, man soll nicht reingehen!“, rief Hong.
„Wir sind vorsichtig“, kam es von drinnen.
„Ich dachte, die Deutschen halten sich an alle Verbote. Hat mir in China jedenfalls mal jemand erzählt.“ Verwirrt blickte Hong zu Bekka.
„Es gibt eben Deutsche und andere Deutsche.“ Bekka folgte den Jungen in das Gebäude. Im nächsten Moment fühlte sich Hong beiseitegezogen.
Mailin zerrte die Freundin zu einer Gruppe halbverbrannter Fichtenstämme. „Findest du diesen Lorenz jetzt immer noch so toll?“
Über Hongs Miene glitt ein Lächeln. „Noch viel mehr.“
„Dann mach voran und sag’s ihm! Damit ich beim nächsten Mal nicht wieder mitkommen muss.“
„Das kann ich nicht! So läuft das nicht.“ Hong war ehrlich entsetzt. „Ich muss erst rausfinden, ob er … interessiert ist. Die entsprechenden Zeichen aussendet. Und dann …“
„Was dann?“
„Muss ich gründlich nachdenken, ob ich sie richtig verstehe. Er ist ein Deutscher, begreif doch! Da kann man viel falsch machen, einfach, weil man Dinge nicht kapiert.“
„In erster Linie ist er ein Mann. Und deshalb doof.“ Mailin verschränkte die Arme. „Du bist’s schließlich gewesen, die mir dauernd vorgebetet hat, ich solle mich besser nach einem Chinesen umschauen. Und dass du nur einen Chinesen heiraten würdest.“
„Wer redet denn gleich vom Heiraten?“
Mailin stöhnte. „Und wenn der Typ dich genauso gemein sitzen lässt, wie’s der Joe bei mir gemacht hat?“
„War da nicht was mit Deutschen und anderen Deutschen?“ Resolut wandte sich Hong ab, um zu dem kaputten Gebäude zurückzugehen.
„Die Bude wär für eine Riesenparty locker groß genug gewesen. Die vierzig Gäste von Wolfis Tante hätten da problemlos reingepasst.“ Bekka kam aus der Hütte und fuhr mit der Spitze ihres Sneakers durch die Asche auf dem, was einst eine gepflegte Aussichtsterrasse gewesen war.
„Kein anständiges Feng-Shui, keine Party. Sag das deinen Freunden! Und scheuch sie dort raus, damit wir von dem Berg runterkommen, ehe es dunkel wird. So wie’s hier aussieht, wird die Seilbahn nämlich außer Betrieb sein.“ Mailin wurde energisch, und Hong begriff die Gefährlichkeit der Lage. „Müssen wir dann im Finstern über die Weide laufen?“
„Wir gehen außenrum“, entschied Bekka, ehe sie sich aufmachte, die jungen Männer zu holen. Als sie mit den beiden zurückkehrte, sagte eine tragische Stimme von irgendwoher:
„Das ist das Aus, das absolute Aus.“
Wolfi und Lorenz machten einen Satz zur Seite. Bekka wandte sich um. Ein hagerer, großer Mann mit wettergegerbter Haut hinkte um das Hütteneck.
„Äh … sprechen Sie mit uns?“, fragte Lorenz.
„Niemand wird mehr herkommen wollen, den ganzen langen Sommer nicht. Und wovon sollen wir dann leben, meine Familie und ich?“
„Ihnen gehört die …?“ Fast hätte Wolfi Ruine gesagt, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge beißen.
„Die Wanderer werden sich andere Berge suchen, und wir können in aller Stille vor die Hunde gehen“, fuhr der Mann fort, als habe er die Frage nicht gehört.
„Das Grünzeug wächst schnell wieder nach.“ Wolfi zermarterte sich das Hirn nach irgendeiner Sorte Trost. Die anderen waren ihm keine Hilfe. Die beiden Chinesinnen sahen verlegen auf das Bergpanorama, Lorenz hatte selbst keine Ahnung, was er sagen sollte, und Bekka vermutlich ebenso wenig. „Und so ’ne Hütte lässt sich wiederaufbauen.“
Endlich sprang ihm wenigstens Bekka bei: „Das Gebäude muss doch versichert gewesen sein?“
„Unterversichert“, seufzte der Hüttenwirt. Seine Schultern beugten sich noch ein wenig mehr, als drohe er unter der seelischen Last zusammenzubrechen. Den jungen Wanderern wurde immer unbehaglicher zumute.
„Wir sollten wirklich langsam runtergehen.“ Ängstlich blickte Hong sich um. „Bevor wir in die Dunkelheit geraten.“
„Ja, rennt’s nur weg! Rennt’s, so weit ihr könnt. Damit ich euch mit meinem Pech nicht anstecken kann.“ Der Mann ließ sich auf einen am Boden liegenden, halb verkohlten Baumstamm plumpsen.
„Also dann … Alles Gute trotzdem …“ Rückwärts und leise, als stünden sie an einem Krankenbett und nicht auf einem Berg, zogen sich die fünf weiter und weiter zurück. Erst als sie mindestens zehn Meter von dem verzweifelten Almbauern entfernt waren, drehten sie sich um und gingen schneller.
„Man müsste was für die armen Leute tun“, begann Mailin schließlich. „Ich weiß nur nicht, was. Wir haben doch alle selbst kein Geld übrig, oder?“ Sie blickte die anderen der Reihe nach an.
„Nein.“ Und Wolfi fügte hinzu: „Und Zeit haben wir auch nicht. Wir müssen uns um die Party von Tante Katharina kümmern. Und zwischendurch sollten wir wenigstens die eine oder andere Klausur mitschreiben. Kommt doch ein bisschen arg blöd rüber, wenn wir überall erst am Ende der Semesterferien zur Nachklausur auftauchen.“
Als sie wieder im Zug saßen, wo Hong hinter einem improvisierten Windjackenvorhang diskret ihre wunden Zehen massierte, gewannen zumindest für Wolfi und Lorenz die eigenen Probleme wieder die Oberhand.
„Wo kriegen wir auf die Schnelle eine neue Alm her? Die Party soll in sechs Wochen steigen, und die bekannten Almen sind den Sommer über längst für sämtliche Wochenenden ausgebucht.“ Wolfi schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass seine Tante ihn nicht gerade heute anrufen würde, um zu fragen, wie weit sie mit der Planung seien. „Und außer der Hütte brauchen wir noch allen möglichen anderen Zinnober: den perfekten Caterer plus Ideen, was er liefern soll, Anregungen für ansprechende Dekoration, irgendein Musikprogramm und vielleicht weitere Unterhaltung …“
„Nicht irgendeins, sondern eins für gutes Qi“, präzisierte Lorenz. „Muss alles zum chinesisch angehauchten Guru passen.“
Bekka räusperte sich. „Also, was die Musik betrifft, da wüsste ich vielleicht was.“
„Du? Äh … super. Da komm ich später gern drauf zurück.“ Um Bekkas Gefühle nicht zu verletzen, behielt Wolfi seine Zweifel, ob Bekkas Gothic-Geschmack und die Musikwünsche seiner Tante auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen wären, lieber für sich. „Zuerst mal müssen wir aber die Frage nach dem Caterer klären“, fiel ihm zum Glück ein. „Essen ist wichtiger als Unterhaltung. Brot und Spiele, hat’s so nicht schon bei den alten Römern geheißen? Das Brot vor den Spielen, also.“
„Vegetarisches Brot“, nickte Lorenz. Er zog die Stirn kraus. „Mit dem Caterer sollten wir uns beeilen. Weil, vielleicht sind die genauso begehrt wie die Almhütten? In den paar Sonnenmonaten findet doch alles geballt statt: Hochzeiten, Sommerfeste, Märkte, all der Kram. Was machen wir, wenn die Leute für Katharinas Guru gar keine Zeit mehr haben?“