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Kapitel 3

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Lorenz sollte recht behalten. Die wenigen Caterer, die Wolfi anderntags am Telefon überhaupt ausreden ließen, erklärten spätestens beim Thema Alm, wie unmöglich es ihnen sei, den Auftrag anzunehmen.

„Was sollen wir jetzt machen?“ Die beiden Jungs saßen mit Draculas Tochter auf der üblichen Friedhofsbank, um das Gelände zu beobachten, und hofften, dass sich der Ripper endlich wieder mal zeigte.

„Weitersuchen?“, schlug Bekka vor. Wolfi winkte ab und zeigte ihr auf dem Handy die ewig lange Liste der Anbieter, bei denen er es vergeblich probiert hatte. Bekka überflog sie und runzelte die Stirn. „Wartet mal, mir fällt da gerade was ein …“ Sie begann, auf Wolfis Handy herumzutippen. „Schaut mal, dieses Gasthaus hier, das liegt am Starnberger See. Also schon nah an den Bergen. Ich war vor Urzeiten mal dort. Die Küche war nicht schlecht, zumindest damals. Und brauchbar günstig.“

Wolfi eroberte sein Handy zurück, suchte nach den Kontaktdaten des Lokals und wählte. Nach dem Telefonat, als Lorenz und Bekka von einer Suchrunde durch den Friedhof zurückkehrten, leider ohne den Ripper entdeckt zu haben, erstattete er Bericht.

„Mit der Lieferung in die Berge, da ziehen sie noch nicht recht. Direkt abgelehnt haben sie aber auch nicht.“

„Am besten fahren wir hin.“ Lorenz als zukünftiger Psychologe wusste, dass es schwerer fiel, jemandem ein Nein ins Gesicht zu sagen, als eine ablehnende Mail zu schreiben. Und verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen. Neben der Alm war der Caterer der wichtigste Punkt auf der Liste, den sie dringend erledigen mussten. „Aber Mailin und Hong müssen wir mitnehmen, weil wir sonst womöglich das Falsche bestellen.“

„Dann lass uns hoffen, dass unser Etat für die ganzen Gruppenausflüge reicht“, murrte Wolfi. „Überhaupt, die Mailin hat was gegen uns, hast du das nicht gespannt?“

„Aber ihre Freundin nicht. Die hat nur was gegen wilde Bergtiere.“

Mailin arbeitete mit ihrem Notebook am Schreibtisch, während Hong in der Mitte des Zimmers eine Pirouette drehte und sich das Handy gegen die Brust drückte.

„Sie wollen uns wiedersehen. Morgen.“

„Aber ich sie nicht.“ Mailin missfiel, wie sehr sich Hong in ihre Schwärmerei für den langhaarigen Lorenz hineinsteigerte. So kannte sie ihre schüchterne, zurückhaltende Freundin gar nicht.

Hongs Lächeln verflüchtigte sich. „Du musst mitkommen. Ich kann nicht allein mitfahren, das trau ich mich nicht.“

„Vielleicht fährt ja Bekka wieder mit.“

„Das ist nicht dasselbe. Ich brauch dich. Du bist meine Freundin.“

Mailin sah auf ihren Monitor und registrierte halb abwesend, dass er komplett verstaubt war. Natürlich war Hong ihre beste Freundin. Es war Hong gewesen, die Mailin im Arm gehalten hatte, als die sich die Seele aus dem Leib weinte, weil Joe mit einer anderen Kommilitonin geschlafen hatte. Die Erinnerung daran schmerzte noch immer fast unerträglich, dabei war das Ganze schon fast ein halbes Jahr her.

Manchmal fragte sich Mailin, ob sie an dem Joe-Desaster ein ganz klein wenig mitschuldig war. Wäre sie mit ihm ins Bett gegangen, hätte er sich im Fasching vielleicht nicht von der anderen verführen lassen. Aber sie hatte sich dafür noch nicht reif gefühlt. Und am meisten schmerzte, dass er ihr seinen Fehler nicht gestanden hatte, sondern dass Mailin von einer Mitstudentin hatte erfahren müssen, warum er sich nicht mehr meldete.

Mailin wusste nicht, wie sie ohne Hongs Unterstützung damals über die Runden gekommen wäre. Deshalb schuldete sie ihr etwas. Auch wenn es ihr gegen den Strich ging, sie durfte ihre Freundin jetzt nicht im Stich lassen. Und möglicherweise konnte sie, wenn sie mitfuhr, Dinge beobachten, die Hong entgingen. Anzeichen dafür, dass diese Jungs genauso oberflächlich waren wie Joe.

Außerdem war da die Sache mit dem Kaninchen. Natürlich war es verrückt, das schwarze Tierchen am Friedhof mit dem entsprungenen Mondkaninchen von einst in Verbindung zu bringen. Aber irgendwo in Mailins Hinterkopf bestand eine winzige Stimme hartnäckig darauf, sie müsse versuchen, dieses deutsche Kaninchen zu schützen. Quasi als Wiedergutmachung für damals, als sie das Stallgitter bei der Oma nicht richtig geschlossen hatte.

Hong und dem Kaninchen zuliebe würde sie sich also weiteren Treffen mit den beiden verrückten Jungs nicht verweigern dürfen.

Wolfi und Lorenz freuten sich ohne jegliche Hintergedanken darüber, dass die beiden Mädels Zeit hatten, mit an den See zu kommen. Bekka war dank ihrer praktischen Art ohnedies längst voll in das Planungsteam integriert, umso mehr, als man auf den gemeinsamen Fahrten über das ungelöste Ripperproblem diskutieren konnte, das zu Wolfis Überraschung auch Mailin sehr am Herzen zu liegen schien.

Doch an diesem Morgen konnte er sich nicht auf freilaufende Kaninchen konzentrieren, denn beim Frühstück war eine langersehnte Nachricht von Gesa auf seinem Handy eingetrudelt. Sie war mit irgendwelchen Typen von der Uni an der San-Andreas-Verwerfung gewesen, wo zwei tektonische Platten aneinanderstießen. Im Anhang hatte sie zwei fantastische Bilder mitgeschickt. Wolfi interessierte sich allerdings weniger für die berühmte Erdspalte als für die Jungs, mit denen seine Freundin herumzog. Leider waren ihre Gesichter unter den Baseballkäppis zu verschattet, als dass er viel von ihnen hätte erkennen können.

Immer wieder zog er in der Bahn sein Handy heraus, um die Fotos zu betrachten. Und nur wegen dieser wildfremden jungen Amerikaner musste er sich ständig zusammenreißen, um in der Ripperdiskussion nicht völlig den Faden zu verlieren.

Bei diesem Ausflug präsentierte sich das Wetter alles andere als sommerlich, und selbst Mailin war froh, dass sie nicht beabsichtigten, auf einen Berg zu steigen. Einzig Hong schien in unbeschwert fröhlicher Stimmung, als sie in Tutzing die S-Bahn verließen und ihnen ein kalter Windstoß den Sprühregen in die Gesichter trieb.

„Und wo hat dein Caterer seine Wirkungsstätte?“ Fragend sah Wolfi zu Bekka, die sich kurz orientierte und dann nach links wies. „Da entlang.“

Hong und Mailin hatten Regenschirme dabei, die Jungs bloß ihre Regenjacken, ebenso wie Bekka, die trotz des hartnäckigen Nieselregens nicht mal ihre Kapuze überzog. „Liegt ’n bisschen am Ortsrand.“ Zielsicher steuerte Bekka die anderen durch die Straßen. „Aber ich hab eine Überraschung für euch. Ich werde euch dort zum Essen einladen. Dann merken wir gleich, ob die kochmäßig immer noch was draufhaben.“

„Du willst uns einladen? Wieso?“, fragte Lorenz verblüfft. „Hast du dir als Ersatz für den Ripper ’n Goldesel als neues Haustier zugelegt?“

„Ich hab ein Bündel Gutscheine für die Bude.“

Die Jungs starrten sie an. „Und wo kriegt man so was? Wer verschenkt Gutscheine für Studentenfutter am Starnberger See?“

Bekka zuckte die Achseln. „Irgend so ’n Industrieller. Der geht da manchmal mit Kollegen hin, hat er mir erzählt.“

Nun machten nicht mehr nur die Jungen große Augen, sondern auch Mailin und Hong.

„Hab ich das richtig verstanden?“, vergewisserte sich Hong leise bei Mailin. „Sie hat die Gutscheine von einem fremden Mann?“

„Muss trotzdem nicht bedeuten, was du denkst“, wisperte Mailin zurück.

Wolfi vermutete dasselbe wie Hong und hatte weniger Hemmungen, es anzusprechen. „Äh, arbeitest du neben dem Studium im Begleitservice oder so? Für besonders geldige Säcke?“

„Mentale Begleitung“, sagte Bekka todernst. Aber Wolfi sah, dass sie ein Grinsen unterdrückte.

„Sterbebegleitung?“, fragte Hong ehrfurchtsvoll.

„Nein, aber fast wär’s so weit gekommen.“ Nun lachte Bekka offen. „Ich hab für einen Industrieboss den geistig minderbemittelten Sohn durch seine IT-Prüfungen gepaukt.“ Ihre Miene wurde grimmig. „Und so faul und deppert, wie sich der Bursche angestellt hat, hab ich mir nicht nur die vereinbarte Kohle, sondern auch die Gutscheine verdammt hart verdient.“

„Du bist gut in so was?“, fragte Mailin beeindruckt. Bekka zuckte die Achseln. „IT ist nicht schwer. Mathe und Computer sind immer logisch, das ist total einfach.“

„Wenn du meinst.“ Wolfi und Lorenz tauschten Blicke, und Mailin brach in Lachen aus.

„Vielleicht könntest du ein Computerprogramm schreiben, wie man am besten Kaninchen fängt?“

Das Restaurant lag auf einer Anhöhe, etwa fünfzig Meter vom See entfernt. Den linken Flügel bildete ein älteres, jedoch perfekt renoviertes Gasthaus im bayrischen Alpenstil. Im rechten Teil des Ensembles hatte sich ein moderner Architekt verwirklicht und eine L-förmige Erweiterung mit bodentiefen Glasfronten angesetzt. In Fachzeitschriften würde das Ganze vermutlich unter Gelungene Synthese aus Alt und Neu laufen, in Wolfis Augen wirkte es eher wild zusammengeschustert. Und teuer.

„Sieht … edel aus.“ Wolfi blickte an sich herunter. Nasse Regenjacke, abgewetzte Jeans, gelbgrüne, schmuddelige Sneakers. „Sag mal, Bekka, existiert da so was wie Krawattenzwang?“

„Als ich damals hier war, gab’s nur den älteren Teil“, meinte Bekka. „Aber selbst wenn die jetzt auf Luxusschuppen machen sollten, werden sie uns nicht den Zutritt verweigern. Nicht wenn wir auf Empfehlung von Mister Großindustrie kommen.“ Entschlossen stieß Bekka die Tür auf und ignorierte die überrascht-herablassenden Blicke der geschniegelten Kellner.

„Mr McNorden hat uns Ihr Lokal empfohlen“, verkündete sie selbstsicher.

„Mr McNorden?“ Der Name pflanzte sich wie ein Buschfeuer von Kellner zu Kellner fort, und nun konnten die Herren in Schwarz-Weiß ihre steifen Rücken tatsächlich zu angedeuteten Verbeugungen zwingen.

„So ist es.“ Bekka drückte ihre tropfende schwarze Regenjacke dem nächststehenden dienstbaren Geist in die Hand, als speise sie täglich in den vornehmsten Lokalen. Wolfi spürte, wie ihm seine Jacke entrissen wurde, und er hoffte inständig, dass der schlecht geflickte Ärmel seines Pullis nicht auffallen würde.

„Einen Aperitif?“ Der Kellner näherte sich, kaum dass die fünf jungen Leute an dem besten Fenstertisch Platz genommen hatten, dessen Reserviert-Schild diskret in eine andere Ecke verfrachtet wurde.

Sie lehnten einmütig ab, um die Gutscheine nicht für derartige Kleinigkeiten zu vergeuden, und vertieften sich stattdessen in die Speisekarte.

„Was, bitte schön, sind Blumenkohlsphären?“ Wolfi konzentrierte sich auf das einzige Gericht auf der Karte, das zumindest ansatzweise an vertraute Mahlzeiten erinnerte: Rigatoni mit Knoblauchschäumchen und Tomaten-Blumenkohl-Sphären.

„Äh … früher gab’s hier ganz normales Zeug.“ Bekka checkte die Beträge auf den Gutscheinen, um auszurechnen, was sich die Gruppe leisten konnte. „Aber möglicherweise spricht der Luxuskram den Guru deiner Tante besonders an?“

„Oder ihm hängt bei dem Anblick die Fresse bis zum Knie“, murmelte Wolfi. Hong und Mailin diskutierten auf Chinesisch, was sie bestellen sollten, und Lorenz beschloss der Einfachheit halber, dasselbe wie Wolfi zu nehmen, nämlich die Rigatoni.

„Vegetarisch sind die Nudeln ja vermutlich.“ Wolfi versuchte, einen Pluspunkt zu finden, obwohl ihm angesichts der vornehmen Kellner und der verschnörkelt geschriebenen Zahlen auf der Karte Zweifel kamen, dass ihr Partybudget für molekulares Catering reichen würde. „Aber wie die wohl schmecken, wenn sie erst mal in einzelne Moleküle zerlegt sind?“

„Mailin schafft das mit der molekularen Küche auch manchmal. Wenn sie vergisst, dass sie einen Topf auf dem Herd hat, und alles in Kohlenstoff verwandelt“, erklärte Hong. „Kohlenstoff ist molekular, oder?“

„Und nützlich. Gegen Durchfall. So wie Kohletabletten“, fiel Lorenz dazu ein.

„Hört auf mit dem Unsinn. Die schauen alle zu uns rüber“, flüsterte Mailin mit einem Blick auf die tadellos gekleideten Kellner mit ihren reglosen Mienen.

„Klar starren die. Weil ihre Klamotten mindestens das Dreifache von unseren kosten.“ Aber Lorenz störte das nicht; er hatte Hunger und wollte endlich etwas zu essen.

Zu seiner Freude erschien kurz darauf auf winzigen Tellerchen der Gruß aus der Küche: Miniatur-Weißbrotscheiben mit einer grünlichen Creme und einer orangefarbenen Blüte obendrauf.

„Ist das die Tischdeko?“, murmelte Wolfi in Lorenz’ Richtung, und prompt verschluckte sich der Freund an seinem Happen, was ihm einen Hustenanfall bescherte, der ihn krebsrot anlaufen ließ. Immerhin schmeckte das Zeug nicht abartig, sondern einfach grün, wie Wolfi fand. Was genau sie da gegessen hatten, wusste keiner der fünf, und niemand wollte den Kellner fragen und somit seine Ignoranz beweisen.

Die Teller mit den Hauptgerichten wurden in einer feierlichen Prozession herangetragen, doch als sie schließlich auf dem Tisch standen, malte sich Enttäuschung auf Lorenz’ Miene.

„Etwas … äh … arg molekular.“ Er stocherte mit der Gabel in den wenigen Nudeln, als hoffe er, dass sich darunter etwas Nahrhafteres versteckte. „Und das da müssen die Sphären sein.“ Vorsichtig drehte er eine der gelatineartigen Kugeln am Tellerrand.

„Wirst nicht dran sterben. Mr Großindustrieller lebt auch noch.“ Bekka erinnerte sich nicht, was sie eigentlich bestellt hatte. Aber sie aß mutig, um den anderen ein gutes Beispiel zu liefern.

Mailin und Hong wisperten auf Chinesisch miteinander und brachen anschließend in Gelächter aus.

„Was ist so komisch?“ Wolfi fand, dass das Zeug auf seinem Teller zwar unorthodox aussah, aber ganz brauchbar nach Tomate, Blumenkohl und Kräutern schmeckte. Allerdings hätte er sich die fünffache Portion gewünscht. Mindestens.

„Hong hat McDonald’s-Gutscheine. Von einer Kommilitonin, die dort jobbt. So wie’s aussieht, könnten wir die Dinger heute noch brauchen“, erklärte Mailin.

Lorenz’ Miene hellte sich augenblicklich auf.

„Würdest du die an Bedürftige spenden, Hong?“

„Ich wüsste nicht, was ich sonst damit anfangen sollte.“ Hong strahlte Lorenz an. Viel zu sehr, wie Mailin befand.

Während die anderen sich Nachspeisen aussuchten, stand Wolfi in der Küche, in die man ihn zunächst nicht hatte hineinlassen wollen. Erst als er erklärte, dass es um eine Catering-Anfrage ging, hatte man ihm gnädig Zugang zum Allerheiligsten gewährt. Dort ließ man ihn einfach stehen, bis der Chefkoch geruhte, sich um den Besucher zu kümmern, den er erst einmal gründlich musterte, von den wirren Haaren bis zu den schlammbespritzten Sneakers.

„Es regnet draußen.“ Im nächsten Moment ärgerte sich Wolfi darüber, dass er sich diesem Lackaffen in Kochschürze gegenüber überhaupt zu einer Rechtfertigung hatte verleiten lassen.

Der Koch warf einen Blick zum Fenster, als würde ihm erst in diesem Moment bewusst, dass so etwas wie eine Welt außerhalb seines Reichs existierte.

„Dass unser Catering nicht billig ist, wissen Sie?“

„Ich hab die Preise auf Ihrer Karte gesehen“, sagte Wolfi mit möglichst ungerührter Miene. „Hauptsache, Sie können Catering auch in rein vegetarisch?“

„Selbstverständlich!“ Der Koch klang so entrüstet, als habe Wolfi ihn verdächtigt, einen Mord begangen zu haben. „Ich mache Ihnen ein Angebot. Wohin darf ich es schicken?“

Wolfi kritzelte seine Mailadresse mit Kugelschreiber auf eine teure Stoffserviette, aus Rache, weil dieser Arsch nicht gesagt hatte: Ich mache Ihnen GERN ein Angebot.

Als sie das Restaurant verließen, hörte es wie durch ein Wunder auf zu regnen, was Wolfis Stimmung allerdings kaum verbesserte. „Ein Angebot wird er schicken, aber ob uns das viel nützen wird? Habt ihr gesehen, was allein diese paar Sphären mit den spärlichen Nudeln gekostet haben?“

Lorenz kickte einen Stein vor sich her. „Also doch besser Burger? Die lassen sich auch einfacher auf die Alm transportieren, nehm ich an.“

Mit unfehlbarer Sicherheit fand er die nächste McDonald’s-Filiale, und bald saßen sie in wesentlich lockererer Atmosphäre über Kaffee, Saft und Burgern zusammen. Nur Mailin hatte lediglich ein Getränk und eine Portion Pommes gewählt, weil es keinen veganen Burger gab.

„Warum hast du überhaupt nach einem Angebot gefragt, wenn dir die Leute zu teuer sind?“, wollte Bekka wissen.

„Um den arroganten Arschgeigen Arbeit zu machen. Schließlich sollen sie die hohen Preise abarbeiten.“ Wolfi sah so unglücklich drein, dass Mailin zu ihrer Überraschung den Wunsch verspürte, ihm tröstend die Hand auf den Arm zu legen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie Wolfi doch eigentlich nicht besonders leiden mochte. Schnell schob sie die Hand unter den Tisch.

„He, Bekka! Kannst du nicht noch einen Stapel Essensgutscheine aus Mr McSüd oder Nord oder wie der Typ auch heißt, rausleiern?“, fragte Lorenz hoffnungsvoll. „Die wir auf das Party-Catering anrechnen lassen können?“

Doch Bekka schüttelte entschieden den Kopf. „So viele doofe Söhne haben nicht mal sämtliche Großindustrielle Bayerns zusammen.“

Währenddessen beugte sich Hong zu Mailin und sagte etwas in Schnellfeuerchinesisch. Mailin starrte ihre Freundin an, schüttelte leicht den Kopf und antwortete ebenso rasch.

„Ist was mit ihrem Burger?“, fragte Lorenz.

„Nein, ich …“ Hong sah erneut Mailin an, die nun die Achseln zuckte und nickte. „Habt ihr schon mal beim Grünen Drachen nachgefragt?“

„Bei wem?“

„Dem Grünen Drachen. Der macht auch so was wie … Partyservice. Ist ziemlich klein, aber nicht teuer.“

„Und definitiv nie ausgebucht“, fügte Mailin an.

Grüner Drache. Ist das ein Chinese?“ Wolfis Miene hellte sich ein klein wenig auf.

„Vietnamese, eigentlich.“ Mailin warf ihren Becher in einen der für den Abfall vorgesehenen Behälter. „Hong und ich haben mal dort gejobbt, in den Ferien.“ Sie zögerte. „Manchmal geht’s da allerdings ein bisschen chaotisch zu …“

„Egal. Glaubt ihr, der kann vegetarisch? Wo ist der überhaupt?“

„Landwehrstraße.“

Sofort zückte Lorenz sein Handy, um die Telefonnummer herauszusuchen.

„Wir würden heute Abend vorbeikommen. Ist Ihnen sieben Uhr recht?“

Mailin hörte die Hoffnung in Wolfis Stimme, doch das Gespräch schien nicht gut zu laufen.

„Tisch. Heute. Sieben Persone“, drang es fröhlich aus dem Telefon.

„Nein“, stöhnte Wolfi. „Sieben Uhr. Und keinen Tisch. Partyservice.“

Mailin nahm ihm das Handy aus der Hand, sprach in einer den Jungs unverständlichen Sprache hinein, hörte sich an, was die Frau am anderen Ende zu sagen hatte, und drückte das Gespräch weg.

„In Ordnung. Sie erwarten dich heut Abend um sieben.“

„Äh … sprichst du Vietnamesisch?“

„Nein, aber die Frau am Telefon ist Chinesin.“

„Ich bin euch echt dankbar.“ Wolfi rieb sich die Stirn. „Ihr … helft mir alle so viel, da weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Wenn Gesa da wäre, könnte sie mich beraten. Schließlich studiert sie Ethnologie, sollte sich mit China auskennen. Aber so … Ohne euch wär ich im Moment völlig aufgeschmissen.“

Mailin sah auf ihren Becher. Die Worte des jungen Mannes hatten ehrlich geklungen. Und irgendwie … nett. Vielleicht hatte sie ihn anfangs ein bisschen zu hart beurteilt? Zu ernst genommen, was scherzhaft gemeint gewesen war? Unter dem dauerzerzausten braunen Haar hatte er jedenfalls freundlich-warme braune Augen, die – wenn er nicht gerade von Party- oder Rippersorgen geplagt wurde – vermutlich gern fröhlich dreinschauten, das war ihr schon aufgefallen.

„Wir helfen euch gern. Und heut Abend kommen die Mailin und ich auch mit“, sagte Hong tröstend. „Du wirst sehen, das Lokal ist gar nicht so schlecht.“

„Und wir beide“, sagte Bekka zu Lorenz, „schauen indessen mal wieder nach dem Ripper.“

Wenig später stiegen die Mädchen aus der wie meist sehr vollen U6, um zu ihrer kleinen Wohnung in der Müllerstraße zu laufen. Hong schwärmte wieder mal von Lorenz, doch Mailin hörte kaum zu. Sie musste vielmehr an Joe denken. Ihre Eltern hatten recht behalten, als sie die Tochter noch in China vor zu engen Beziehungen zu deutschen Männern gewarnt hatten. Sich mit einem Deutschen einzulassen, brachte nur Leid. Und überhaupt, wenn sie eines Tages nach China zurückging, brauchte sie jemanden, der ihre Muttersprache verstand. Und welcher Deutsche wäre verrückt genug, um ihretwillen Chinesisch zu lernen?

Von Joe drifteten ihre Gedanken nach einer Weile zu Wolfi. Irgendwie war es schon niedlich gewesen, wie er in der S-Bahn ständig mit einem Halblächeln auf den Lippen mit seinem Handy herumgespielt hatte. Lorenz hatte den drei Mädchen zugeflüstert, dass sein Freund die Nachricht seiner Gesa schon mindestens tausendmal gelesen hatte. Der Spruch mit der Narrenfreiheit war also bloß ein Scherz gewesen und Wolfi fest in seine Gesa verliebt. Du musst wirklich aufpassen, dass du nicht beginnst, ihn zu nett zu finden, dachte Mailin. Mit Joe war es anfangs genauso gewesen, und dann, viel zu bald, hatte er sich auf und davon gemacht. Wäre Hong nicht so unselbstständig gewesen, hätte Mailin sich vielleicht noch aus dieser Partygeschichte zurückziehen können, aber so …

Völlig unerwartet überkam sie der Wunsch, ein Bild dieser Gesa zu sehen, die irgendwo in Amerika herumfuhr, aber Wolfis Gedanken derart fesselte.

Der Grüne Drache sah schäbiger aus, als Mailin ihn in Erinnerung hatte. Besonders gut konnten die Geschäfte nicht laufen. Sie warf Hong einen Blick zu. Die Freundin zuckte die Achseln.

„Die Jungs brauchen einen Caterer, und das hier ist einer. Wir müssen’s zumindest versuchen.“

Ein durchdringender Geruch nach Ingwer und Sternanis hing in der Luft. Der Dunstabzug in der Küche zog nicht richtig, aber der Hauptkoch freute sich riesig, die Mädchen zu sehen.

„Kommt ihr zum Arbeiten oder zum Essen?“ Noch während er fragte, hatte er bereits einen Teller Jiăozi in der Hand, chinesische Teigtaschen, und reichte den beiden die Essstäbchen.

„Könntet ihr denn wieder jemanden brauchen?“ Mailin wollte herausfinden, wie es um den Laden stand.

„Höchstens, wenn der Betreffende uns was zahlt statt wir ihm.“ Der Koch setzte sich zu ihnen. „Weiß selbst nicht, woran’s liegt, aber die Kunden bleiben aus.“

„Zu viel Konkurrenz vielleicht“, schlug Hong vor, weil sie es nicht übers Herz brachte, ihn darauf aufmerksam zu machen, wie heruntergekommen das Lokal wirkte.

Als Wolfi eintraf, aßen die beiden Mädchen bereits mit gutem Appetit.

„Nῐ hăo!“ Mit breitem Grinsen streckte der Koch dem jungen Mann die Hand hin und fragte mit Gesten, ob er ebenfalls probieren wolle.

Hong kicherte, als sie sah, wie ungeschickt Wolfi die Stäbchen handhabte. Immerhin schaffte der Student es nach einer Weile, die Jiăozi in die zugehörige Soße zu tunken.

„Verdammt lecker.“ Er sah zu Mailin. „Kannst du ihm das übersetzen? Ist er auch Chinese?“

„Nur der Besitzer stammt aus Vietnam“, erklärte sie nickend.

Wolfi zerpflückte eine Teigtasche und studierte den Inhalt. „Was genau ist da drin?“

„Ei, Knoblauch und Kräuter, hauptsächlich.“

„Dann ist das veggiemäßig?“ Wolfi nahm einen weiteren Bissen. „Das könnten wir schon mal vormerken.“ Er grinste dem Koch zu. „Dieses Zeug ist verdammt besser als die seltsamen Sphären in Bekkas Edelklitsche. Kannst du ihn fragen, ob er und seine Leute Zeit hätten, das Catering zu übernehmen? Sich einen Speiseplan zu überlegen?“

Gleich darauf schleppte der Koch einen mit chinesischen Zeichen vollgekritzelten Kalender herbei.

„August, der vierundzwanzigste. Samstag.“ Besorgt beobachtete Wolfi, wie der dicke Zeigefinger des Kochs über die Tage glitt, bis ihm ein Nicken seine größten Hoffnungen bestätigte.

„Ich brauch natürlich einen Kostenvoranschlag …“

Er konnte kaum ausreden, als Mailin den anderen schon mit einem chinesischen Wortschwall überschüttete, der fast drohend klang.

„Was hast du ihm gesagt?“

Mailin blickte verlegen drein; Hong grinste. „Sie hat erklärt, dass es wirklich, wirklich klappen muss. Weil du Deutscher bist und für dich ein Ja immer ein absolutes Ja bedeutet.“

Sie lachten gemeinsam, auch wenn Wolfi bei dem Gedanken, dass seinem Cateringplan diesmal interkulturelle statt finanzielle Probleme in die Quere kommen könnten, ein bisschen mulmig wurde.

„Pack mit an! Die müssen wir alle runterreißen!“ Bekka hatte einen Aktionsplan entworfen, kaum dass sie und Lorenz am nächsten Tag die amateurhaft gestalteten Plakate an den Friedhofsbäumen entdeckt hatten:

Gefährlicher schwarzer Hase!

Hat meinen Dackel gebissen!

50 Euro Belohnung bei Fang!

Abzuliefern bei …

„Was will der Kerl denn mit dem Ripper anstellen, wenn ihn tatsächlich jemand fängt?“, fragte Lorenz entsetzt.

„Na, was wohl?“ Bekka fuhr sich mit dem Finger über den Hals.

Sie rannten getrennt durch den Park, zerfetzten sämtliche Plakate und stopften sie in die Mülleimer.

„Wenigstens hat er nicht lebend oder tot draufgeschrieben“, keuchte Lorenz, als sie sich wieder an der üblichen Bank trafen.

„Wird schon noch kommen.“ Bekka schien generell einen düsteren Blick auf das Leben zu haben. Vom Ripper selbst entdeckten sie, genau wie am Vortag, abgesehen von ein paar frischen Kötteln keine Spur.

„So darf’s nicht weitergehen. Wir können nicht warten, bis irgendein Irrer den armen Ripper abmurkst.“ Lorenz machte sich schwere Sorgen.

„Wir sollten eine geheime Futterstelle anlegen.“ Bekka wies vage in den Park. „Irgendwo ganz hinten, wo kaum jemand hinkommt. Und wenn sich der Ripper dran gewöhnt, dass dort immer was besonders Leckeres liegt, können wir ihm leichter ’ne Falle stellen.“

Lorenz drehte die Idee in seinem Kopf hin und her und fand sie nicht schlecht. Sie hätte fast von ihm sein können. Die Frage war nur, welches Futter sie anbieten sollten. Körner, die der Ripper laut Bekka bevorzugte, würden von Tauben und anderen Vögeln zu rasch geklaut werden. Frisches Grün gab es im Park im Augenblick genug, sodass der Ripper nicht auf Salatspenden angewiesen war.

„Aber vielleicht gibt’s irgendwelche Pflanzen, die er besonders liebt? Oder Blumen?“, fragte Lorenz.

Bekka überlegte. „Mit gesundem Futter hat’s der Ripper nie so besonders gehabt“, gestand sie endlich. „Aber eventuell – er liebt Chicorée. Wegen den Bitterstoffen, denk ich.“

„Dann auf zum Supermarkt.“

Auf dem Weg fragte Lorenz etwas, was er schon lange wissen wollte: „Warum mag die Mailin den Wolfi eigentlich nicht?“

„Schätze, weil sie sich sonst in ihn verlieben würde.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, half Lorenz in ihrer Unverständlichkeit aber nicht weiter.

„Gibt’s eine schriftliche Anleitung, wie diese Aussage zu interpretieren ist?“

„Ein Frauenversteher scheinst du ja nicht gerade zu sein.“

Lorenz schwieg beleidigt; immerhin hatte es in seinem jungen Leben bereits etliche weibliche Wesen gegeben, die freudig sein Bett geteilt hatten.

„Du verstehst zum Beispiel nicht, wie sehr ich leide.“

„Du leidest?“ Entsetzt blickte Lorenz sie an. Hatte er etwas übersehen? Irgendwas falsch gemacht? Sollte er sie in die Arme nehmen? Aber sie war immer so sachlich-unterkühlt! „Und … äh … worunter leidest du?“

„Darunter, dass zwei Idioten mein Lieblingskaninchen in die Wüste geschickt haben. Und es jetzt wahrscheinlich umgebracht wird.“

Lorenz überlegte verzweifelt, was der perfekte Frauenversteher an seiner Stelle sagen würde. „Also, würdest du dich besser fühlen, wenn ich dich zum Italiener um die Ecke einlade?“

„Nicht dorthin, bei dem gibt’s coniglio.“

„Und das magst du nicht?“

Coniglio ist Kaninchenbraten, du Trottel.“

Sie fanden ein anderes Restaurant, verwinkelt und klein, in dem sie sich eine riesige Pizza Margherita teilten.

„Erzähl was von dir“, sagte Lorenz, während er sich den Bierschaum von der Lippe wischte. Mittlerweile gefiel er sich in der Rolle des Frauenverstehers und fand, dass er die Möglichkeit, sein Können zu erweitern, nutzen sollte.

„Da gibt’s nichts, was sich zu erzählen lohnt.“

„Vielleicht doch. Wo kommst du her, zum Beispiel? Stammst du aus München?“

Sie schüttelte den Kopf. „Rosenheim.“

„Da hast du’s ja wenigstens nicht weit, wenn du zwischendurch nach Hause fahren willst.“

Sie schwieg, und Lorenz wusste nicht, was er als Nächstes sagen sollte. Zum Glück schien Bekka aber Mitleid mit ihm zu bekommen.

„Meine Eltern leben nicht mehr.“

„Scheiße … äh … ich wollte sagen: Tut mir leid.“ Nun hätte Lorenz sie wirklich gern in den Arm genommen. Aber da er ihr gegenübersaß, hätte er erst um den ganzen Tisch herumlaufen müssen und wäre sich dabei furchtbar dämlich vorgekommen, sodass er mit gesenktem Kopf sitzen blieb und sein Talent zum Frauenversteher verloren gab.

„Ist schon fünf Jahre her.“ Bekka nippte an ihrem Wein. „Und was ist mit dir? Und deinem Freund? Ich weiß fast gar nichts über euch. Außer dass ihr Kaninchenfreunde seid und Wolfi einer spinnerten Tante hörig ist.“

„Er ist ihr nicht hörig“, fühlte Lorenz sich gedrängt, den Freund zu verteidigen.

„Und warum tut er dann alles, was diese Frau ihm aufträgt?“

„Weil sie sein Studium finanziert und er zusätzliches Geld für solche Jobs kriegt.“

„Warum zahlen seine Eltern nicht?“ Gleich darauf erinnerte sie sich an Wolfis Worte: „Weil sein Vater als Künstler nichts verdient?“

Bei Lorenz zahlten die Eltern zwar klaglos das Studium, aber er war dennoch chronisch klamm, denn die monatlichen Überweisungen reichten in einer Stadt wie München gerade mal für das Nötigste. Trotzdem lehnte er Bekkas Angebot, die Rechnung lieber zu teilen, heroisch ab. „Vielleicht krieg ich dadurch ein positiveres Karma? Das mir hilft, den Ripper zu fangen?“

„Bevor ihn irgendein Hobby-Kopfgeldjäger in den Suppentopf steckt.“ Bekkas Miene verdüsterte sich. „Und seine Ohren in einer Tupperdose dem Dackelmann bringt, zwecks der Belohnung. Was glaubst du, wie viele Leute sich die Nummer des Dackelmanns notiert haben, eh wir aufgekreuzt sind?“

In Lorenz stieg Übelkeit auf, was sicher nicht an der Pizza lag. Würden sie es schaffen, den Ripper zu erwischen, ehe er einem skrupellosen Ninchenjäger in die Hände fiel?

Karma-Chaos auf der Alm

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