Читать книгу Siebenhundertfünfundachtzig - Frans Diether - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеDie Sonne schaffte es kaum noch, sich gegen die dicken Wolken durchzusetzen. Kräftiger Wind raubte den Bäumen die Blätter. Tagelang regnete es in Strömen. In Bodowins Dorf war man froh, die reiche Ernte bereits eingebracht zu haben. Sie hatten für den Winter gut vorgesorgt. Der Herr ihres Dorfes hingegen weilte noch immer auf seiner geheimnisvollen Mission. Allein die Angst vor schwerer Strafe hinderte andere Männer, um seine Stelle zu kämpfen. Doch wie lange würden sie noch stillhalten? Und was würde aus Astrid, wenn ihr Gemahl nicht zurückkehrte? Sie allein kannte Bodowins Pläne. Vieles konnte passieren, ja musste passieren. Warum waren Männer nur so stolz? Warum suchten sie stets die Gefahr? Doch es gab einen, der war so völlig anders. Bei dem Gedanken an ihn wurde es um Astrids Herz ganz warm.
"Bruder Johannes", schallte es laut übers Land, den Missionar schon von Weitem ankündigend, lange bevor er auf einem braunen, groß gewachsenen Pferd aus dem dichten Wald auftauchte. Die Bauern fürchteten den Mönch, beschwor er doch die schlimmsten Höllenqualen, welche jeden Sünder ereilen, ihn bis in alle Ewigkeit martern würden.
"Kommt herbei meine Schäfchen. Euer guter Hirte ist da", rief der in eine dunkelbraune Kutte gehüllte, von gutem Essen und noch besserem Trinken mit einem stattlichen Bauch gesegnete Mann. Kurze Zeit später versammelte sich das ganze Dorf im großen Langhaus, welches seit ihrer Bekehrung dem Gottesdienst vorbehalten blieb. Astrid, vermutlich die Einzige, welche dem neuen Glauben Zugang zur Tiefe ihres Herzens gewährt hatte, zog auch Falko mit sich. Wenn er schon hier lebt, dann soll er auch ein ordentlicher Christ werden, dachte sie und verabreichte dem sich sträubenden Jungen eine kräftige Ohrfeige.
"Gehorsam ist oberste Christenpflicht", sagte sie dabei. Falko musste ihr wohl oder übel folgen. Und bald schon wich seine Abneigung der Neugierde. Interessiert sah er sich in dem mit Fackeln erleuchteten, aus groben Stämmen gebauten, strohgedeckten Haus um. Viele Dorfbewohner hatten sich bereits versammelt, den Blick zu einem riesigen, von der Decke hängenden Kreuz gerichtet, unter dem ein schwerer Tisch stand, gedeckt mit edlem weißen Stoff, darauf eine Schale und ein Krug. Astrid besaß als Frau des Grundherren das Recht auf die erste Reihe. Genau dorthin ging sie, Falko noch immer an der Hand haltend. Dieser fühlte sich bald wieder unwohl. Die ängstliche Stille bedrückte ihn. Im Fackelschein tanzten Schatten wie Geister, schnitten grässliche Fratzen, griffen nach den gesenkten Köpfen der Wartenden. Endlich begann der Kuttenmann zu sprechen. Doch was war das für eine Sprache? Falko verstand kein Wort, merkte sich nur den letzten Satz. "In nomine patris et filii et spiritus sancti. Amen."
Der Mönch hielt dabei die Arme beschwörend in die Höhe. Er hatte die ganze Zeit mit dem Gesicht zum Kreuz, den Versammelten seinen Rücken zukehrend, gesprochen. Jetzt ging er feierlich hinter den Tisch, drehte er sich um, nahm Brot aus der Schale und sprach: "Dies ist der Leib unseres Herrn Jesus, der für euch hingegeben wurde, nehmet und esset alle davon."
Dann nahm er den Krug und sprach weiter: "Und dies ist sein Blut, das für euch vergossen wurde, zur Vergebung eurer Sünden. Kommet und trinket alle davon."
Nacheinander traten die Sachsen an den Tisch, ließen sich ein Stück Brot in den Mund stecken und tranken aus dem Krug. Falko musste sich fast übergeben. Der Gedanke, eines Menschen Fleisch zu essen und eines Menschen Blut zu trinken, ließ ihn erschaudern. Doch Bruder Johannes schien keiner, dem man sich straflos widersetzte. So fügte sich Falko in das unabänderlich Scheinende. Er wusste ja nicht, dass er keinen Anteil am Abendmahl hätte haben dürfen. Und Johannes wusste nichts von der fehlenden Taufe des Kindes. Doch während Johannes, verklärt ob des großen Zuspruchs der ehemaligen Heiden, seine Gemeinde zufrieden lächelnd entließ, rannte Falko, von Krämpfen gewürgt, hinaus in den Wald, entleerte seinen Magen bis auf den letzten Krümel, spie alles aus, was ihm zuvor eingeflößt wurde. Nein, er war kein Kannibale. Niemals würde er den neuen Glauben annehmen. In seiner Not rief er zu Wodan, schrie er zu Saxnot. Doch es antworteten nur die Vögel des Waldes, oder? Erschrocken fuhr Falko herum. Eine Hand lag auf seiner Schulter, Evelinas Hand. Er wusste nicht, wie lange Bodowins älteste Tochter schon hinter ihm stand.
Es bedurfte vieler Worte der Fünfzehnjährigen, bis sich Falkos Atem beruhigte. Evelina ging sogar soweit, ihre eigene Mutter bloßzustellen, um Falkos Vertrauen zu gewinnen. "Johannes ist sowohl ein Hexer, als auch ein Mann wie jeder andere. Seine Worte klingen schön, aber sie kommen nicht aus seinem Herzen. Sein Herz trägt er zwischen den Beinen. Er lebt seinen Trieb wie viele Männer."
Evelina kauerte vor Falko, der ihr erstaunt in die Augen sah.
"Nein, nein, er ist kein Hexer. Und er verdammt die Lust des Fleisches. Er ist mit seinem Heiland verheiratet, so eng, dass er ihn frisst und sein Blut trinkt." Falko schüttelte sich angeekelt.
"Kein Hexer? Was weißt du schon davon. Er hat sogar meine Mutter verhext. Jetzt, wo alle im Dorf ehrfürchtig seiner Predigt gedenken, begrapscht er ihre Brüste mit seinen dreckigen Pfoten und steckt seine Geilheit noch wo ganz anders hin." Die junge Frau bereute ihre Worte, kaum dass sie ausgesprochen waren. Dennoch fühlte sie sich erleichtert. Noch nie hatte sie mit jemandem über ihre schreckliche Beobachtung sprechen können. Der fremde Junge schien ihr der erste vertrauenswürdige Mensch, war er doch in einer ähnlich verzweifelten Situation. Falko jedoch, beschützt und behütet im Hause eines angesehenen freien Mannes aufgewachsen, konnte sich nicht vorstellen, was zwischen Männern und Frauen alles passierte. Er kannte nur die Liebe und Treue seiner Eltern, hatte sich keine Gedanken gemacht, wenn sein Vater und seine Mutter gemeinsam unter der Decke lagen, der Vater keuchte, die Mutter mühsam ein Stöhnen unterdrückte. Sein eigenes Lager befand sich abseits davon. Er konnte die Eltern bei ihrem Liebesspiel nicht sehen. Umso erstaunter vernahm er Evelinas Worte. Selbst wenn ihre Mutter bei einem anderen lag, wie konnte die Tochter nur darüber sprechen. Es musste eine Lüge sein, ein Versuch ihn zu beschwichtigen.
"Ich glaube dir nicht." Falko zog ein trotziges Gesicht. Weibergeschwätz, sollte ihn nur ablenken. Er brauchte das aber nicht. Saxnot würde ihm helfen. Doch warum ließ ihn der Gott so lange warten?
"Dann komm mit." Scharf klang Evelinas Stimme. Eine Lügnerin, nein, eine Lügnerin durfte er sie nicht nennen. Niemand durfte sie so nennen. Obwohl sie sich selbst vor den Bildern fürchtete, nahm sie den Kerl, der ihr Bruder sein sollte, an die Hand und schlich mit ihm zur elterlichen Hütte. Durch ein winziges Fenster an der Rückwand spähten beide ins Innere. Was Evelinas Ohren sofort erkannten, nahmen ihre Augen erst nach Gewöhnung an die Dunkelheit wahr. Zwei nackte Leiber lagen umschlungen auf dem Boden. Zwei schlanke Frauenbeine umklammerten eine fette Männerhüfte. Zwei braun gebrannte Füße trommelten auf rosafarbene Pobacken. Falko hielt vor Schreck die Luft an. So etwas sah er noch nie. Evelina konnte seinen Aufschrei nur mit Mühe ersticken. Ihre linke Hand auf seinen Mund pressend, zog sie ihn mit der Rechten fort. Doch wohin sollten sie laufen? Es gab nur einen Ort, dorthin, wo die Tiere der alten Götter wohnten, zum Pferdestall zog sie ihn.
Weich war das Heu, in das sie sanken. Der Geruch und die Wärme der sich neugierig herandrängenden Tiere erweckten in Falko das längst verloren geglaubte Gefühl absoluter Geborgenheit. Immer noch schwer atmend lag er neben Evelina, ihre Hand fest drückend. Und seine große Schwester drückte ebenso fest zurück. Sie kannte die eben gesehene Szene, doch das verringerte nicht ihre fassungslose Erregung.
"Warum tut deine Mutter das?", fragte Falko schließlich.
"Weil dieser Mann sie verhext hat. Wer hexen kann, kann sich alles nehmen." Während der Junge noch grübelte, wie der dicke Mönch solche Macht erringen konnte, suchte Evelina nach einer anderen Form der Beruhigung. Ihre Mutter war verhext. Sie musste den Bann brechen. Und ein Weg zur großen Erkenntnis der Mysterien lag im Zusammensein von Mann und Frau. Wie oft lagen ihre Eltern zusammen, bevor der Vater in den Kampf zog. Und war er nicht besonders stark, wenn Mutter zuvor besonders laut stöhnte? Und übte nicht auch Johannes seine Macht auf diesem Wege aus? Evelina wollte auch stark sein, gerade dem neu gewonnenen Bruder gegenüber. Und sie wollte die verborgenen Mächte ergründen. Heimlich hatte sie sich mit weisen Frauen getroffen. Jetzt schien ihr die Zeit reif, ins erste Mysterium auf dem Weg zur wahren Erkenntnis vorzudringen, in das Geheimnis zwischen Mann und Frau. Langsam schob sie ihre rechte Hand unter Falkos Hemd. Anfänglich sträubte er sich, zog die Arme an den Körper, wandte sein Gesicht ab. Doch bald öffnete er sich den unbekannten Zärtlichkeiten, ließ sich das Hemd über den Kopf streifen, ließ Evelinas Hand zwischen seine Schenkel gleiten. Kannte er die sanfte Berührung seiner nackten Brust aus friedlichen Kindertagen und als Zeichen mütterlicher Zuneigung, so war das andere Gefühl völlig neu. Allenfalls im Traum begegnete ihm zuvor eine solche Erregung. Und das Gefühl war wundervoll. Es könnte anhalten bis an sein Lebensende. Ohne Zögern streifte Evelina Falkos Hose nach unten. Sie sah sich ihrem Ziel sehr nahe. In kurzer Zeit entledigte sie sich der eigenen Kleidung und setzte sich auf den schwitzenden Männerkörper wie auf ein junges Pferd.
"Was hast du mit mir gemacht? Hast du mich jetzt auch verhext?", fragte Falko, noch immer unfähig, seine Gedanken zu ordnen, die eben erlebten Gefühle zu verstehen.
"Ich habe dich zum Mann gemacht und mich zu deiner Frau. Und vielleicht habe ich dich ein bisschen verhext", antwortete Evelina ruhig. Sie verschwieg, dass es auch für sie das erste Mal war. Falko wollte sich erzürnt abwenden. Kein freier Mann durfte sich mit einer Hexe abgeben. Aber er war nicht frei. War er überhaupt ein Mann? War er es jetzt, nachdem Evelina bei ihm lag? Machte sie ihn wirklich zum Manne? Hexe hin oder her, er dankte ihr sehr. Und er spürte noch immer das große Glück, welches, von ihr geschenkt, seinen Körper durchflutete, dachte in dieser Zeit weder an den Vater, noch an die Familie, nicht einmal an sein Pferd und fühlte sich kurz darauf umso elender. Durfte er die Seinen so verraten, sich der eigenen Wollust hingeben? Bestimmt durfte er das nicht. Bestimmt musste er der Zeit des Wartens ein Ende setzen. Bestimmt musste er bald aufbrechen, sich auf die Suche begeben, nach dem Vater, nach Gis. Kein Schwur, keine drohende Strafe, auch keine Hexe, würden ihn davon abhalten. Falko drückte sein Gesicht zwischen Evelinas Brüste, fühlte ihre Wärme, ihre Stärke. Tränen bahnten sich den Weg aus seinen Augen, über die dampfende Haut der Frau, die vor Kurzem noch ungeliebte Schwester war und so plötzlich zur geliebten Freundin wurde. Sollte er dieses Glück sogleich wieder aufgeben?
"Horch", riss ihn Evelina aus seinen Gedanken. Pferdehufe kamen rasch näher. Bodowin, schoss es durch Falkos Kopf. Freude und Erleichterung vertrieben die quälenden Gedanken in Windseile. Um ein Haar hätte er seine Hose zerrissen, so schnell schlüpfte er hinein. Gleich darauf stürmte er, von Evelina gefolgt, aus dem Stall. Ein schwarzer Reiter, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sprang von einem schwarzen Pferd. Er war klein und gedrungen, nicht groß und kräftig wie Bodowin, und er ritt auch nicht Gis, den so sehnsüchtig erwarteten Freund. Doch Falkos Enttäuschung währte nur kurz, nur so lange, bis der Fremde die Kapuze vom Kopf zog.
"Winimar?" Ein fragender Schrei, Falko, so eben zum Manne geworden und jetzt wieder ganz Kind seiend, konnte sich nicht beherrschen. Die herbeigeeilten Bauern standen mit fragenden Gesichtern um den fremden Reiter und den halb nackten Jungen, aus dessen Mund sie bisher kaum eine Silbe vernahmen und von dem sie nur wussten, dass er als eine Art Geisel im Hause Bodowins, des Herrn ihres Dorfes, wohnte. Evelina bahnte sich einen Weg durch den Ring der Gaffer. Nur mit dem rasch übergeworfenen Kittel bekleidet, nahm sie Falkos Hand, die Hand ihres Mannes.
"Willst du uns deinen Freund nicht vorstellen?"
Doch Winimar ließ dazu keine Zeit. Sein kritischer Blick nahm den Mönch war, der sich aus einer der Hütten stahl. Ein Mann des neuen Glaubens, das brachte Unglück, wusste Winimar. Spione der Franken sind sie, war sich der Sachsenkrieger sicher.
"Ich muss rasch weiter. Nur soviel, dein Vater lebt und Gis auch. Beide sind auf dem Weg zu ihrem Herzog." Mit diesen Worten schwang er sich bereits wieder in den Sattel.
"Und was ist mit meinem Vater?" Verzweifelt griff Evelina nach dem edlen Tier.
"Auch er lebt, wartet geduldig." Winimar zog die Kapuze tief in seine Stirn und stürmte davon, einen Beutel in Richtung der erschrocken ausweichenden Menschen werfend, auf den sich Falko mit einem Sprung stürzte.
"Er gehört meinem …", rief er laut. Doch ein plötzlicher Schmerz ließ ihn verstummen. Ein fetter Mann zog ihn an den Haaren empor, Johannes.
"Gib mir den Beutel, du Ausgeburt des Teufels. Und ihr gafft nicht so blöde, sondern jagt dem Verbrecher nach und informiert Herzog Norman. Ein sächsischer Verräter befindet sich auf seinem Grund." Mit fester Hand hielt der Mönch Falko an dessen blondem Schopf. Doch bevor er ihm den Beutel entwinden konnte, schleuderte dieser das kostbare Stück weit von sich. Er fing sich eine schallende Ohrfeige ein. Diese Zeit nutzte Evelina, den Beutel zu greifen und in Richtung Wald zu laufen. Bevor sich noch einer an die Verfolgung machen konnte, verschwand sie im dichten Grün.
Johannes tobte und schrie.
"War das nicht deine Tochter? Nährst du den Verrat an deiner Brust?"
Doch Astrid, die Angesprochene, blieb ganz ruhig. "Besänftige deinen Zorn, edler Heiliger. Sollte jemand Böses tun, wird ihn Gott strafen. Lass doch den Knaben berichten, was er weiß. Es klärt sich bestimmt alles auf. Und meine Tochter kommt sicher alsbald zurück. Du hast sie nur erschreckt."
Johannes kannte Astrid, war sie es doch, bei der er seine geheimsten Wünsche auslebte, die ihm Lüste erfüllte, welche die heilige Kirche verdammte, die jedoch so stark waren, dass ihnen kein gesunder Mann widerstehen konnte. Er ließ Falko los, ordnete seine Kutte und richtete seinen gewaltigen Körper zu voller Pracht auf. "Um ein Haar hätte mich die Unvernunft des Jungen gereizt, wäre es dem Versucher gelungen, mich vom Weg der Güte abzubringen. Doch der Herr ist allgegenwärtig, sprach zu mir durch den Mund dieser edlen Frau. Also sag an Knabe, wer war der Fremde?"
Falko zitterte an allen Gliedern. Seine Gedanken kreisten wirr durcheinander. Was sollte er nur antworten?
"Er war ein Untertan meines Vaters, ein Unfreier. Mein Vater will zu König Karl, seine Dienste anbieten", log er mit stammelnden Worten.
"Und warum hatte er es so eilig?", fragte der Mönch mit jetzt ruhiger und tiefer Stimme, sodass es wie das Läuten einer mächtigen Glocke klang.
"Er muss zu ihm zurück, darf ihn nicht zu weit enteilen lassen."
Johannes glaubte kein Wort. Gab es denn hier nichts als Lügner? Erzählte nicht Astrid, ihr Mann sei auf der Jagd? Muss wohl eine ganz besondere Jagd sein. Doch Astrid las in seinem Gesicht wie in einem Buch. Sie kannte diesen Mann, schließlich schlief sie regelmäßig mit ihm. Er war sehr gut auf ihrem Lager, zärtlich und fantasievoll, ganz anders als Bodowin. Johannes Fähigkeiten in der Liebe wiesen ihr den Weg zum neuen Glauben viel stärker, als die gesalbten Worte des Geistlichen.
"Du hältst mich sicher für eine Lügnerin", raunt sie in sein Ohr. "Doch ich sagte die Wahrheit. Bodowin zog auf die Jagd, auf die Jagd nach Ketzern und Abtrünnigen, nach Verden zum Gericht. Sicher kehrt er bald heim."
Getuschel machte sich breit. Die Dorfbewohner ahnten, dass sie nun mehr erfahren würden, dass ihr Landherr vielleicht in Schwierigkeiten steckte, vielleicht nie zurückkam. Mancher machte sich Hoffnung, die freiwerdende Stelle einzunehmen.
"Meine lieben Kinder", hob Johannes mit zurückgewonnener Beherrschung und beschwörender Stimme an. "Die Frau eures Edlen hat bisher geschwiegen. Zu gefahrvoll war die Mission eures Herrn. Doch ich darf euch eröffnen, dass er zum Ehrendienst unseres geliebten Königs Karl, Beschützer des wahren Glaubens, Größter unter allen Heiligen, aufbrach. Es kann lange dauern, bis er zurückkommt, doch er kommt zurück. Verrichtet euer Gewerk in seinem Sinne. Alles andere wäre gottlos."
Warum rettet er mich, fragte sich Astrid. Doch sein auf ihren prallen Brüsten hängender Blick sagte mehr als jedes Wort.
"Bruder Johannes wird uns so oft wie möglich zur Seite stehen, bis wir die Rückkehr unseres und meines geliebten Herrn Bodowin feiern dürfen." Mit diesen Worten zerstreute sie jeden Zweifel an ihrem Herrschaftsanspruch. Und während sich die Bauern trollten, zog sie ihren Priester in die Hütte, bedanke sich in der Art der Frauen, in einer Art, die Männer zu allem verleiten kann.
Falko stand noch immer auf dem Dorfplatz. Heftiger Regen setzte ein, sammelte sich in seinen wirren Haaren, tropfte auf seine Schultern, lief ihm über Brust und Rücken. Er stand ganz allein. Wohin sollte er gehen? Zu Astrid in die Hütte? Dort erwartete ihn vermutlich Johannes. Den zu treffen, wollte er unbedingt vermeiden. Fast unwillkürlich setzten sich seine Füße in Bewegung, trugen ihn in Richtung Stall. Hier bei den Pferden wäre ihm wohl. Auch wenn Gis nicht dabei war, so spürte er doch dessen Nähe. Pferde sind die Tiere der Götter.
"Mein lieber Gis", seufzte der inzwischen triefnasse Junge, und "Vater". Gis war bei seinem Vater. Er musste zu ihnen. Was hielt ihn noch hier? Seine Füße trugen ihn weiter. Bald lag der Stall hinter ihm, lag das Dorf hinter ihm, das Dorf und dieser schreckliche Menschenfresser, das Dorf und Astrid, das Dorf und Evelina auch? Wie ein Schwert bohrte sich der Name in sein Herz. Evelina, sie rettete den Beutel, rettete ihn. Würde er sie je wiedersehen?
Falko fröstelte. Er hätte sich Kleidung, am besten eine Decke mitnehmen sollen. Stattdessen lief er barfuß durch den Herbstregen, nackt bis zum Gürtel, ohne Essen, allein. Er sollte umkehren, seine Reise vorbereiten, vielleicht ein Pferd stehlen. Doch es gab kein zurück, wollte er nicht Gefahr laufen, für immer aufgehalten zu werden.
"Na, du Ausgeburt des Teufels."
Erschrocken fuhr Falko herum. Vor ihm stand Evelina, den geretteten Beutel schwenkend. "Komm in meine Höhle, du Teufelsbraten."
Falko ließ sich nicht zweimal bitten. Die Aussicht auf einen trockenen Ort lockte ebenso sehr, wie der geheimnisvolle Beutel. Er folgte Evelina über matschigen Waldboden, vorbei an dornigen Ruten, durch hohes Graß und über felsigen Grund, jedem Hindernis geschickt ausweichend, so, wie er das in glücklichen Tagen oft getan hatte, beim Spiel mit den Freunden, auf der gemeinsamen Jagd mit dem Bruder. Die schlimmen Dinge der vergangenen Wochen vergessend, fühlte er sich wie zu Hause, träumte von der Mutter, die nach bestandenem Abenteuer schon mit einer leckeren Speise wartete. Er wäre fast über Evelina gestolpert, als sie unvermittelt vor einer mächtigen, sich aus dichtem Gestrüpp erhebenden Eiche stehen blieb. Keiner hätte hier eine Höhle vermutet. Evelina drückte die Sträucher auseinander und zwängte sich schließlich durch ein kleines Loch zwischen den Baumwurzeln. Falko folgte ihr zitternd. An seinem Körper fand sich kein trockener Fleck. Endlich konnte er dem Regen entkommen, endlich etwas von seinem Vater erfahren.
"Mach schon auf", drängte er ungeduldig. Doch Evelina versteckte den Beutel kokett hinter ihrem Rücken.
"Spricht man so mit einer Frau?"
Falko wollte sich bereits auf sie stürzen. Er, der Sohn eines Edlings, musste sich so etwas nicht bieten lassen. Doch die letzten Tage hatten ihn reifer gemacht. Evelina war es, die ihn auf bisher unbekanntem Weg führte. Sie war es auch, die den Beutel vor Johannes Zugriff rettete.
"Bitte, öffne den Beutel", flehte er, den ob der Enge der Höhle gebeugten Rücken noch stärker krümmend.
"So ist es recht. Du musst lernen, deine Ungeduld zu bekämpfen. Und du musst lernen, Frauen mit Respekt zu begegnen." Evelina gab sich alle Mühe, ruhig und selbstsicher zu wirken, doch auch ihre Finger zitterten, als sie die wollene Kordel öffnete und den Inhalt des Beutels hervorzog. Nur ein schwacher Schein von Tageslicht erhellte das Erdloch unter den Eichenwurzeln. Er lenkte die Blicke der beiden Entlaufenen auf ein Büschel weißer Haare, einen silbernen Ring und ein Stück Rinde. Nichts davon schien Evelina vertraut. Nichts fand sich, was sie mit ihrem Vater in Verbindung bringen konnte. Nacheinander reichte sie Falko die Gegenstände, zuerst das Haar, was ihn zu einem Schrei der Freude veranlasste.
"Gis", schallte es in der ganzen Höhle, durch den Stamm der Eiche bis in ihre kleinsten Zweige, bis in ihre Blätter und bis in alle Winde. Ein mächtiger Donner war die Antwort.
"Wodan", stammelte Falko erschrocken. Doch gleich darauf fesselte der Ring seine Gedanken, der Ring seines Vaters, gemacht aus reinem Silber, vererbt über Generationen, das Symbol der Wolfskinder. Doch was bedeutete die Rinde? Ein schwarzes Gekritzel überzog die weiche Oberfläche. Falko konnte nicht lesen. Fragend sah er Evelina an. Diese nahm das Rindenstück, drehte es so lange, bis ein Lichtstrahl darauf schien, ein Sonnenstrahl, der so eben die dunklen Wolken durchbrach.
"Ich lebe. Warte. Eno", fragend sah Evelina den Jungen an, der neben ihr kauerte. Doch dieser hielt vor Staunen den Mund offen.
"Du kannst lesen?" Fast vergaß er seine Erregung, die Freude über das Gehörte.
"Hättest du mir nicht zugetraut was?" Evelina musste schmunzeln. "Johannes hat's mir beigebracht. Als Preis für mein Schweigen, wegen Mutter, du weißt schon."
Doch Falko hörte kaum zu. Die Freude war zu groß. Haare von Gis, der Ring des Vaters, beide lebten.
"Sie leben", jubelte er und stieß mit dem Kopf an das von Wurzeln gebildete Höhlendach. Doch diese Freude ließ Evelinas Schmunzeln ersterben. Nur Nachricht für Falko, nichts für sie. Wo blieb ihr Vater?
"Und was ist mit meinem Vater? Er nahm die Gefahr auf sich. Ohne ihn gäbe es keinen Eno mehr. Warum schickte er keine Nachricht?" Ihre Selbstsicherheit zerrann. Was nützte alles Wissen, wenn man die Liebsten nicht retten konnte?
"Sei nicht traurig. Er kehrt bald heim. Wodan wird ihn schützen." Falko nahm den Kopf der jungen Frau zwischen seine Hände, drückte ihn an seine Brust. Langsam wurde ihr Atem ruhiger, tasteten sich ihre Hände auf seinen Rücken, presste sich ihr Körper fest an den seinen. Der Junge ist von den Göttern gesegnet, dachte Evelina. Was sonst könnte Wodan sagen wollen, als er ihm mit lautem Donner antwortet. Ein unbeschreibliches Gefühl von Wärme und Geborgenheit durchströmte sie, beschleunigte ihren Herzschlag, ließ ihre Lippen die Lippen des Knaben finden. Des Knaben? Vielleicht sah das Johannes so. Sie wusste es besser. Zwischen ihren Schenkeln war Falko zum Manne geworden, zu ihrem Mann. Sie zählte wohl zwei oder drei Jahre mehr als er, aber ihre Seelen begegneten sich auf Augenhöhe. Alles wird gut. Dieses Gefühl gab ihr der noch immer nasse, aber nicht mehr kalte, sondern vor Erregung dampfende Körper, den sie mit Armen und Beinen umschlang. Der Vater war nicht vergessen. Im Gegenteil, durch Falko spürte Evelina eine direkte Verbindung zum dem weit Entfernten. Sein Auge ruhte auf ihr. Er verzieh ihr, dass sie sich dem Fremden, dem Gefangenen, dem zu ihrem Bruder Auserkorenen, hingab, obwohl sie doch Isbert, dem Erben vom Lindenhof versprochen war. Unkontrolliert rutschten ihre Hände über Falko, spürten seine heftige Erregung. Gegenseitig schoben sie die störenden Hüllen des Anderen beiseite und ergaben sich der unbändigen Lust.
Sie sollte nach ihrer Tochter suchen und sich nicht mit einem Mann Gottes auf den Fellen wälzen. Doch Astrid schien dies der bessere Weg, ihr Kind vor Unbill zu bewahren. Evelina kannte sich aus im Wald. Sie würde vielleicht eine Nacht fortbleiben. Morgen käme sie bestimmt zurück. Astrid kannte ihre Älteste. Und bis zum nächsten Morgen würde auch Johannes Zorn verfliegen. Sollte der Junge nicht wieder auftauchen, wäre der Stein des Anstoßes dahin. Und den Inhalt des Beutels würde sie prüfen. Johannes würde darin nur finden, was sie, Astrid, erlaubte. Als ihre vier jüngeren Töchter von der Stallarbeit zurückkehrten, kniete sie züchtig neben dem Priester, dankte dem Christengott für seine Gnade und hielt Odilgard, Eila, Gefion und Lioba an, gemeinsam die baldige Rückkehr des Vaters zu erbitten. Nachdem er den Segen gesprochen hatte, verabschiedete sich Johannes von der Familie des Grundherren. Auf diese Schäfchen konnte er zählen. Sie waren seine Gabe für den einzigen und wahren Gott. Da schien das Ausleben fleischlicher Lust nur ein kleines Detail am Rande, Mittel zum Zweck sozusagen, nicht der Rede wert.
Die Kühle der wolkenlosen Nacht nahm das von Regenfällen durchfeuchtete Dorf langsam in Besitz. Nebelschwaden zogen dicht über dem Boden, verschmolzen mit Bäumen und Sträuchern zu wilden Gespenstern. Johannes fröstelte. Es war die Zeit des Teufels. Als sich aus dem Nebel zwei Gestalten lösten, ein Mädchen mit zerrissenem Kleid und ein halb nackter Junge, da rührte ihn fast der Schlag. Ein Stoßgebet auf den Lippen, griff er unter seine Kutte, tastete nach dem Dolch, den er zum eigenen Schutz stets bei sich trug. Gerade noch rechtzeitig erkannte er die beiden, Evelina und Falko, die Ausreißer, die Lügner, die Schande des Dorfes. Doch was war das? Fielen die Kinder etwa vor ihm auf die Knie, hoben bittend, gar betend die Hände, präsentiertem ihm den geheimnisvollen Beutel. Rasch nahm er das Corpus Delicti an sich. Der Inhalt ließ sein Herz dahinschmelzen. Ein kleines schwarzes Kreuz und ein Stück Rinde mit ungelenken Buchstaben. Ich kämpfe für Gott und für Karl. Warte auf mich. Eno. Mühsam entzifferte er das Geschriebene im fahlen Licht des Mondes. Wie konnte er sich nur so täuschen? Die Worte des Knaben waren wahr. Er würde ihn zu einem besonderen Diener Gottes erziehen, ihn auf seinen Reisen mit sich nehmen, den wahren Glauben fest in einem ehemals heidnischen Herzen verankern. Ein hübsches Kind mit einem gesunden Körper, Johannes hatte einen Blick für so etwas. Doch etwas anderes übersah er, das fehlende Kreuz an Evelinas Hals. Dafür prüfte er die Schrift auf der Rinde intensiv. Evelina schrieb nicht so. Eine Fälschung konnte er also ausschließen. Erleichtert nahmen die Kinder die Entspannung seiner Gesichtszüge wahr. Hatte sich der ganze Aufwand doch gelohnt. War es doch gut, dass Evelina das Kreuz nicht schon vor langer Zeit wegwarf. Schien die Mühe nicht vergebens, mit der sie Falko beibrachte, einige Worte mit Holzkohle auf ein Stück Rinde zu kritzeln.
"Jetzt aber ab mit euch nach Hause. Astrid macht sich solche Sorgen. Und morgen kommt ihr zu mir, dass ich euch unterrichte. Denn wer die Lehre des Herrn annimmt, der geht niemals fehl und wird das ewige Leben ernten. Wer sich jedoch verweigert, muss Qualen erleiden, die ihr euch nicht im Ansatz vorstellen könnt." Mit einer Handbewegung zeigte Johannes den Kindern an, sie mögen sich erheben. Darauf hatten beide nur gewartet. Sich ehrfürchtig verbeugend, huschten sie an dem fetten Mönch vorbei in Richtung ihrer Hütte, während dieser, seine Kapuze tief in die Stirn ziehend, gemessenen Schrittes das eigene Lager ansteuerte.
Züchtig gekleidet und in angemessenem Abstand voneinander knieten Falko und Evelina vor Johannes, der ihnen die Evangelien auslegte. Wie gern wäre Falko durch die Wälder gesprungen, selbst den Mist aus dem Stall hätte er lieber getragen, als diese unglaublichen Geschichten anzuhören. Er tat es allein Evelinas wegen. Sie wusste, dass der geistlichen Unterweisung die Unterweisungen in Lesen und Schreiben folgten. Und die Macht des Geschriebenen hatten sie doch so eben beide erfahren.
"Und wer den Herrn liebt, den liebt auch der Herr. Der Herr sei mit euch, er segne und behüte euch und mache euch zu seinen ergebenen Dienern. Amen. Und jetzt geht eurer Mutter zur Hand. Nach der Abendmesse weihe ich euch in die Kunst des Lesens ein." Ein Klatschen in die geistlichen Hände zeigte an, die Kinder durften sich davonmachen.
"Warte", Evelina entzog ihre Hand der des Freund. "Er soll uns so nicht sehen."
Blitzartig steckte Falko seine Hände in den Kittel. Er lernte schnell. Die Zeit der Kindheit war ein für alle Mal vorbei. In der Welt der Erwachsenen musste jeder den Schein wahren. Was im Verborgenen geschah, musste im Verborgenen bleiben. Doch sein Herz wollte sich nicht mit diesen trüben Gedanken befassen. Viel zu schön leuchtete die flach stehende Sonne des Spätherbstes in sein Gesicht. Sie konnte den nahenden Winter noch immer besiegen, spendete noch immer Wärme, zeigte an, die Götter leben, Wodan und Saxnot, die Götter dieses Landes, die Götter freier Menschen. Als Evelina die Tür ihrer Hütte öffnete und sich Falko hinter ihr so klein wie möglich zu machen versuchte, lächelte Astrid nur. Sie blickte nicht zornig, eher verstehend.
"Geht und versorgt die Pferde", trug sie ihnen auf. Und sie wusste, dass sie den beiden das größte Geschenk bereitete, welches zu geben sie augenblicklich in der Lage war.
"Puh, das ging ja gerade noch gut", sagte Evelina und wischte sich den Schweiß von der Stirn, welchen nicht nur das Tragen der schweren Heubündel, sondern auch die Erinnerung an das Treffen mit Johannes dorthin trieb. Bisher gab es für die beiden Kinder keine Gelegenheit, sich über das Erlebte auszutauschen. Erst hier im Pferdestall konnten sie frei sprechen.
"Du bist so voller Weisheit", bewunderte Falko das Vorgehen der Schwester. War doch alles so eingetreten, wie sie es vorhergesagt hatte. Johannes hielt die Schrift für echt. Und Falko erkannte zum ersten Mal in seinem noch jungen Leben, dass Macht nicht nur mit Körperkraft und Mut, sondern auch mit geistiger Kraft zu tun hat.
"So traurig ich bin, meine Familie verloren zu haben, von meinem Vater getrennt zu sein, so glücklich bin ich, dein Bruder sein zu dürfen", fügte er voll echter Dankbarkeit hinzu. Er sah nicht mehr die schrecklichen Bilder der Ermordeten. Er sah seine Mutter, seinen Bruder und seine Schwester gemeinsam über grüne Wiesen fliegen, auf dem Rücken ihrer Pferde, welche dem Überfall der Franken ebenso wie die Menschen zum Opfer fielen und doch in der anderen, der glücklichen Welt, weiterlebten. Und Vater kommt zurück. Das stand für den Jungen so fest, wie die große Eiche im Wald, unter deren Wurzeln er sich noch kürzlich versteckte, in deren Schutz er zum zweiten Mal das Mysterium des Zusammenseins von Mann und Frau erfuhr.
"Mein Bruder bist du nur für die anderen. Für sie müssen wir den Schein wahren, zu unserem Schutz. Doch wir beide wissen es besser. Wir sind nicht Geschwister. Wir sind Liebende." Evelina fasste Falkos Hand, zog ihn an sich, zwischen die warmen Leiber der Pferde. Dann presste sie ihre Lippen auf die Seinen, so, wie sie es bei Johannes und ihrer Mutter gesehen hatte. Ein Gefühl der absoluten Vertrautheit, des uneingeschränkten Verstehens und des für immer zusammensein Wollens überfiel die beiden. Es war ein langer, ein intensiver, vom instinktiven Suchen beider Zungen nach der jeweils anderen begleiteter Kuss. Falko kannte Liebe nur aus den Erzählungen am Feuer, zwischen Göttern und Göttinnen, ohne Beschreibung der körperlichen Seite dieses uralten Themas. Doch Evelina träumte schon so lange von wahrer Zuneigung zwischen Mann und Frau, von einer nicht aus materiellen Gründen geschlossenen Ehe, sondern von einer aus Aufrichtigkeit und gegenseitiger Achtung erwachsenden Vereinigung zweier gleichberechtigter Menschen. Und voller Spannung spürte sie Falkos Hände, die in tastendem Verlangen über ihre Oberschenkel glitten.
"Trödelt nicht. Johannes wartet." Astrids von außen hereindringende Worte beendeten das Spiel der Liebenden. Rasch warfen sich Evelina ihr Kleid und Falko seinen Kittel über. Dann rannten sie zum Gebetshaus. Johannes durften sie nicht warten lassen, schon gar nicht, wenn er sie in die Geheimnisse der Wissenschaft einweihen wollte. Die Pfützen spritzen unter ihren nackten Sohlen. Das Regenwasser verstärkte die herbstliche Kälte des grasbewachsenen Bodens. Sie bemerkten es nicht. Zu aufgeheizt waren ihre Körper, zu hoch schwebte ihr Geist.
"Morgen zieht ihr Schuhe an, bevor ihr mich besucht", empfing sie Johannes. "Vergesst nicht, ihr seid Kinder eines Edlen."
"Jawohl, Bruder Johannes", antworteten Falko und Evelina im Chor. Doch damit endete das Vorgeplänkel auch schon. Während Evelina, die bereits in der Erkenntnis Fortgeschrittene, Texte aus der Heiligen Schrift, von Johannes persönlich übersetzt, lesen und abschreiben sollte, widmete sich der Mönch Falko und brachte ihm die ersten Buchstaben bei. Erstaunt stellte er fest, dass der Junge rasch Fortschritte machte.
Nach einer Stunde intensiven Übens entließ Johannes seine Schüler. Ihr Wissensdurst bereitete ihm Freude. Er war sich bewusst, dass die Weitergabe solch wertvoller Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen an Heiden gegen die Regeln seiner Kirche verstieß. Doch er war sich ebenso sicher, aus den beiden aufrechte Kämpfer für den wahren Glauben zu machen. Und er, dem eine Familie zu gründen, streng untersagt blieb, fühlte sich hingezogen zu dem hübschen Knaben und der erblühenden jungen Frau. In ihr erwuchs Astrid eine starke Konkurrenz. Das spürte er deutlich zwischen seinen Schenkeln.
"Gehet mit Gott. Morgen sehen wir uns wieder", verabschiedete er die beiden schweren Herzens.
In den nächsten Tagen wurde der abendliche Unterricht zu einer festen Größe in Falkos Leben. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal bei fremden Menschen glücklich zu sein, und das, obwohl er jede Nacht von seiner Familie träumte, von der toten Mutter und dem weit entfernten Vater, dessen wenige, auf Rinde gekritzelte Worte, sein ganzer Stolz waren. Fest im Glauben seines Stammes verwurzelt, las Falko die Zeichen seiner Götter, sah sie in der Gestalt von Bäumen, hörte sie als Donner am Himmel, erkannte sie im Züngeln der Blitze. Besonders nah stand ihm Saxnot, der Kämpfer, der bei den Pferden wohnte, zog es doch den Jungen selbst immer wieder zu diesen edelsten aller Geschöpfe. Und er fand Trost und Zuversicht. Mochte Johannes predigen, was er wollte, der Christengott konnte Falkos Herz nicht aufschließen, konnte sich auch nicht mit dem Wissen einschleichen, welches der Junge so begierig aufsog. Er achtete die Weisheit des Mönchs, soweit es um Lesen und Schreiben ging. Missionieren ließ er sich nicht. Und wenn er doch einmal anfing, über die Wunder nachzudenken, welche dieser Jesus vollbracht hatte, dann erinnerte er sich gleich wieder der Wunder, die Saxnot jeden Tag vollbringt. Nein, seine Götter waren nicht tot. Mochte Johannes noch so viel davon erzählen, wie der Christenkaiser Karl die Irminsul, den Weltenbaum, umgestoßen und den alten Göttern die Macht entrissen hat. Falko kannte diesen einen Baum nicht. Er kannte viele Bäume. Und solange diese standen, zeugten sie von der Kraft seiner Götter. Mochte der neue Gott bleiben, wo er herkam. Unter den sächsischen Stämmen war kein Platz für ihn. In Falkos Ohr klangen der helle Ton aufeinanderschlagender Schwerter, das rasche Klopfen galoppierender Hufe, der Schrei der Sieger. Er sah seinen Vater, wie er an der Seite des großen Widukind die Fremden verjagte. Er sah Wodan und Saxnot, die denen beistanden, welche ihnen Ehre erwiesen. Und immer wieder sah er seine Mutter, so auch in dieser Nacht. Er lächelte im Schlaf. Du bist ein guter Junge, sprach Gefion. Und dann erklangen Enos Worte. Es dauert nicht mehr lange, dann hole ich dich, dann kämpfst du mit mir. Immer weiter riss ihn der Traum fort aus Bodowins Dorf.
"Hoch mit dir. Die Pferde haben Hunger." Lachend stieß Evelina den zusammengerollten Jungen an. Verwirrt blinzelte Falko. Wo war er? Und wo war Widukind, der große Kämpfer, an dessen Seite er sich noch eben durch die feindlichen Reihen schlug? Wo waren sein Schwert und sein Pferd? Der Traum zerplatzte. Er lag in Bodowins Hütte. Kälteschauer zogen über seine Haut. Der Winter drängte mit aller Macht ins Land. Die Decke zur Seite werfend, sprang er auf, stürmte nach draußen, zögerte kurz, eine strahlend weiße Decke überzog die Landschaft, rannte dann weiter, mit seinen bloßen Füßen tiefe Spuren im weichen Schnee hinterlassend. Er rannte bis zum Bach, wusch sich trotz der Nadelstiche, welche das eisige Wasser seiner Haut versetzte. Er rannte zurück zum Stall, zu den vertrauten Freunden, dem Braunen, dem Schwarzen, der Schecke, dem Fuchs und der Zweifarbigen.
"Was ist denn mit dir los?", fragte Evelina staunend.
"Wir werden siegen", jubelte der Junge, die Kälte, die seinen Körper zittern ließ, kaum spürend.
"Zieh dich erst mal ordentlich an. Wie sagt Johannes immer, ein Christenmensch rennt nicht halb nackt herum." Evelina warf ihm Kittel, Umhang und Bundschuhe zu. Dann half sie ihm im Stall. Gemeinsam ging die Arbeit wie ein Spiel von der Hand.
"Mutter will uns sprechen", sagte Evelina, als alles geschafft war, und fasste Falkos Hand. Er benimmt sich noch immer wie ein Kind, spontan und unkontrolliert, dachte sie. Aber sind nicht alle Männer so? Die junge Frau fragte sich ernsthaft, wie man es mit so einem Wilden aushalten soll, ob es nicht gar besser wäre, die Frauen blieben unter sich. Doch dann fühlte sie seine Finger in den ihren, erinnerte sie sich an die zarten Berührungen auf ihrer Haut. Nein, er ist kein Kind mehr. Und es ist gut, als Frau einen Mann zu haben. Und er ist mein Mann. Glücklich drückte sie Falkos Hand.
Der Getreidebrei dampfte. Astrid und ihre Kinder, Falko eingeschlossen, saßen in der vom Feuer gewärmten Hütte. Er hielt Evelinas Hand noch immer. Die jüngeren Mädchen tuschelten bereits. Auch ihnen gefiel der Bruder gut, war er doch von schöner schlanker Gestalt, wild wie ein Fohlen, andererseits auch zart, trotzig und wissbegierig. Solche Männer gab es selten.
"Wir warten nun schon seit vielen Monden auf die Rückkehr unseres Vaters", hob Astrid zu sprechen an. "Die Nachbarn reden bereits, und mancher von ihnen würde nur zu gern unseren Hof übernehmen. Bisher bewahrte uns Johannes vor diesem Übel. Doch Johannes muss weiterziehen. Er wird uns beim nächsten Vollmond verlassen. Wir mussten also nach neuem Beistand suchen. Und wir haben ihn gefunden. Bis Vater zurückkehrt, übernimmt der Herr des Lindenhofs diese Aufgabe."
Das Feuer knisterte. Kein Mucks kam über die Lippen der Kinder. Falko spürte, dass große Veränderungen bevorstanden. Evelina machte sich so klein sie nur konnte. Fest drückte sie Falkos Hand. Der Lindenhof schwebte wie ein Gespenst über ihr. Und das Gespenst hatte einen Namen, Isbert. Dem war sie versprochen. Natürlich wussten ihre Schwestern das. Gespannt warteten sie, dass die Mutter diesen Punkt ansprach. Und Astrid, die Augen auf ihre älteste Tochter und den danebensitzenden eingeschleppten Jungen gerichtet, kam sogleich zu diesem Punkt. "Das ist auch eine gute Gelegenheit, die Verbindung zwischen Isbert und Evelina zu vertiefen und dich, meine liebe Tochter, mit deinem zukünftigen Ehemann vertraut zu machen."
Falko saß, wie vom Schlag gerührt. Seine aufgerissenen Augen starrten ungläubig in die züngelnden Flammen. Fast zerdrückte er Evelinas Hand. Doch wenn er eines von Johannes gelernt hatte, dann sich zu beherrschen. Und Falko war ein guter Schüler. Die bessere Schülerin jedoch war Evelina. So gelang es ihr, die sie quasi verkauft werden sollte, den Schrei voller Leid in ihrer Brust zu bewahren, die Lippen geschlossen zu halten, und stumm Falkos Hand zu drücken. Seit Langem kannte Astrid die Gefühle der Tochter. Hatte sie anfangs gehofft, es würde sich von allein legen. Der Kleine war doch wirklich noch Kind, viel zu unreif für ihre Große, so wurde ihr zunehmend klar, dass hier unkontrollierbares Verlangen erwuchs, dass sie eingreifen musste, in ihrer aller und besonders im Interesse ihrer Tochter.
"Sollten wir nicht doch noch warten? Vater kommt sicher bald zurück. Und hier kannst Du jede Hand gebrauchen." Mit diesen leise gesprochenen Worten, am ganzen Leibe zitternd und den Blick Hilfe suchend über ihre Schwestern gleiten lassend, versuchte Evelina das drohende Unheil abzuwenden.
"Es steht absolut fest, dass unser Herr Bodowin bald zurückkehrt", sagte Falko voll Überzeugung. "Er befreite meinen Vater und erfüllte den Willen der Götter. Sie werden ihn belohnen."
Dummkopf, schoss es durch Evelinas Hirn. Doch im selben Augenblick fegte ein kalter Wind durch die Hütte, ließ das Feuer Funken sprühen und die daran sitzenden Menschen sich fast gleichzeitig zur Tür wenden, ließ ihre Gesichter erstarren und ihre Gedanken anfangen zu rasen. In der Tür stand Johannes. Was hat er gehört, fragten sich alle, besonders aber Evelina, die so viel Mühe darauf verwandt hatte, Falko dem Mönch gegenüber als guten Christen erscheinen zu lassen.
"Ihr schaut mich an, als sei ich der Leibhaftige persönlich", wogte Johannes tiefe Stimme durch den Raum. Er hat es nicht gehört, schloss Evelina daraus.
"Bitte setz dich zu uns, ehrwürdiger Bruder. Und lass die Kälte draußen, dann tauen auch unsere Gesichter wieder auf." Astrid verstand sich auf Diplomatie. Die Situation hätte wahrlich schlimm ausgehen können. Schon allein das Erwähnen der alten Götter stellte eine mit dem Tode bedrohte Sünde dar.
"Ich danke sehr für die freundliche Einladung." Johannes verfiel in seinen üblichen Singsang. "Ich wollte dir Nachricht vom Lindenhof bringen. Und nicht nur dir." Lächelnd wendete er sich Evelina zu.
"Du solltest nicht die Hand deines Bruders zerdrücken", sprach er weiter. "Bald wird man dir einen starken Mann an die Hand geben. Isbert vertritt die Stelle des Hausherren, bis Bodowin zurückkehrt. Das versprach er mir."
"Nein, niemals, das lasse ich nicht zu."
Erschrocken starrten alle auf Falko, der, sich von Evelina losreißend, auf- und auf Johannes zusprang. Wie gelähmt saßen die Frauen. Nur Johannes, der die Situation, auch ohne das vorangegangene Gespräch gehört zu haben, durchschaute, reagierte geistesgegenwärtig, packte den sich wie wild gebärdenden Jungen und presste ihn auf die Knie.
"Weiche von diesem Kind, Satan", schrie er, dass die Hütte erzitterte, und presste Falkos Arme auf dessen Rücken. "Der Knabe ist irr. Ich nehme ihn mit mir. Isbert trifft morgen ein. Mach dich schön für deinen Bräutigam."
Schwitzend und bei den letzten Worten Evelina zunickend, schob Johannes den sich mit aller Kraft wehrenden Falko aus der Hütte. Gegen den Mönch hatte dieser keine Chance. Nach wenigen Schritten gab er seinen Widerstand auf und trabte mit gesenktem Haupt durch den frischen Schnee, dessen Schönheit er ebenso wenig wahrnahm, wie die Kälte, welche durch seine dünnen Schuhe kroch.
"Setz dich da hin." Johannes Worte ließen keinen Widerspruch zu. So hockte sich Falko auf den Boden, zog seine Beine an den zitternden Körper. Warum war er nur so schwach? Ein richtiger Mann hätte seinen Dolch in den feisten Wanst des Kuttenträgers gestoßen. Doch er besaß keinen Dolch. Er besaß nichts. Selbst seine Kleider waren nur geborgt. Warum war er nur so ein elender Wurm? Wenn er noch eine Spur Würde in sich trüge, spränge er jetzt auf und griffe den Mönch an. Möge der ihn doch totschlagen. Welchen Wert besaß sein Leben denn noch? Falko spannte seine Muskeln. Vielleicht könnte er sogar entkommen. Doch was würde dann aus Gis? Und was würde aus Evelina. Er durfte sie doch jetzt nicht im Stich lassen. Er war doch ihr Mann. Und ein Mann überlegt, bevor er handelt. Und Falko überlegte, sprang nicht auf, entspannte sich, lächelte gar.
"Der kleine Herr scheint langsam zu sich zu kommen. Wie konntest du es wagen, deine Hand gegen mich zu erheben? Wer Gottes Diener angreift, greift Gott selbst an. Und er wird daran verderben." Was sollte er nur mit dem Jungen machen. Er müsste ihn davonjagen, Gott über ihn richten, ihn in der winterlichen Kälte bereuen und sein elendes Leben aushauchen lassen. Doch er konnte das nicht. Zu schön war der Knabe. Zu sehr fühlte sich Johannes angezogen von dem Jungen. "Doch Gott ist gnädig und auch ich will gnädig mit dir sein. Du warst ein guter Schüler. Ich gebe dir noch eine Chance. Du darfst mich auf meiner Reise begleiten. Wenn wir zurückkommen, bist du ein wahrer Diener Gottes."
Johannes stand ganz dicht neben Falko, strich ihm über das blonde Haar und fasste ihn gleich darauf kräftig an der Schulter.
"Doch glaube nicht, ich sei weich, nur weil ich dir das Leben schenke. Solltest du ein weiteres Mal gegen mich aufbegehren, schicke ich dich in die Hölle. Verstanden?" Der Mönch schüttelte den Jungen an beiden Schultern. "Antworte, wenn ich dich frage!"
"Verstanden", flüsterte Falko.
"Und damit du siehst, dass ich es ernst meine, und damit ich sehe, dass du es mit deinem Gehorsam ernst meinst, werde ich dich jetzt züchtigen. Zieh den Kittel aus."
Gut nachdenken, auf deine Chance warten, wie ein Mann handeln, schoss es durch Falkos Kopf, während er seinen Oberkörper entblößte.
"Leg dich auf den Tisch."
Auch dieser Aufforderung folgte Falko ohne Widerstand. Er biss sich auf die Zunge, während ihn der Mönch mit schwerer Hand und breitem Lederriemen schlug.
"Zeig, was du gelernt hast. Zähl mit", schrie er dabei. Und Falko zählte, bis zehn, dann war endlich Schluss.
"Ich sehe, du bist ein guter Schüler. Morgen brechen wir auf. Und versuche nicht zu fliehen, oder soll dein Freund Gis sterben? Oder soll deine Schwester Evelina leiden?"
Falko schüttelte den Kopf. Nein, das wollte er nicht. Und so zog er den rauen Kittel über seinen brennenden Rücken und kauerte sich wieder auf den kahlen Boden der spartanisch mit einer Truhe und einem Lager aus Fellen eingerichteten Hütte.
"Ich habe noch etwas in Astrids Haus zu klären. Wenn ich zurückkomme, finde ich dich hier wieder. Andernfalls kommt ein Unglück über Evelina, verglichen mit dem die Ehe mit Isbert das Paradies wäre." Johannes, absolut überzeugt von der Wirkung seiner Worte, ging bereits zur Tür, da wagte Falko einen letzten Versuch.
"Habt doch Mitleid. Evelina liebt Isbert nicht."
"Was weißt du von Liebe? Die Liebe kommt allein von Gott. Ein Weib hat ihrem Manne zu gehorchen und zu dienen. Wenn du älter bist, wirst du mich verstehen und Gott danken, dass er keine Frau aus dir machte." Johannes musste innerlich lachen. Wie konnte sich ein dahergelaufener Besitzloser in die Tochter eines Landherrn vergucken? Was wusste der Kerl von der Liebe? Na, die Flausen treibe ich ihm aus, dachte er und war sich schon nicht mehr sicher, dass der Junge nicht doch zu fliehen versuchte.
"Noch mal, du bleibst da hocken, bis ich zurückkomme." Johannes stand auf. Bald schlug die Tür hinter ihm krachend zu. Vorsorglich stemmte er eine kräftige Bohle dagegen. Der haut mir nicht ab, sagte er zu sich und strich in Gedanken über Falkos goldenes Haar.
In Astrids Hütte tobte derweil ein erbittert geführter Streit zwischen Mutter und Tochter.
"Warum tust du mir das an. Lieber sterbe ich, als mit diesem ungehobelten Klotz zu leben."
"Was bist du nur für ein undankbares Ding. Ich habe dich unter Schmerz geboren, mir manches versagt, damit du überlebtest. Jetzt ist es an dir, deine Schuld zu begleichen."
Die Vorwürfe wogten hin und her. Evelinas Schwestern machten sich ganz klein. Einen solchen Schlagabtausch hatten sie noch nicht erlebt. Wie kann man nur so heftig gegen den Willen der Mutter aufbegehren? Und das alles wegen dieses Jungen. Sicher, er sah gut aus. Doch Isbert konnte er nicht das Wasser reichen. Der war ein richtiger Mann. Johannes Erscheinen ließ die Diskussion verstummen.
"Der Knabe kommt mit mir. Ich werde ihn zähmen. Das verspreche ich euch und unserem Herrn, gesegnet sei sein Name." Wie ein mächtiger Bär, so stand der Mönch am Feuer. Die Mädchen und selbst Astrid erschauerten. Er verfügte über Kräfte, von denen sie nichts wussten. Keiner konnte ihm widerstehen. Selbst Evelina blieb stumm, schickte sich scheinbar in das Unvermeidliche.
Begleitet von zwei bewaffneten Bauern kam Isbert am nächsten Morgen in Bodowins Dorf geritten. Ihre kleinwüchsigen braunen zotteligen Pferde stapften durch den frischen Schnee und hinterließen tiefe Abdrücke in der weißen Decke, die wie Wunden wirkten. Evelina, Pferden sonst voll Liebe zugetan, kamen sie vor wie Ungeheuer. Edle Tiere konnten es doch nicht zulassen, dass auf ihrem Rücken das Unheil ritt. Mit tief liegenden verweinten Augen trat sie ihrem Bräutigam entgegen. Wie gern hätte sie jetzt den Dolch gezückt, ihn dem ungehobelten Räuber ihrer Freiheit zwischen die Rippen gestoßen. Ob er dann auch noch so triumphierend grinste? Doch Evelina trug keinen Dolch unter ihrem Gewand. Sie trug lediglich den Schmerz der zerstörten Liebe bei sich. Falko durfte sie seit dem gestrigen Tag nicht wieder sehen. Der Priester würde ihn mit sich nehmen. Wenn er zurückkommt, wäre sie die Frau eines anderen. Sie zögerte noch. Doch ihr Freiheitswille war stärker. Sie konnte mit diesem groben Kerl nicht zusammenleben.
"Du solltest nicht …" Weiter konnte sie nicht sprechen.
"Bodowin kommt", schallte es vom anderen Ende des Dorfes. Immer lauter wurde der Ruf. Immer mehr stimmten ein. "Bodowin kommt."
Jetzt wird alles gut, jubelte es in Evelina. Sie vergaß die Welt um sich herum, wollte nur noch laufen, dem Vater entgegenfliegen. Sie vergaß die zotteligen Pferde, vergaß Isbert, rannte an ihm vorüber, bemerkte nicht, wie er sein Tier antrieb, wie er sie einholte. Erst als er sie packte und vor sich auf seinen Braunen warf, kehrten ihre Gedanken in die Realität zurück. Doch da war es zu spät. Kräftige Hände bändigten sie. Bald lag das Dorf hinter ihnen. In wilder Hast ging es durch den verschneiten Wald. Das Pferd unter ihr schnaufte. Die Peitsche seines Reiters trieb es an. Nein, es war kein Ungetüm. Es war auch nur eine gequälte Kreatur. Mitleid überkam Evelina.
"Halte aus mein Freund", flüsterte sie. "Eines Tages bist du frei, sind wir beide frei."