Читать книгу Siebenhundertfünfundachtzig - Frans Diether - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеAbgemagert, die dunklen Augen in tiefen Höhlen liegend, von Wunden übersät und in Lumpen gehüllt, so kam Bodowin nach Hause. Die ersten Tage sprach er kaum, zu sehr litt er noch unter dem Schrecken des Erlebten. Aufopferungsvoll kümmerte sich Astrid um den Gemahl, legte ihm heilende Kräuterverbände auf, bereitete seine Lieblingsspeisen und gab ihm immer wieder von der kräftigenden Stutenmilch zu trinken, die schon so manchem das Leben rettete. Auch schirmte sie ihn von allem Gerede, von allen Problemen ab. Dabei wäre sie doch so gern Isbert nachgejagt, hätte ihn so gern zur Rede gestellt, ihrer Tochter die Chance gegeben, freiwillig dem Versprochenen zu folgen. Doch vielleicht war es gut so, wie es war. Evelina und Falko sahen sich nicht mehr. Eine Verbindung ohne Zukunft fand so das notwendige Ende. Evelina würde sich schon in der neuen Umgebung einleben. Und die Verbindung zum Lindenhof sollte Bodowins und ihre eigene Position stärken, gerade jetzt, wo Bodowin geschwächt war und Johannes, der bisher die schützende Hand über sie hielt, bald aufbrechen würde. Ursprünglich wollte er ja schon vor Tagen abreisen. Doch die Geschehnisse hielten ihn auf. Er hatte nicht mehr mit Bodowins Rückkehr gerechnet, Astrid bereits für sich allein begehrt. Jetzt lag der Nebenbuhler wieder auf seinem Lager, weckte gar den Schutzinstinkt der Frau, die ihn doch bisher als grob und ungehobelt ansah und sich deshalb gern auf das Verhältnis mit dem zartfühlenden Mönch einließ. Johannes wollte zumindest die Fortentwicklung der Sache sehen, bevor er ging. Falko blieb es derweil verwehrt, die Hütte seines neuen Meisters zu verlassen. Er erfuhr nicht einmal von Bodowins Ankunft.
Sieben Tage nach seiner Rückkehr fühlte sich Bodowin stark genug, seiner Familie von den Erlebnissen aus Verden zu berichten. Er setzte sich ans Feuer, schlug die in leinenen Hosen steckenden Beine übereinander, stützte seine Arme auf die Knie und sah sie der Reihe nach an, Astrid, sein Weib, Odilgard, Eila, Gefion, Lioba, die im Hause verbliebenen Töchter.
"Ich will von meiner Reise berichten", sagte er mit belegter Stimme. Die züngelnden Flammen des Feuers wärmten. Fünf Paar Augen blickten fragend und ängstlich zugleich auf den Vater, dessen unbekleideter Oberkörper Narben des Kampfes, Zeichen von Hunger und Entbehrung trug und dennoch die Kraft seines Besitzers bezeugte.
"Bevor ich von Verden berichte, möchte ich eines sagen. Ich weiß wohl, dass Evelina auf dem Lindenhof wohnt, dass sie nicht freiwillig dorthin ging, Isbert unser Versprechen mit Gewalt einforderte. Doch es ist nicht die Zeit, das Unrecht zu sühnen. Vielmehr muss ich von eurer Schwester erwarten, dass sie ihre Last trägt, Isbert achtet und sich ihm unterwirft. So ist das Schicksal der Frau. Sie sei dem Manne untertan."
Astrid blickte traurig auf den Zurückgekehrten. Da war er wieder, der männliche Stolz, die Überheblichkeit und Unbarmherzigkeit. Warum musste der Mann nach Verden ziehen? Warum musste er den Jungen anschleppen. Hätte er doch einmal auf sie, auf ihre weibliche Intuition gehört, viel Unglück wäre erspart geblieben. Bodowin sah seine Frau nachdenklich an.
"Bestimmt hältst du mich für schwach, dass ich mir so etwas gefallen und meinem Kind so etwas antun lasse. Doch manchmal ist es besser, schwach zu sein, bis die eigene Stunde kommt, um dann entschieden zu handeln." Als er sah, dass ihm niemand widersprach, alle Augen gespannt auf seinen Mund gerichtet waren, als er sogar etwas wie ein liebevolles Lächeln in Astrids Antlitz erblickte, begann er, von seinen Erlebnissen zu berichten. Seine Reise nach Verden verlief ohne besondere Vorkommnisse. Gis war ein starkes Pferd und gemeinsam kamen sie schnell voran. Doch am Ziel bot sich ein schreckliches Bild. Tausende, aus allen sächsischen Stämmen zusammengetriebene Edle, saßen gebunden zwischen den fränkischen Kriegern. Täglich rollten Köpfe. Das in Strömen fließende Blut färbte die Aller rot. Er fürchtete bereits, zu spät gekommen zu sein. Doch er hatte Glück, fand Eno, konnte dessen Wächter mit süßem Met ins Reich der Träume schicken und ihn zusammen mit einem seiner Gefolgsleute befreien. Er gab ihnen Gis und sah noch, wie sie unerkannt im Wald verschwanden. Dann hörte er nichts mehr von ihnen. An dieser Stelle fiel Odilgard in das Gespräch ein.
"Sie konnten sich retten. Enos Gefolgsmann suchte uns auf und übergab Falko einen Beutel. Winimar, so hieß der Mann, berichtete noch, dass Falkos Vater lebt, dann verschwand er wieder", sagte Bodowins zweitälteste Tochter.
"Dann habe ich mein Versprechen gehalten", ergriff ihr Vater erneut und sichtbar erleichtert das Wort. Doch gleich darauf wurde sein Blick traurig. Sein Verrat blieb nicht lange unentdeckt. Ausgerechnet Einar, der Herr des Lindenhofs hatte ihn beobachtet. Astrid schluckte hörbar. Wie tief würde ihr Mann sie noch ins Unglück stürzen? Bodowin konnte seiner Frau nicht in die Augen sehen. Zögerlich sprach er weiter, berichtete, wie Einar sein Wissen nutzte, Bodowins Schwur erzwang, Evelina sogleich nach seiner Rückkehr mit Isbert zu vermählen und ihre beiden Höfe zu vereinen. Bei diesen Worten schwand Astrids Hoffnung endgültig, Evelina nochmals nach Hause holen und letztlich aus freier Überzeugung zum Lindenhof ziehen lassen zu können. Isbert sah sich sicherlich im Recht, nahm sich nur, was ihm zustand. Was für eine schändliche Intrige. Und das alles wegen dieses Jungen. Doch sie musste ihre bösen Gedanken unterdrücken, schließlich wollte sie der Erzählung des Gatten ihre volle Aufmerksamkeit schenken, kein Detail des Berichts verpassen. Und Bodowin fuhr ohne Unterbrechung in seiner Rede fort. Einar bestand demnach nicht nur auf der ehelichen Verbindung beider Familien. Er erwartete zusätzlich, dass sich Bodowin an der gerechten Bestrafung der Abtrünnigen beteiligte. Aus Angst um seine Lieben und aus Angst um sein eigenes Leben griff dieser dann auch zum Schwert und enthauptete einige der Sachsenführer, die ohnehin dem Tode geweiht waren. Im Gegenzug behielt Einar sein Wissen für sich und reiste vor allen anderen aus Verden ab, nicht jedoch ohne Bodowin seinem fränkischen Lehnsherrn als großartigen Kämpfer angedient zu haben, welcher ihn daraufhin zum Kriegsdienst in seiner Einheit aufforderte.
"So blieb ich denn bis zum letzten Tag und schloss mich den fränkischen Kämpfern an, wollte ich doch sichergehen, dass ich nicht verraten wurde. Die Rache der Franken hätten weder ich noch ihr überlebt", sagte Bodowin zum Abschluss. Seine Stimme wurde zunehmen heißer. Er war es nicht gewohnt, so lange zu reden. Die letzten Worte ähnelten eher einem Krächzen.
"Erhol dich etwas. Trink von der guten Milch, die unsere Stute dir schenkt." Astrid überkam trotz ihres Hasses, trotz ihrer Verzweiflung über das, aus einer kleinen Sache entstandene, jetzt so groß gewordene Unglück, und obwohl sie Bodowin die Schuld an der ganzen Entwicklung gab, und obwohl sie ihn regelmäßig betrog, Mitleid mit ihrem Mann. Oder waren das gar die wahren Gründe ihres Mitleids, dass der allseits Geachtete die Risiken seines Handelns nicht einschätzen, ja nicht mal sein eigen Weib in Treue an sich binden konnte? Doch Astrid brauchte diesen Mann. Johannes konnte ihr Zärtlichkeit, begrenzte Zeit sogar Schutz bieten. Ein gemeinsames Leben konnte er ihr nicht schenken. Ohne Bodowin wäre sie verloren. Gegen grobe Gewalt vermochte auch der schlaueste Geist nicht zu bestehen. So betete Astrid aus ehrlichem Herzen um des Gatten Genesung und dafür, dass Evelina Einsicht zeigen und das ihr bestimmte Schicksal tragen würde.
"Geht jetzt schlafen", schickte sie ihre anderen Töchter fort. "Morgen erzählt euer Vater weiter. Jetzt braucht er Ruhe."
Astrids Kinder lagen ruhig unter ihren Fellen. Ihr Mann schnarchte leise. Keiner würde ihr Fehlen bemerken. Vorsichtig schlich sie aus der Hütte, setzte ihre Schritte in die im Schnee vorgegebenen Spuren. Keiner sollte den Weg verfolgen können, der sie zum Gebetshaus führte. Kaum dort angekommen warf sie sich auf die Knie und versank in stummer Fürbitte.
"Alles wird gut."
Astrid kannte die Stimme, kannte den Druck der Männerhand auf ihrer Schulter. Johannes stand hinter ihr. Seit Bodowins Rückkehr hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er wollte schon lange abgereist sein. Seine Requisiten waren bereits verpackt, die Gottesdienste bereits eingestellt. Allein das unerwartete Auftauchen des Grundherren ließ ihn noch bleiben. Das war Astrid durchaus bewusst.
"Wie geht es deinem Gemahl", fragte er mit sanfter Stimme.
"Es wird besser", antwortete Astrid und schmiegte ihren Kopf an den weichen Bauch des Geistlichen. Sie spürte heftiges Verlangen. Bodowin war noch zu schwach, die eheliche Pflicht von ihr zu verlangen. Doch dies würde kaum mehr lange anhalten. Zuvor wollte Astrid ein letztes Mal Johannes unvergleichliche Zärtlichkeit genießen, Freude am Liebesspiel haben, ein Bedürfnis, welches die meisten ihr bekannten Männer als absonderlich ansahen. Und der Mönch spürte ihre Sehnsucht, traf sich mit ihr in dieser Sehnsucht, dem unbändigen Streben nach körperlicher Vereinigung. Niemand würde unerlaubt das Gebetshaus betreten, da war sich Johannes sicher. Seine Kutte fiel. Bald lag Astrids Kittel daneben, vereinigten sich die Menschen so wie die Kleider. Für einen kurzen Moment dachte Johannes an den eingesperrten Falko. Der konnte nicht entkommen. Die Tür war fest verriegelt. Dann suchte sein Mund Astrids zarte Lippen, seine Hände Astrids ausladenden Busen, seine Schenkel den Raum zwischen den Ihrigen. Bald ergriff unkontrollierbare Ekstase die einander umschlingenden Leiber, klang unterdrücktes Stöhnen aus keuchenden Kehlen, bebte der Boden unter Johannes festen Stößen, schien das Gebetshaus mit Astrids Hüften zu kreisen. Es bereitete dem sonst so Überlegten, anscheinend nur am Glauben, an Gott, an der fränkischen Herrschaft Interessierten, Mühe, sich immer wieder zu besänftigen, den Höhepunkt noch ein wenig hinauszuzögern. Doch er meisterte diese Prüfung, bescherte der unter ihm Liegenden dreimalige Verzückung und kam selbst erst beim dritten Mal zur eigenen Krönung des verbotenen Akts.
"Wären wir uns doch eher begegnet", seufzte er, als er noch immer keuchend aber voll des Glücks neben der Frau lag, die in ihm eine Leidenschaft weckte, welche seine Lehrer und Herren für dauerhaft ausgerottet hielten.
"Lass uns dankbar sein für das, was uns geschenkt wurde", entgegnete Astrid. "Ich werde immer auf dich warten, auch wenn ich doch nie allein dein, du doch nie allein mein sein darf."
"Ich danke dir für deine Treue. Auch ich werde nur an dich denken, selbst wenn ich dir lange Zeit fern bleiben muss. Morgen breche ich auf." Johannes stutzte kurz. "Den Jungen nehme ich mit."
Astrid wusste nicht, ob sie zustimmen oder widersprechen sollte. Was würde Bodowin sagen? Erstaunlicherweise hatte er bisher nicht nach Falko gefragt. War er zu sehr mit sich beschäftigt?
"Ich warte auf dich, so wahr mir Gott helfe." Astrid war durchaus bewusst, dass sie nicht den besten Zeugen für ihr Versprechen gewählt hatte. Doch hieß es nicht, dieser Gott sei ein Gott der Liebe? Und was spielte sich denn anderes ab zwischen Johannes und ihr als Liebe, mit jeder Faser des Körpers gelebt und mit ganzem Herzen genossen? So muss das Himmelreich sein. Warum soll man es nicht schon auf Erden kosten dürfen? Leise und vorsichtig, wie sie gekommen war, schlich sie in ihre Hütte zurück.
"Hoch mit dir du Faulpelz." Johannes trat nach dem am Boden liegenden Falko. Er wollte noch vor Sonnenaufgang verschwinden, jede Diskussion mit Bodowin vermeiden. "Der Herr wird dich strafen für deine Faulheit. Wir brechen auf. Pack mein Pferd. Und lass dir nicht einfallen, wegzulaufen. Oder soll Evelina als Hexe und Hure enden? Ich weiß, was zwischen euch lief. Du wirst mir noch dankbar sein, dass ich dich aus dieser Sünde errettete."
Falko sprang auf. Was wusste der Pfaffe? Was war mit Evelina? Er sah sie nicht mehr seit dem Tag, an dem ihn Johannes in seiner Hütte einsperrte. Wollte er nach ihr fragen, schnitt ihm der Mönch das Wort ab. Zeigte er sich trotzig, schlug ihn der Kuttenmann mit harter Hand. So schickte sich Falko in sein Schicksal, weinte sich allabendlich in den Schlaf, rief in Gedanken, auszusprechen wagte er die Namen nicht, nach Saxnot und Wodan. Warum hatten sie ihn verlassen? War der Christengott doch stärker? Die Zweifel des Tages verflogen in der Nacht. Falko träumte oft von seiner Familie, vom Vater, der sich retten konnte, von der Mutter, die ihm Mut zusprach, von den Geschwistern, die ihm beistanden. Das gab ihm Kraft. Eines Tages würde er seinen Vater finden, gemeinsam mit ihm in den Kampf ziehen, die Ehre der Mutter, das Ansehen der Geschwister wiederherstellen, die verhassten Franken aus dem Land werfen und die Macht der alten Götter aus neue errichten. Dafür musste er stark sein. Dafür musste er sich in Geduld üben. Dafür musste er alles ertragen, was Johannes ihm antat. Dafür musste er den fetten Körper des Menschenfressers waschen und mit stinkender Salbe einreiben. Eines Tages ramme ich meinen Dolch in deine dicken Gedärme, dachte Falko stets dabei. Doch jetzt wollte sein Peiniger aufbrechen, ihn fortführen von dem Ort, der zwar nicht Heimat, aber doch Zuflucht war? Dann konnte er auch gleich davonlaufen. Was hatte er noch zu verlieren? Der Vater war frei, Evelina so oder so für ihn verloren. Doch wenn man sie wirklich der Hexerei bezichtigte? Er hatte große Angst um die Geliebte. Und er hatte Angst um Gis. Er wusste ja nichts von Bodowins Heimkehr.
"Ich darf hier nicht fortgehen. Ich versprach es dem Herrn Bodowin. Sonst tötet er mein Pferd", versuchte Falko, den Mönch umzustimmen.
"Vergiss Bodowin. Du stehst unter meinem Schutz. Er kann dir nichts anhaben. Und Gis wird kein Haar gekrümmt. Das schwöre ich dir." Johannes sprach jetzt ruhig. Er wollte die Zuneigung des Jungen gewinnen, Gewalt nur als äußerstes Mittel anwenden. Der Herr züchtigt die, die er liebt. Aber ein Kind kann diese große Wahrheit noch nicht begreifen. "Astrid wird Bodowin besänftigen, wenn er über dich in Wut gerät. Und wir gehen ja nicht für immer. Folge mir und ich führe dich auf den rechten Weg und eines Tages hierher zurück."
Das Dorf schlief noch, als sie aufbrachen, Johannes zu Pferde, Falko nebenher laufend. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel, gaben weder Mond noch Sternen eine Chance, ihr Licht auf den Pulverschnee zu werfen. Falko keuchte bereits heftig. Doch Johannes drängte zur Eile. Er fürchtete, von Bodowin eingeholt und befragt zu werden.
Bodowin fühlte sich erholt und gestärkt. Die letzte Nacht brachte ihm endlich ruhigen Schlaf. Die Albträume waren endlich verschwunden. Das Erzählen seiner Erlebnisse nahm ihnen offenbar den Schrecken. Kurz nach Tagesanbruch saßen sie bereits wieder ums Feuer, Astrid, Odilgard, Eila, Gefion, Lioba und er selbst. Gespannt warteten alle auf seinen weiteren Bericht. Doch er begann zunächst, die alten Götter anzurufen, ihnen zu danken und um Wohlergehen für seine Familie zu bitten. Dabei bezog er Evelina mit ehrenden Worten ein und wünschte ihr ein glückliches Leben auf dem Lindenhof und mit ihrem zukünftigen Ehemann. "Ich danke dir Wodan, dass du unser Leben mit großer Weisheit lenkst", schloss er sein Gebet.
"Fällst du in den alten Glauben zurück?", fragte Astrid ärgerlich. "Das könnte uns alle den Kopf kosten. Hattest du nicht solch große Angst vor den Franken, dass du uns diesen fremden Jungen anschlepptest? Und jetzt rufst du die heidnischen Götter an. Willst du noch mehr Unglück über uns bringen?"
"Schweig Weib. Was ich erlebte, ließ mich nicht nur an den frommen Worten zweifeln, mit denen uns Johannes verführte. Es lehrte mich, die neuen Herren zu hassen. Wie gern wäre ich mit Eno gezogen. Wie gern hätte ich mich Widukind angeschlossen. Doch deinetwegen, euretwegen, kehrte ich heim. Ein Christ jedoch bin ich nicht mehr."
Bestürzt sahen Bodowins Töchter ihren Vater an. Selbst Lioba, die Jüngste von ihnen verstand, dass diese Worte gefährlich waren, niemals aus ihrer Hütte dringen dürften. Es brauchte Astrids Hinweis nicht, doch sie wollte ganz sicher sein.
"Was euer Vater sagt, ist nicht für fremde Ohren bestimmt. Ein falsches Wort und wir landen auf dem Scheiterhaufen", drohte sie ihren Kindern.
"Und du hüte deine Zunge", wandte sie sich dem Gatten zu. "Du verwirrst die Kinder."
"Es tut mir leid", antwortete Bodowin, der sonst so Rechthaberische und leicht Aufbrausende. "Es ging mit mir durch. Vielleicht versteht ihr mich, wenn ihr alles gehört habt."
Er sah seine vier Töchter durchdringend an. "Wir leben in einer harten Zeit. Es gibt viel Leid im sächsischen Land. Wir müssen uns vorsehen und dürfen niemandem trauen. Deshalb bleibt das, was ich sage, unser Geheimnis."
Und noch einmal zu Astrid gewandt, fügte er hinzu: "Die Kinder sind alt genug. Sie sollen unsere Feinde erkennen, um ihnen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Vielleicht befreit Widukind auch unser Dorf. Dann sollten wir die alten Regeln nicht vergessen haben."
Astrid dachte nur, gut, dass Johannes uns nicht hört. Nicht Widukind, den neuen Herren hieß es zu dienen. Ihr Gott war stärker. Doch sie behielt dies für sich, vertraute darauf, dem Gatten die schändlichen Gedanken auszutreiben. Schon damals, als die Franken den Treueschwur verlangten, fügte er sich in das Unvermeidliche. Er würde es wieder tun, zumal jetzt, wo seine Tochter auf dem Lindenhof lebte, dessen Besitzer enger mit den Franken verbunden war, als jeder andere, den Astrid kannte.
"Vergiss du vor allem uns nicht und nicht Evelina. Bald werden Isbert und sie vor den Priester des neuen Gottes treten. Du versprachst sie ihm, dem Mann und seinem Gott." Astrid konnte sich diesen Seitenhieb nicht verkneifen. Schließlich war es doch Bodowin selbst, der ihnen das alles eingebrockt hatte.
"Evelina weiß, was zu tun ist. Sie wird ihre Bürde tragen und die rechte Zeit abwarten. Sie wird sich Isbert fügen, solange er der Stärkere ist. Doch auch wenn sich das ändert, wird sie die richtige Entscheidung treffen. Und sie ist ja nicht allein. Mein Sohn Falko steht ihr bei." Bodowins Augen blickten triumphierend. Wie gut, dass er den Jungen damals aufnahm. Astrid zuckte zusammen. Bodowin schien wirklich zu glauben, Falko sei mit Evelina gegangen. Nur so war es erklärlich, dass er nicht nach dem Jungen fragte. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Sie musste diesen Irrtum korrigieren, bevor ihr Mann es von anderen erfuhr. "Falko ist nicht bei Evelina. Er ging mit Johannes, dient jetzt ihm. Sollte er je zurückkehren, dann bestimmt als aufrechter Anhänger unseres Herrn Jesus."
"Johannes nahm Falko mit sich, meinen Sohn?" Bodowin lief puterrot an. Doch er beruhigte sich ebenso schnell. Falko galt als Auslöser des Übels, welches über die seinen kam. Als Diener des Pfaffen würde er nicht auffallen. Und dass er den neuen Glauben annimmt, glaubte Bodowin mit Sicherheit ausschließen zu können.
"Das ist auch gut. So können wir ihn später mit noch besserem Gewissen in unsere Familie aufnehmen. Und ich bin sicher, dass er zurückkommt. Johannes gefällt es bei uns. Ich weiß zwar nicht, was er hier gefunden hat, aber es scheint ihm wichtig." Bodowin konnte sich rasch wieder kontrollieren. Falko war ein Streitpunkt zwischen Astrid und ihm. Vielleicht würde sie den Jungen akzeptieren, wenn Johannes für ihn eintrat. Er kannte seine Frau. Das Wort des Predigers fiel bei ihr auf fruchtbaren Boden.
Das Feuer war schon fast niedergebrannt, als Bodowin endlich begann, seine Geschichte fortzusetzen. Schnell legte Lioba ein paar Scheite auf. Das trockene Holz prasselte. Magische Funkenregen schossen aus den Flammen, malten Bilder kräftiger Männer und streitbarer Frauen. Die alten Götter waren nicht tot.
"Ich schloss mich also den fränkischen Kämpfern an und machte Jagd auf Abtrünnige, die ihr Heil bei Widukind suchten. Ich tat es gegen meine Überzeugung und allein zu eurem Schutz, denn ich wusste, Einar würde nicht zögern, mich zu verraten und neben meiner ältesten Tochter unseren gesamten Besitz an sich reißen. Die Franken waren voller Tatendrang. Das Blutbad zu Verden ließ sie übermütig werden. Es schien ihnen nur eine Frage der Zeit, bis alle Sachsen den Treueschwur leisteten und ihnen untertan sein würden." Bodowin lächelte hintergründig, als er dies sagte. Astrid bemerkte das mit Verwunderung. Doch bei seinen folgenden Worten verstand sie. Und sie verstand auch, warum die einst für übermächtig gehaltenen neuen Herrscher in den Augen ihres Mannes an Glanz verloren.
"Immer weiter und weiter zogen wir nach Norden, fällten die heiligen Bäume, ließen den Pfaffen das Wort vom neuen Gott verbreiten und dort, wo es nicht gehört werden wollte, die Schwerter sprechen. Ich tat mich nicht hervor im Kampf, aber ich war dabei, als unsere sächsischen Brüder und Schwestern starben. Doch eines Morgens wandte sich das Schicksal gegen uns. Wie aus dem Nichts fielen Widukinds Männer über uns her. Ich rannte um mein Leben, spürte bereits den Atem des Pferdes hinter mir, dessen Reiter mir mit Sicherheit den Schädel spalten würde. Ich wollte ihm in die Augen sehen. Und das Pferd stockte. Es hatte mich erkannt. Es war Gis und der Reiter niemand anderes als Eno. Er ließ mich ziehen, aus Dankbarkeit und weil er wusste, dass ich allein seinen Sohn retten konnte. Jetzt versteht ihr wohl auch, warum Falko unbedingt zu uns zurückkehren muss. Er ist die Verbindung zwischen ihnen und uns, Enos Sohn und mein Sohn."
Astrid liefen Tränen über die Wangen. Das alles tat er für uns, dachte sie. Während ich mit Johannes schlief, starb er fast. Das Warum war jetzt egal. Dieser, ihr Mann, hatte sich für sie aufgeopfert.
"Was euer Vater berichtete, geht niemanden etwas an" wiederholte sie die Warnung eindringlich. "Falls euch jemand fragt, sagt nur, er tat zu Verden seine Pflicht und wurde auf dem Rückweg überfallen", schärfte Astrid den Töchtern ein. Dann schickte sie die vier an ihre Arbeit. Zu lange schon hatten sie die Zeit vertrödelt. Vertrödelt? Nein, so konnte es Astrid nicht sagen. Die Kinder mussten einfach hören, was ihr Vater zu berichten hatte. Die Zeiten waren schwer. Da hieß es, rasch erwachsen werden. Als Bodowin und sie allein in der Hütte blieben, löste sie seine Verbände. Die Wunden heilten gut. Sie öffnete ihr Kleid und zog den zu alter Kraft zurückkehrenden Mann, ihren Mann, an die entblößten Brüste. Und Bodowin spürte die Lebenskraft, welche von dieser, seiner Frau ausging und nicht nur die Wunden seines Fleisches, sondern auch die seiner Seele heilen ließ. Bald waren sie einander ganz nah, mit ihren Körpern und mit ihrem Geist.
Kniehoch lag der Schnee. Schwer stöhnten die Bäume unter ihrer weißen Last. Jeder Windstoß ließ Flocken von ihnen rieseln. Und Windstöße gab es viele. Falko wünschte sich zurück ans wärmende Feuer, dachte voller Sehnsucht an Evelinas Umarmung, dachte schließlich an seine Mutter, seine Schwester, seinen Bruder. Ob die Toten auch frieren? Hatte er sie für ihren Weg ausreichend versorgt? Nein, er trug sie zusammen, wie sie waren, nur mit dünnem Stoff bekleidet, ohne Nahrung und Waffen übergab er sie dem befreienden Feuer. Müssten sie leiden, trüge er die Schuld. Wie konnte er sich nur wundern, dass Wodan, dass Saxnot ihm nicht beistanden. Er hatte versagt. Und als er endlich einmal seine Pflicht tun, den Vater aufsuchen, den Rest seines Stammes retten wollte, ließ er sich einfangen wie ein dummes Schaf. Und statt zu kämpfen, verbrüderte er sich mit seinen Feinden, empfand gar Liebe für die Tochter seines Bezwingers. Er verdiente es nicht anders. Hier im verschneiten Wald, mit vor Frost klappernden Zähnen, mit vom Reif verklebten Haaren, von überfrorenen Zweigen ins Gesicht geschlagen, sollte er büßen, Sklave eines Menschenfressers sein. Oder versagte er erneut? Ging er aus Feigheit mit Johannes, überließ Gis, den Freund, einem ungewissen Schicksal, Evelina, die Geliebte, einer schrecklichen Zukunft? Verriet er nicht erneut den Vater? Sollte er nicht an dessen Seite kämpfen? Tief war der Schnee. Tief in Gedanken setzte Falko einen Fuß vor den anderen, geschüttelt von Kälte und Zweifel.
"Nein", rief er plötzlich und so laut, dass die Götter ihn wohl hören mochten. Dann rannte er los, quer zum Weg, immer weiter ins Dickicht des Waldes. Er wollte seinen Vater finden, nicht mit dem schrecklichen Kuttenträger gehen, nicht Knecht eines Gottes werden, dessen Anhänger Menschenfleisch aßen, Menschenblut tranken. Das dichte Unterholz behinderte Johannes bei der Verfolgung. Bald konnte Falko den Mönch nicht mehr sehen. Doch er durfte nicht nachlassen, sich keine Ruhe gönnen, musste laufen und laufen. Er keuchte schwer. Von der Kälte verblieb keine Spur. Sein heißer Atem verwandelte sich in Dampf, gefror auf seinen Lippen. Da riss der Himmel auf. Die fahle Wintersonne begrüßte einen freien Sachsenjungen. Die Götter helfen denen, die kämpfen. Und Falko kämpfte, jeder Schritt brachte ihn dem ersehnten Ziel näher. Bald standen die Bäume weniger dicht. Bald öffnete sich eine Lichtung. Der Abend brach bereits an, und neue Wolken rasten herbei.. Falko rannte weiter, nahm nicht wahr, wie sich hinter ihm kräftige Hufe in den Schnee drückten.
"Ah", Schmerz, Wut, Angst, all dies vereinte Falkos Schrei, als der Reiter an ihm vorbeigaloppierte, die Gerte seinen Rücken traf, ihn zu Boden warf und ihm die letzte Kraft raubte. Er wehrte sich nicht, als ihm Johannes die Hände band und das andere Ende des Strickes am Sattel befestigte. Unfähig zu denken, unfähig zu weinen, unfähig auch nur Ansätze von Widerstand zu zeigen, lief er in die Dämmerung hinein.
"Du Nichtsnutz, du undankbares Stück Dreck, du gereichst mir zur Schande. Wegen dir müssen wir die Nacht im Freien verbringen. Aber ich werde dir die Flausen schon austreiben. Ausprügeln werde ich sie dir."
Falko zweifelt keinen Moment an der Ernsthaftigkeit von Johannes Worten. Es war schon fast Nacht, als sie endlich rasteten.
"Sammle Holz, damit wir nicht erfrieren. Und hau nicht wieder ab. Sonst verkaufe ich dich als Sklave an die Franken."
Falko haute nicht ab. Die Lust auf Flucht war ihm vergangen. Bald prasselte ein wärmendes Feuer, lagen Zweige und abgestorbener Farn auf dem Boden. Johannes zog Brot und Wein hervor. Nach der anstrengenden Hatz erfreuten ihn diese Gaben besonders. Für Falko gab es nur geschmolzenen Schnee. Ein kräftiger Strick verband seine Füße mit dem Stamm einer Birke und sicherte dem Mönch stundenweisen Schlaf. Zwischendurch trieben ihn Kälte und Angst vor einer neuerlichen Flucht des Jungen immer wieder hoch, musste er dem Feuer neue Nahrung geben, Falkos Bande auf sicheren Sitz prüfen.
"Du bist wirklich ein zäher Kerl", weckte Johannes den schlafenden Jungen. Und mit einer Spur von Dankbarkeit bemerkte Falko, dass der Mönch ihn mit einer Decke eingepackt hatte.
"Wenn wir Herzog Normans Burg erreichen, soll ich dich dann als Gefangenen vorführen?"
"Nein", antwortete Falko flehend auf Johannes Drohung.
"Soll ich dir erneut die Hände binden und dich wie ein Stück Vieh neben mir führen, dich als Sklaven zum Kauf anbieten?"
"Nein", flehte Falko erneut und warf sich auf Knien in den Schnee.
"Dann schwöre mir, dass du nicht fliehst, dass du den einzigen Gott, bezeugt durch seinen Sohn Jesus Christus, Herr nennst, und dass du mich Herr nennst und mir treu dienst."
"Ich schwöre es", flüsterte Falko in den erwachenden Morgen.
"Schwöre es beim Leben deines Vaters."
Falko zögerte, doch er sah keinen anderen Weg. "Ich schwöre beim Leben meines Vaters."
"Schwöre es beim Leben deines Pferdes."
Falko stöhnte. Das war zu viel. Der Schwur würde ihn auf ewig binden. Doch was hatte er für eine Wahl? Wollte er lieber durch Stricke gebunden sein? "Ich schwöre beim Leben meines Pferdes."
Doch Johannes war sich noch immer nicht sicher. Jeden Christen hätte er auf den Herrn Jesus schwören lassen und ihn damit fester als mit einer Kette gebunden. Doch den Kleinen verband zu wenig mit Jesus. Dieses zu ändern, bräuchte viel Zeit. So überwand Johannes alle Skrupel. "Schwöre es bei all deinen Göttern. Schwöre es bei Saxnot. Schwöre es bei Wodan."
Tränen traten in die Augen des noch immer knienden Kindes. Schwor er vor den Göttern, einen anderen Gott Herr zu nennen, so wäre das Verrat. Bräche er seinen Schwur auf die Götter, wäre auch das Verrat. Was sollte er nur tun? Seine Handgelenke brannten noch immer, zeigten noch immer die Spur der Fessel. Wollte er diese erneut tragen? Wollte er Gefangener der Franken sein, niemals die Chance haben, Gis zu finden, den Vater zu finden?
"Ich schwöre bei allen Göttern, bei Wodan und Saxnot", hauchte er über den Schnee, dessen kalte Oberfläche seine Lippen fast berührten.
"Und was schwörst du?"
"Ich schwöre, dass ich nicht fliehe, dass ich den einzigen Gott, bezeugt durch seinen Sohn Jesus Christus, Herr nenne, und dass ich euch Herr nenne und euch treu diene." Stockend würgte Falko die Worte heraus. Verräter, Verräter, klang es in seinem Kopf. Gleich fährt ein Blitz aus dem Himmel und lässt mich zu Stein erstarren, dachte er. Doch nichts geschah. Ein strahlender Morgen brach an, kalt zwar, aber mit blauem Himmel und lächelnder Sonne. Verziehen ihm die Götter? Oder war der neue Gott doch stärker? Aufgewühlt und voller Zweifel über das, was ihm bisher als unumstößlich galt, bepackte Falko das Pferd und trabte neben dem Tier und seinem Herrn auf breiter werdenden Wegen her.
Falko kannte nur flache Hütten aus Holz und Lehm. Eine Burg sah er nie zuvor. Mächtig ragte der auf einem Hügel stehende Turm gen Himmel. Höher als die heiligsten Bäume, die der Junge je sah, verkündete dieser Bau den Herrschaftsanspruch seines Besitzers. Die Umzäunung aus Palisaden, welche sich hinter einem breiten Graben erhob, strotzte nur so vor Kraft und Wehrhaftigkeit. Was für eine Macht muss der Christengott besitzen, fürchtete sich Falko.
Nach kurzer Zeit trafen sie auf Bauern, welche offenbar das gleiche Ziel wie sie hatten.
"Gelobt sei Gott der Herr", grüßten die ärmlich Gekleideten in Johannes Richtung.
"Gelobt sei Gott der Herr", grüßten auch die Wachen an der Zugbrücke. Anscheinend kannten den Mönch alle in dieser Gegend. Johannes stieg vom Pferd, sprach einen kurzen Segen und schritt über die Balken der heruntergelassenen Brücke.
"Willkommen auf Eisenstein, deiner neuen Heimat", sagte er dabei. Staunend folgte Falko seinem neuen Herrn, an den ihn ein starker Schwur band. Wenn sie die Brücke hochziehen, den Sinn des Bauwerks hatte der Junge blitzschnell erfasst, kommt keiner rein, aber auch keiner raus. Gruseln mischte sich unter das Staunen. Doch viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Rasch ließen sie eine zweite Palisadenreihe hinter sich. Zwischen zwei strohgedeckten Langhäusern führte der Weg direkt auf den hölzernen Burgturm zu, welcher auf einem grasbewachsenen, über eine Treppe aus schweren Balken zu besteigenden Hügel, thronte. Doch leider bog Johannes nach links um das Langhaus herum und ging auf eine runde Hütte zu, aus deren Dachabzug weißer Rauch stieg. Er pfiff kurz und ein Junge, kaum älter als Falko, gekleidet in einfache Bauerntracht, rannte herbei. Im Gegensatz zu seiner nichtssagenden Kleidung wirkte sein Haar exotisch. Lang und pechschwarz fiel es ihm über die Schultern. Der kräftige Braunton seiner Haut verstärkte den Eindruck, dass er nicht hier in der Gegend geboren war. Falko musterte ihn interessiert und ängstlich zugleich.
"Endlich seid ihr zurück, gelobt sei der Herr", rief der Schwarzhaarige und griff sogleich nach den Zügeln des Pferdes.
"Bring meine Sachen in die Hütte und kümmere dich um das Tier", wies ihn Johannes an. Doch der Junge zögerte. Der Blick seiner großen dunklen Augen blieb an Falko hängen, schien bis in dessen Innerstes zu dringen.
"Das ist Falko, mein neuer Diener", erklärte Johannes mit einem Ton, welcher sich jeden Widerspruch verbat. "Falko, das ist Rango."
Rango murmelte einen unverständlichen Gruß, den Falko mit kurzem Nicken beantwortete.
"Ihr dient mir ab sofort gemeinsam. Werdet euch schon aneinander gewöhnen", beendete Johannes die spannungsgeladene Situation, gab seinem Braunen einen Klaps und ging auf die runde Hütte zu. Falko zögerte zunächst, ihm zu folgen, doch Johannes Handbewegung war eindeutig und die Aussicht auf ein wärmendes Feuer zu verlockend. Kaum schloss sich die Tür hinter ihnen, fühlte Falko die Kälte aus seinen Gliedern weichen. Es fehlte nur noch ein kräftiger Imbiss und sein Glück wäre perfekt gewesen.
"Dort", Johannes wies auf die gegenüberliegende Wand, "findest du gemahlene Hirse. Das Wasser hängt bereits über dem Feuer. Rango hat seine Aufgaben ordentlich erledigt. Mach du uns jetzt einen Brei, aber lass nichts anbrennen. Das ziehe ich sonst von deiner Ration ab."
Falko war es nicht gewohnt zu kochen. Krampfhaft versuchte er nun, sich an das zu erinnern, was er bei seiner Mutter und bei Astrid gesehen hatte. Er maß eine Schüssel vom Mehl ab und wollte es in das dampfende Wasser gießen, während sich Johannes hinter einem Leinenvorhang der Reisekleidung entledigte, da trat Rango in die Hütte. Verblüfft sah er Falko an. "Was machst du da?"
"Brei aus Hirsemehl", bekam er in unbekümmertem Ton zur Antwort.
"Na, dann sage ich nur, wohl bekomm's", gab Rango lachend zurück. Der Wortwechsel lockte Johannes hinter dem Vorhang hervor. Er trug lediglich noch sein Hüfttuch, über das sich der fette Bauch wölbte. Es schien ihn nicht zu stören, halb nackt vor die Jungen zu treten. "Dann hilf ihm, wenn du es besser weißt. Ihr müsst miteinander klarkommen. Da geht kein Weg dran vorbei."
Murrend nahm Rango die Schüssel an sich, tat Gewürze hinein, gab Milch und dann das Mehl in den dampfenden Kessel. Bald entstieg diesem ein leckerer Duft. Die angespannte Stimmung wich in dem Maße, wie sich die Nasen des Mönchs und seiner beiden Diener mit Wohlgeruch füllten. Johannes verteilte die Speise auf drei hölzerne Schalen, füllte seine bis zum Rand, Rangos nur wenig darunter, Falkos jedoch so eben bis zur halben Höhe.
"Nur wer arbeitet, soll auch essen. Du musst dir deinen Lohn verdienen", sagte er in Richtung des Kleinsten unter seinem Dach.
Falkos Schale war als Erste geleert, blank geleckt und nicht in der Lage, des Jungen Hunger auch nur ansatzweise zu stillen.
"Kümmert euch jetzt um die Tiere. Holt dann frisches Wasser und bereitet mein Bad. Du", er sah Falko streng an, "befolgst Rangos Anweisungen ohne Widerspruch. Und du", beim letzten Wort drehte er seinen schwitzenden Kopf in Rangos Richtung, "behandelst ihn wie deinen kleinen Bruder. Es gefällt Gott nicht, wenn Zank unter seinen Jüngern herrscht."
Brummend trotteten die beiden Angesprochenen davon.
"Kümmern wir uns zuerst um die Pferde. Davon verstehst du hoffentlich was." Rangos Ton war überheblich. Mit raschem Schritt eilte er voraus zu den Stallungen. Falko kam auf dem festgetretenen Schnee ins Rutschen, schlug der Länge nach hin und musste eine Lachsalve über sich ergehen lassen. Nass, schmutzig und den Bauch voller Wut, kam er schließlich bei den Pferden an.
Zu Rangos Erstaunen, er beklagte sich innerlich schon heftig über den ungeschickten Nichtsnutz, den sein Herr angeschleppt hatte, ging Falko die Arbeit bei den Tieren locker von der Hand. Diese spürten instinktiv, dass sie ihm vertrauen konnten, er sie mit Achtung und Liebe behandeln würde. Und Rango fühlte, wie das Eis schmolz, der fremde Junge den auch ihm so nahe stehenden Wesen gegenüber eine Hochachtung zeigte, welche die Soldaten und Bauern auf der Burg nur allzu sehr vermissen ließen. Er, der als kleines Kind aus einem fernen Lande, dessen Namen er selbst nicht mehr kannte, an fahrende Händler verkauft und in die Kälte des Nordens gebracht wurde, litt über Jahre unter den Schlägen seiner Herrn, fand Zuneigung nur bei den Tieren, die er zu versorgen hatte. Das änderte sich auch nicht, als er in Herzog Normans Besitz überging. Erst nachdem dieser ihn zum Diener des hochverehrten Bruder Johannes bestimmte, besserte sich sein Leben. Er wurde nicht mehr geschlagen, bekam ausreichend zu essen und konnte im Haushalt des Mönchs nach eigenem Gutdünken schalten und walten, jedenfalls solange er mit den Vorräten sparsam umging und seine Aufgaben zur rechten Zeit erledigte. Da nahm er es gern in Kauf, seinem Herrn regelmäßig das Bad zu richten und dessen fetten Körper zu schruppen, bis er so Rot strahlte wie ein Krebs im kochenden Wasser. Kein Wunder also, dass er in Falko zunächst einen Konkurrenten sah. Doch noch an diesem Tage, als beide zwischen den Pferden liegend, gemeinsam die edle Gesinnung der göttlichen Wesen spürten, änderte er seine Meinung. Nach langer Zeit in dieser kalten Welt spürte er ein Gefühl, welches ihn an seine vergessen geglaubten Kindertage erinnerte.
"Zu zweit sind wir so schnell. Da können wir noch ein wenig bei den Pferden bleiben und unsere Geschichten erzählen." Der Ton in Rangos Stimme sprach, ich meine es ehrlich. Und zum Beweis begann er, von sich zu berichten, von seinem Dorf weit im Süden, von langen Sommern und warmen Wintern, von harter Arbeit und reicher Ernte und vom Krieg, der alles zerstörte, Tod und Hunger und neue Herren brachte.
"Mein Vater starb im Kampf. Meine Mutter wurde Leibeigene. Das Essen reichte nie. Dann kam die Krankheit. Ich allein überlebte. Warum nur? Was war das für ein Leben, verkauft von einem zum anderen? Und was ist das für ein Leben, als Diener in diesem kalten Land?" Rango schüttelte sich, als spürte er die Kälte durch seine Knochen ziehen. Falko blieb zunächst sprachlos. Er kannte bis vor Kurzem nur sein Dorf und den umgebenden Wald. Schon der Weg auf den Spuren seines Vaters war ein großes Abenteuer. Herzog Normans Burg schließlich stellte alles in den Schatten, was ihm je begegnete. Und doch soll es ganz andere Länder geben, Länder, wo es auch im Winter warm ist? Aber vielleicht log Rango auch einfach. Dann würde er, Falko, das bestimmt herausfinden. Jetzt erzählte er erst mal seine eigene Geschichte, vermied jedoch, von Evelina zu berichten und verschwieg auch sein eigentliches Ziel, den Vater zu finden und mit Widukind zu kämpfen. Rango schien wenig beeindruckt. Er hatte von den Sachsen nicht viel Gutes gehört, wusste nur, dass sie schrecklichen Götzen anhingen, bald jedoch Erlösung im christlichen Glauben finden sollten. So sprach Johannes stets und dafür sprach auch, was Rango auf Normans Burg erlebte, nämlich die Ausbreitung der fränkischen Macht und des Glaubens, den er aus seiner Heimat kannte, der jedoch nicht verhinderte, dass er an fremde Menschen verkauft wurde.
"Für uns gibt es überhaupt keine Götter", sagte er resignierend. "Götter sind was für Reiche."
Ein Schwall an Flüchen beendete das Gespräch der Jungen. Johannes duldete keinen Müßiggang. Und er wollte nicht ewig auf sein geliebtes Bad warten.