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Im Taigasumpf verirrt

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Die zwei Jäger hatten die erste Sattelhöhe des Gebirgszuges zwischen dem oberen Jenissei und dem Kemtschik-Fluß im Altaigebirge erreicht. Ein kalter Oststurm brauste um die steinübersäten Hänge, auf denen ein undurchdringliches Gewirr von niederen Bergerlen, von kniehohem Rosmarin, Thymian und Lavendel wucherte. Aus der Tiefe des Tales hatten diese Höhen völlig kahl ausgesehen – nun aber konnten die Jäger Michel Prank und Peter Semling nur schrittweise vorwärtskommen. „Vor uns liegt ein unübersichtliches Hochplateau statt des erwarteten Gebirgskammes!“ stellte Peter Semling enttäuscht fest. „Wir werden den Kemtschik-Fluß heute nicht mehr erreichen.“

„Was tut es?“ Sein Begleiter zuckte mit den Schultern. „Wir tragen Zelt und Schlafsack mit uns und haben schon mehr Nächte in der Wildnis überstanden!“

Die zwei Männer sprachen deutsch! Wie waren sie in die Wildnis des sibirischen Altaigebirges gekommen? Als sich bei dem letzten großen Krieg die Deutschen der Wolga genähert hatten, waren die zwei Millionen Wolgadeutschen nach Sibirien deportiert und in der unendlichen Weite dieses Riesenlandes verstreut angesiedelt worden – in Kasachstan, auf dem Ust-Urt-Plateau und am Oberlauf des Jenissei. In der damals noch „Autonomen Republik Tannu-Tuwa“ hatte man in den fruchtbaren Talsteppen einige zehntausend Bauern in riesigen Kolchosen festgesetzt. Peter Semling und Michel Prank hatten dies alles noch als Kinder erlebt – jetzt standen sie als Jäger auf Zobel, Nerz und Kabarga beim „Staatlichen Pelzmonopol“ im Dienst. Längst hieß nun ihre neue Heimat „Tuwinisches Autonomes Gebiet“.

Soweit das Auge reichte, wogte die grüne Taiga Welle an Welle bis in wolkenverhangene Fernen. „Wir werden einige Tage zu wandern haben, bis wir zu unseren Bauern am Kemtschik absteigen können“, brummte Peter Semling. „Irgendwo soll ein alter Goldsuchersteig über dieses abflußlose Hochland führen. Wenn wir den finden, sind die Schwierigkeiten halb so schlimm.“

Michel Prank hatte nur geringe Hoffnung, den sagenhaften Pfad zu kreuzen. In den Bergschluchten des Altai schwemmten noch heute mongolische Erzsucher Gold aus dem Flußsand. Es ging die Rede, daß da und dort gediegene Goldadern ans Tageslicht traten – aber wer solche fand, wurde dennoch nicht reich. Das staatliche Goldmonopol trat ja als alleiniger Abnehmer des Goldes auf.

Die Jäger faßten nun einen markanten Punkt eines gegenüber der Senke liegenden kahlen Felsbuckels ins Auge, der für diesen Tag ihr Ziel werden sollte. Dann stiegen sie in ein unübersehbares, strauchüberwuchertes Sumpfgebiet hinab, in das von drei Seiten her die Wässer der anliegenden Höhen strömten. Bald gluckste zwischen hohen Rasenbüscheln schwarzes Wasser herauf. Die Männer sprangen von Büschel zu Büschel über die stillen, schwarzen Morastlöcher hinweg. Nach jedem Sprung quoll das Wasser unter ihren Füßen hervor. Wehe, wenn sie nicht sofort einen neuen Halt für ihren nächsten Sprung entdeckten! Dann tauchte der Rasen gurgelnd unter die schwarze Brühe und sank unaufhaltsam tiefer.

„Achtung – ausweichen! Der Strauch ist dürr!“ Eintönig fielen die Warnrufe des Vorausspringenden. Nach und nach gewöhnten sich die Jäger an den schwankenden Boden unter den Füßen.

Eine offene Sumpfpfütze mußte umgangen werden. Peter Semling schätzte die Ausdehnung jenseits der Büsche, die die Sicht nahmen. Rechts von ihm schien durch hohes Sumpfgras ein Übergang möglich. Der Boden gab unter ihm gurgelnd nach – er sprang rasch vorwärts und suchte mit den Augen den nächsten Aufsprung.

Aber auch Michel Prank, der etwas zurückgeblieben war, hatte einen Durchgang entdeckt. Nun drang jeder für sich vorwärts. Sie entfernten sich dabei immer weiter voneinander. Als sich Semling später einmal umwandte, hatten sie bereits keine Verbindung mehr. Er sah nur noch weit entfernt hinter dichten Erlenbüschen den Freund von Rasen zu Rasen springen.

Sollte er umkehren? Aber ein Blick zurück sagte ihm, daß die eingedrückten Rasenbüschel noch nicht wieder aufgetaucht waren. Das Wasser um sie herum hatte sich getrübt – ein Tritt daneben konnte ihn das Leben kosten! Es gab keine Wahl – er mußte vorwärts, vorwärts! Jenseits des großen Taigasumpfes mußten sie sich wohl wieder treffen.

Jetzt rief Michel Prank zu ihm herüber: „Achtung, links halten! Vor dir liegt offener Sumpf!“

„Jaaa!“ hallte Semlings Antwort aus der Weite des Sumpfes unter den schwarzen Erlen zurück. Später schien es ihm, als hätte Michel Prank noch einmal gerufen, aber er konnte im Windrauschen der Büsche um sich kein Wort mehr verstehen.

Semling sah, daß sich zu seiner Linken, in der Richtung, aus der der Freund gerufen hatte, immer größere Tümpel ausbreiteten. Rechter Hand hingegen schien sich der Boden leicht zu heben. Als er mit weitem Sprung wieder über eine Moorlache schnellte, fanden seine Füße keinen festen Boden mehr. Mit den Händen krallte er sich an einen Weidenstrauch. Unheimlich schnell sackte er tiefer ab. Der Strauch neigte sich über ihn – es half nichts, daß er verzweifelt nach immer neuen Zweigen griff. Glucksend zog ihn der Moorschlamm hinab.

Aus Leibeskräften brüllte er: „Herrgott, hilf! Hallo, Michel, ich sinke!“

Die niedrigen Büsche um ihn, die mit ihren Ästen ins Wasser klatschten, verschlangen jeden Laut. Nicht einmal das Echo kehrte in dieser grausig drohenden Urlandschaft wieder.

Peter Semling schlug wild um sich. Als er einen Augenblick reglos und keuchend im Sumpf hing und mühsam einen Ast nach dem andern unter seine Achseln schob, fühlte er, wie auch der ganze Weidenstock mit ihm absank.

Wieder schrie er heiser und verzweifelt: „Hallooo, Michel!“

Er horchte – keine Antwort. Schwere Regentropfen fielen jetzt.

Plötzlich fühlte er unter seinen Füßen eine abgestorbene Wurzel, die ihn wie eine stützende Hand von unten trug. Sie hielt auch stand, als er sich keuchend näher an den Wurzelstock der Weide heranschob.

Mit viel Mühe arbeitete sich Peter Semling aus dem Morast heraus. Langsam hoben sich auch die Weidenäste wieder aus der braunen Brühe. Wasserblasen stiegen auf, abgelöster Moorschlamm tauchte zur Oberfläche empor. Die Kälte schüttelte Semling, eine alte Wunde an der Schläfe brannte neu; aber daran durfte er jetzt nicht denken. Der kaum fußbreite Rasen um die Wurzeln sank langsam schon wieder unter Wasser.

Ratlos schaute Semling um sich. Wohin sollte er springen? Und aus welcher Richtung war er überhaupt gekommen? Auf gut Glück sprang er wieder los. Vor ihm tauchte ein breiter Erlenbusch wie eine kleine, schwimmende Insel im Morast auf. Halb unbewußt erkannte er, daß die Dämmerung hereinsank. Er nahm sich keine Zeit zum Überlegen – er wußte nur, er mußte springen, weiter, weiter springen!

Nach einer schier endlosen Zeit fand er unerwartet auf einem Felsklotz festen Halt. Er durfte stehenbleiben und um sich blicken. In der sinkenden Nacht breitete sich unüberschaubar um ihn schwarzer Sumpf.

„Himmel, hilf! Ich darf nicht haltmachen, bevor ich das Ufer des Taigasumpfes erreiche!“ stöhnte Semling. Bebend vor Nässe und Kälte, raffte er von neuem seinen Packen und das Gewehr auf. Vor ihm trieb der Sturm auf dem offenen Wasser einige Büschel Gras dahin. Wenn er sich gegen die Richtung des Windes hielt, mußte er irgendwo drüben auf dem anvisierten Bergrücken ankommen, den die Freunde gesehen hatten, als sie noch beisammen gewesen waren.

Er sprang Stunden um Stunden – vielleicht die halbe Nacht. Semling fühlte allmählich, daß der Boden fester wurde. Als er unter seinen Stiefeln Steine spürte, sank er erschöpft nieder…

Trotz der nassen Kleider und der Kälte mußte Peter Semling in einen bewußtlosen Schlaf gesunken sein. Als er erwachte, fand er sich in Brombeerranken wieder. Er schnellte auf, aber er schwankte und sank wieder um. Hatte er Fieber? Es mußte schon bald Morgen sein. Über den Taigasumpf flatterten Nebel; der Wind blies immer noch eintönig.

Wo war er jetzt? An dem jenseitigen Ufer des sumpfigen Hochplateaus? Oder hatte er in einem großen Bogen wieder den Bergrand erreicht, über den sie heraufgestiegen waren? Mühsam erhob er sich und humpelte über den Felsstreifen mit kurzem Gras hinauf. Aber auch oben verdeckten die Wolkenschwaden, die wie Nebel herabsanken, jede Sicht.

Die Lebensgeister kehrten erst allmählich wieder zurück, als er einen Streifen Dörrfleisch aus dem Packen zog und daran kaute. Auch die fiebrige Hitze des Kopfes ließ nach. Sollte er einen Schuß als Signal für Michel Prank abfeuern? Er reinigte den Gewehrlauf und warf die feuchten Patronen aus der Kammer. Er lud von neuem und jagte einen Schuß in die Wolken.

Nicht einmal der Hall des Schusses kehrte wieder. Kein Zeichen von dem Gefährten, kein Laut, kein Schuß aus der Ferne!

Inzwischen war es heller Tag geworden. Die Sonne stand irgendwo hinter den treibenden Nebeln. Aus der Richtung ihres Aufgangs erkannte Peter Semling mit einer unfaßbaren Erleichterung, daß der Taigasumpf hinter ihm lag. Gegen Süden öffnete sich wieder steiniges, trockenes Land.

Aber wo war Michel Prank? Hatte auch er sich verirrt und steckte irgendwo im Sumpf? Lebte er noch – oder…?

Die feuchten Kleider zogen Peter Semling alle Wärme aus dem Leib. Als er jetzt den flachen Felsrücken hinaufwankte, erkannte er, daß er auf einer weit in den Sumpf hinausreichenden Landzunge stand. Rechts und links von ihr breitete sich noch weit nach Süden hin das Hochmoor aus, strauchüberwuchert, gefährlich.

Peter Semling suchte mit den Augen den Horizont ab. Hinter einer der unzähligen Höhenwellen gegen Süden mußte der Kemtschik-Fluß strömen. Dort traf er auf seine Landsleute, die wolgadeutschen Kolchos-Bauern. Sollte er sich allein dorthin aufmachen und für Michel Prank Hilfe holen? Darüber aber konnten Tage vergehen; und wenn sich der Gefährte in Not befand, dann war vielleicht jede Hilfe zu spät.

Allmählich kam die niedrige Sonne hinter den Wolken hervor. Die Nebel hoben sich vom Boden – nur fern im Osten wallte immer noch eine graue Wolkenfahne über dem Boden dahin. Sie trug eine dunklere Farbe als die weißen Nebel, die sich in Fetzen über dem Taigasumpf auflösten. Semling blickte schärfer hin: Der Nebel stieg von einer bestimmten Stelle empor – wie Rauch!

Als Semling dies erkannte, rannte er schon keuchend höher über den kahlen Hang hinauf. Oben sah er es deutlich: Jenseits der weiten Sumpfbucht mußte ein Feuer brennen! Und wo ein Feuer entzündet war, dort mußten Menschen sein!

Er spürte auf einmal neuen Lebensmut. Er fragte sich nicht, ob sein matter Körper dem vielleicht stundenlangen Kampf um einen Pfad durch niedriges Gestrüpp gewachsen war. Er rannte bis an den feuchten Rand des Sumpfes hinab, stürzte hin, erhob sich und kämpfte sich von neuem durch die Erlen- und Spiräenwildnis weiter.

„Vielleicht ist es Michel Prank – sonst muß der Fremde mir helfen, ihn im Sumpf zu suchen!“ redete er atemlos vor sich hin.

Wer konnte sich dort drüben aufhalten? Sie waren aus dem Tschajaund Jenisseital herauf keinem Menschen begegnet. Er dachte an einen jagenden Sojoten, den Eingeborenen von Tannu-Tuwa. Vielleicht saß ein Promyschlennik, ein Taigaräuber, ein Entsprungener aus einem Arbeitslager an dem rauchenden Feuer – einerlei, jeden wollte er zwingen, mit ihm Michel Prank zu suchen!

Hügelauf und durch unzählige Mulden wühlte sich Peter Semling dahin. Wenn er den Rauch nicht mehr sehen konnte, überfielen ihn Angst und Trostlosigkeit.

Von dem letzten Rücken aus sah er frei auf das niedrige Feuer. Ein Mann hockte davor – Michel Prank! Semling schrie und fing torkelnd zu laufen an. Sie trafen sich auf halbem Wege.

„Du lebst noch!“

Peter Semling fühlte neben dem Feuer, wie sich ein unerträglicher Druck von seinem Herzen löste. Michel Prank hatte den Taigasumpf trocken überquert, und das Feuer brannte bereits die ganze Nacht – ein Zielfeuer für den Gefährten. Jetzt zog er ihm die feuchten Kleider vom Leib und wickelte ihn in trockene Felle.

Nach zwei Tagen erreichten die Jäger glücklich ihre Landsleute am Kemtschik-Fluß…

Der weiße Tiger - Abenteuer aus aller Welt

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