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Gefährliches Lokal

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Manchmal frage ich mich, wie viel Zeit meines Lebens ich in Lokalen verbracht habe. Und wie es aussehen würde, wenn man alle Gläser, die ich hatte, in Reihe stellt. Nur so. Und wie viel Moos ich wohl dort gelassen habe? Das weiß ich ziemlich genau. Wenn man alle Münzen und Scheine in einen Sack füllen würde, der mir von der Decke auf den Kopf fällt, dann wäre ich tot. Aber wenn ich’s nicht getan hätte, wäre ich sicher schon lange tot.

Seit fünf Jahren lebe ich in einer außergewöhnlichen Situation, und fast alle Leute, die uns zum ersten Mal besuchen, sind begeistert. Ihr habt ja eine Kneipe gleich im Haus! Als hätte man das Ziel gehabt und es damit endlich, endlich erreicht, nie wieder raus zu müssen. Und so einen schönen kleinen Biergarten! Dann die entscheidende Frage, ist es denn gut da?

Das ist es ja, dass es gut da ist, täglich von zehn bis ein Uhr im Hektor, und deshalb ist es ein nicht ungefährlicher Ort, an dem ich lebe. Du hast eines der angenehmsten Lokale der Stadt im Haus. Das fördert den Hang zur Faulheit und den Amüsiertrieb und ist ein gutes Fressen für den Pleitegeier. Du hast den ganzen Tag Buchstaben aus dem Alphabet geschlagen oder sonst was, die Sonne ist untergegangen, und diese gewisse innere Stimme sagt, du willst noch unter Menschen sein, aber weiter als bis ins Erdgeschoß würdest du jetzt auf keinen Fall gehen, nein, heute nicht, du bleibst zu Hause. Eine andere Standardsituation ist der abends leere oder völlig falsch gefüllte Kühlschrank. Eine unaufgeregte Stimme sagt, gehn wir runter? Und dann gehen wir nur mal schnell runter.

Das Hektor ist mit seinen etwa siebzig Sitzplätzen und einer langen und einer kurzen Theke weniger eine Kneipe, sondern, wie’s auch draußen heißt, mit »Café-Bar« treffender beschrieben. Denn es ist schon ganz schön elegant (im Gegensatz zum schon ganz schön runtergekommenen vierstöckigen, hundert Jahre alten Haus, das Postbräu gehört), ohne dabei irgendwie fein oder schnöselig zu sein oder zu tun. Die Regisseure und Bedienungen sind immer schnell und freundlich, ohne servil zu sein oder den Eindruck zu erwecken, man könnte ihnen dumm kommen. Leute, denen ihre Arbeit grundsätzlich Spaß zu machen scheint und die was davon verstehen, die hat man gern in seiner Nähe. Und wenn im Gespräch die Frage auftaucht, was denn der fünfte Film von Scorsese war, wendet man sich an Herrn Hü.

Die italienverliebte Speisekarte steht täglich neu an der Tafel und man braucht keine zwei Stunden, um sie zu studieren. Die Gerichte sind sehr gut und sehen auch so aus auf dem Teller und man kann großen Hunger haben und bekommt sogar Hilfe bei Problemen mit Kindern. In vergleichbaren Lokalen wird dafür anders hingelangt. Dass die Gaststätte auch eine Bar ist, zeigt das Angebot an Drinks und ihre Zubereitung. Womit ich nicht gesagt habe, dass das Helle von Postbräu nicht verbessert gehört. Zumindest möchten wir jetzt endlich einmal unser Bad renoviert bekommen.

Oft bin ich sogar unten, um einfach nur Musik zu hören. Da laufen nicht immer die gleichen Kassetten, da laufen keine Deppen, da kann ich mir manchmal Curtis Mayfield wünschen, da stehen auch zwei Plattenspieler. Eine kritische Stimme, die der von unser aller Plattenhändler verdammt ähnlich klingt, der seine Frau jeden Samstagabend in der Küche schuften lässt, meint, es würde zu viel »Bumsmucke für BWL-Studenten« laufen. Damit meint er Triphop und so, und er hat natürlich recht mit seiner Beobachtung, dass dies nicht der Ort ist, wenn mal wieder der große gute Krach im Getümmel gebraucht wird, aber ehrlich, diesen Ort möchte ich auch nicht ständig im Haus haben.

Und wer kommt überhaupt rein? Die ominöse bunte Mischung. Mit hoher Frauenquote, selten paar Dumpfmeistern, zu wenig Alten, manchmal zu vielen Studenten, die bei mir den Eindruck erwecken, FDP zu wählen und Westerwelle für wenigstens irgendwie nicht so verschnarcht zu halten. Aber man muss sich nicht groß um Leute kümmern, die von Alex dem Tiefseetaucher mit einem Blick kalt gestellt werden können und sollte sich auch daran erinnern, dass er manchmal täuscht, der Eindruck. Angenehm finde ich, dass es keins von diesen Stammgäste-Lokalen ist und also auch nicht dieses Sich-wie-daheim-Fühlen ausstrahlt. Bei großen Fußball-Turnieren wird »das Studio« eingerichtet. Auf die nur stufenhohe Bühne am Ende des langen schmalen Raums, wo ein großer Tisch steht, den man wie ein Theaterstück betrachten kann, kommen dann Fernseher, Kunstrasen und Bierbänke und -tische. Wenn nötig, werden die Öffnungs- den Spielzeiten angepasst. Man ist nicht in Gefahr, wenn man gegen Deutschland ist.

In so einer Wohnsituation sind aber nicht die Privilegien, die man etwa nach der Sperrstunde genießt, die größte Gefahr, sondern dass du irgendwann zum Inventar wirst. Das Helle, das du heute nicht trinken wolltest, ist schon in Arbeit. Du stehst in den Hauspantoffeln herum und niemand weist dich darauf hin.

Ich lebe mit einem Lokal im Haus. Vormittags höre ich das Scheppern von Bierkästen. Abends höre ich diesen Klangteppich aus Gelächter, Geschirr, Gerede und Musik. Eine Kulisse, die immer wieder zerstört wird von dem gigantischen Metallkrach, wenn drüben am Güterbahnhof die Waggons aufeinanderprallen. Was sich anhört wie der Beginn des Jüngsten Tags. An dem ich einst hoffentlich dieselbe Antwort bekomme wie dort unten auf die Frage: Kann ich anschreiben, bitte?

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