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ОглавлениеDer Zusammenbruch der Weimarer Republik
1. Das Kaiserreich
Ein halbes Jahrhundert oder länger drehte sich die Geschichte des modernen Deutschland um einen Angelpunkt: die imperialistische Expansion durch Krieg. Mit dem Auftreten des Sozialismus als einer industriewirtschaftlichen und politischen Bewegung, die den Bestand des industriellen, finanziellen und agrarischen Reichtums bedrohte, beherrschte die Furcht vor dieser Bedrohung des Imperialismus die innere Politik des Reiches. Bismarck versuchte, die sozialistische Bewegung zu vernichten, einerseits durch Lockmittel, andererseits und mehr noch durch eine Reihe von Gesetzen, die die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften verboten (1878-1890). Er scheiterte. Die Sozialdemokratie ging stärker als je zuvor aus diesem Kampf hervor. Wilhelm I. wie Wilhelm II.1 versuchten sodann, den Einfluß der Sozialisten unter den deutschen Arbeitern zu untergraben, indem sie mehrere Sozialreformen durchführten – auch sie scheiterten.
Der Versuch, die Arbeiterklasse mit dem Staat auszusöhnen, ging so weit, wie die herrschenden Kräfte es gerade noch wagen konnten; weitere Vorstöße in dieser Richtung hätten bedeutet, die Grundlagen, auf denen das Reich beruhte – die halbabsolutistischen und bürokratischen Prinzipien des Regimes – selber aufzugeben. Nur politische Zugeständnisse an die Arbeiterklasse konnten eine Aussöhnung herbeiführen. Die herrschenden Parteien waren jedoch nicht willens, das preußische Dreiklassenwahlrecht abzuschaffen und im Reich selbst sowie in seinen Einzelstaaten eine verantwortliche parlamentarische Regierung zu errichten. Angesichts dieses Widerstrebens blieb ihnen nichts anderes übrig, als gegen den Sozialismus als einer organisierten politischen und ökonomischen Bewegung einen Kampf auf Leben und Tod zu führen.
Die gewählten Kampfmethoden nahmen drei Hauptformen an: 1. Die Reorganisation der preußischen Bürokratie zu einer Hochburg des Semi-Absolutismus, 2. die Stärkung des Heeres als eines Bollwerks monarchischer Macht und 3. das Zusammenschweißen der besitzenden Klassen. Das Fehlen jeglicher liberalen Züge in diesem Programm ist bezeichnend. Die Liberalen waren in Deutschland 1812, 1848 und erneut im Verfassungskonflikt von 1862 geschlagen worden. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hatte der Liberalismus längst aufgehört, eine bedeutende kämpferische politische Doktrin oder Bewegung zu sein; er hatte seinen Frieden mit dem Reich geschlossen. Zudem betrachteten die Verfechter des Absolutismus aus theoretischen Gründen den Liberalismus nicht als ein brauchbares Instrument gegen den Sozialismus. Nehmen wir nur die Lehre von den unveräußerlichen Rechten – was war sie anderes als ein Mittel für den politischen Aufstieg und die Stärkung der arbeitenden Klassen? Rudolph Sohm, der große konservative Rechtshistoriker, drückte die herrschende Überzeugung folgendermaßen aus:
»Aus den Kreisen des dritten Standes selbst sind die Gedanken hervorgegangen, welche nun … die Massen des vierten Standes aufreizen gegen den dritten. Was in den Büchern der Gebildeten und Gelehrten geschrieben ist, das und nichts anderes ist es, was man jetzt auf den Gassen predigt … Die unsere Gesellschaft beherrschende Bildung, sie ist es, welche sich selbst den Untergang predigt. Wie die Bildung des achtzehnten Jahrhunderts, so trägt die Bildung der Gegenwart die Revolution unter ihrem Herzen. Wenn sie gebären wird, so wird das Kind, welches sie mit ihrem Blut genährt hat, seine eigene Mutter umbringen.«2
Die Reorganisation der Bürokratie wurde von Robert von Puttkamer unternommen, dem preußischen Innenminister von 1881 bis 1888. Entgegen der allgemeinen Auffassung war die frühere Bürokratie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts weit davon entfernt, konservativ zu sein; sie machte gemeinsame Sache mit den Verfechtern des aufsteigenden Industriekapitalismus gegen die feudalen Privilegien. Die Umwandlung der Bürokratie setzte ein, als der Adel selbst am kapitalistischen Unternehmertum ausgedehnt zu partizipieren begann. In einer gründlichen Säuberung entließ Puttkamer die »unzuverlässigen« Elemente (und dazu gehörten sogar Liberale). Das Beamtentum wurde zu einer geschlossenen Kaste; die Kampagne, ihm einen durch und durch konservativen Geist einzuhauchen, war genau so erfolgreich wie in der Armee. Der König konnte schließlich per Erlaß fordern, daß die »Beamten, welche mit der Ausführung meiner Regierungsakte betraut sind und deshalb ihres Dienstes nach dem Disziplinargesetz enthoben werden können«, bei Wahlen seine Kandidaten zu unterstützen hatten.3
Puttkamer brachte noch eine weitere Waffe in den Kampf gegen den Sozialismus ein. Erfüllt von der Überzeugung, daß »Preußen doch der ganz besondere Liebling des lieben Gottes ist«,4 machte er die Religion zu einem Teil des bürokratischen Lebensstils.5 Bürokratie und Religion, oder vielmehr die weltliche und die geistliche Bürokratie zusammen, wurden die vorzüglichsten Agenturen gegen den Sozialismus. Die ideologische Begleitung war die unaufhörliche Verteufelung des Materialismus und die Verherrlichung des philosophischen Idealismus. So kleidete Heinrich von Treitschke, der herausragende deutsche Historiker dieser Zeit, seine Lobeshymnen auf die Macht, den Staat und die großen Männer in die gleiche Sprache des modernen Idealismus, wie sie in jeder Universität, jeder Schule, von jeder Kanzel immer wieder zu hören war. Zwischen der Konservativen Partei, der Protestantischen Kirche und dem preußischen Beamtentum wurde ein fester Bund geschlossen.
Der zweite Schritt war die Umwandlung der Armee in ein handfestes Werkzeug der Reaktion. Seit Friedrich II. von Preußen war das Offizierskorps stets überwiegend aus dem Hochadel rekrutiert worden, dem man natürliche Führungsqualitäten zuschrieb. Friedrich II. zog sogar ausländische Adlige preußischen Bürgerlichen vor, die er ebenso wie die Männer, die in seinen Armeen dienten, als »Kanaillen« und Vieh betrachtete.6 Die Napoleonischen Kriege vernichteten diese Armee und bewiesen, daß die einzig und allein durch brutale Disziplin zusammengehaltenen Truppen den revolutionären Heeren Frankreichs weit unterlegen waren. Unter Gneisenau und Scharnhorst wurde die deutsche Armee dann reorganisiert und sogar in begrenztem Umfang demokratisiert, doch hielt diese Entwicklung nicht lange an. 1860, als Manteuffel seine große Säuberung beendet hatte, waren weniger als 1000 von 2900 Linieninfanterieoffizieren Nicht-Adlige. Sämtliche Offiziersränge in der Gardekavallerie sowie 95 Prozent in der übrigen Kavallerie und den besseren Infanterieregimentern waren mit Adligen besetzt.7
Genau so wichtig war es, die Armee an die bürgerliche Gesellschaft anzupassen und mit ihr auszusöhnen. Mit dem Niedergang des Liberalismus innerhalb des Bürgertums und der wachsenden Bedrohung durch die sozialistische Bewegung gab die Bourgeoisie in den 80er Jahren ihre frühere Opposition gegen das Heereserweiterungsprogramm auf. Es entwickelte sich ein Bündnis zwischen den zwei ehemaligen Feinden; die Gestalt des »feudalen Bourgeois« erschien auf der Bühne. Institutioneller Nährboden dieses neuen Typs war der Reserveoffizier, der weitgehend aus der unteren Mittelschicht rekrutiert wurde, um das ungeheure Personalproblem zu lösen, das durch die Vergrößerung der Armee auf eine Kriegsstärke von 1 200 000 Mann im Jahre 1888 und auf 2 000 000 Mann (3,4% der Gesamtbevölkerung) im Jahre 1902 entstanden war. Der neue »feudale Bourgeois«8 besaß den ganzen Dünkel des alten adligen Feudalherrn, aber wenig von seinen Tugenden und seiner Bindung an Treueverhältnisse und die Kultur. Er repräsentierte eine Koalition von Armee, Bürokratie, Großgrund- und Fabrikbesitzern zum Zwecke der gemeinsamen Ausbeutung des Staates.
Im Frankreich des 19. Jahrhunderts wurde die Armee in das Bürgertum eingegliedert; in Deutschland dagegen wurde die Gesellschaft in die Armee eingegliedert.9 Die strukturellen und psychologischen Mechanismen, die für die Armee typisch waren, schlichen sich immer mehr in das zivile Leben ein, bis sie es schließlich fest im Griff hatten.10 Der Reserveoffizier war die Schlüsselfigur in diesem Prozeß. Rekrutiert aus der »gebildeten« und privilegierten Schicht der Gesellschaft, trat er an die Stelle des weniger privilegierten, aber liberaleren Landwehroffiziers. (Reaktionäre hatten der Landwehr immer mißtraut und in ihren Offizieren »den wichtigsten Hebel für eine Emanzipation des Mittelstandes« gesehen.)11 Im Jahre 1913, als der Nachwuchs an Reserveoffizieren aus den privilegierten Schichten sich für die geplante Vergrößerung der Armee als zu gering erwies, stellte das preußische Heeresministerium lieber still seine Erweiterungspläne zurück, als daß es einer »Demokratisierung« des Offizierskorps die Tore geöffnet hätte.12 Ein Rechtsanwalt verlor sein Reserveoffizierpatent, weil er einen Liberalen in einer cause célèbre verteidigte; ebenso erging es einem Bürgermeister, der den Pächter eines städtischen Grundstückes nicht daran gehindert hatte, eine sozialistische Versammlung abzuhalten.13 Was die Sozialisten angeht, so war es klar, daß ihnen die nötigen ›moralischen Qualitäten‹ eines Offiziers abgingen.
Der dritte Schritt war die Aussöhnung zwischen Agrar- und Industriekapital. Die große Krise von 1870 hatte die Landwirtschaft hart getroffen. Zusätzliche Schwierigkeiten entstanden durch die Einfuhr amerikanischen Getreides, die steigenden Preise für Industriegüter14 und die gesamte Handelspolitik des Reichskanzlers Caprivi, die von dem Bestreben beherrscht wurde, die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse niedrig zu halten. In eine verzweifelte Lage getrieben, organisierten die Agrarier 1893 den Bund der Landwirte und begannen einen Kampf für Getreide-Schutzzölle,15 der beim Industriekapital Empörung auslöste.
Ein Handel von historischer Bedeutung setzte dem Konflikt ein Ende.16 Die industriellen Gruppen drängten auf ein großes Flottenprogramm; die Agrarier, die dem zuvor entweder ablehnend oder gleichgültig gegenübergestanden hatten, gaben durch ihr Hauptsprachrohr, die preußische Konservative Partei, ihre Einwilligung, für die Flottenvorlage zu stimmen, wenn die Industriellen als Gegenleistung ihre Forderung nach Schutzzöllen unterstützten. Die Politik der Verschmelzung aller entscheidenden kapitalistischen Kräfte wurde schließlich unter der Führung von Johannes von Miquel vollendet, der zunächst 1884 als Führer der Nationalliberalen und später als preußischer Finanzminister von 1890 bis 1901 die rechtsgerichtete Mehrheit seiner Partei hinter Bismarcks Politik brachte und seine berühmte Sammlungspolitik einleitete, die Zusammenfassung aller »vaterländischen Kräfte« gegen die Sozialdemokratie. Ihren höchsten Ausdruck fand die Sammlungspolitik in der direkten Verknüpfung der Getreidezölle mit dem Flottenbau im Jahre 1900. Die Nationalliberalen, das katholische Zentrum und die Konservative Partei hatten zu einer gemeinsamen materiellen Basis gefunden.
Das Ende des Ersten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit zeigten bald, daß das Bündnis der Reaktion auf zu zerbrechlichem Boden stand. Es gab keine allgemein anerkannte Ideologie, die es zusammengehalten hätte (ebensowenig existierte eine loyale Opposition in Gestalt einer kämpferischen liberalen Bewegung). Es ist eine auffällige Tatsache, daß das Deutsche Kaiserreich die einzige Großmacht ohne jedwede anerkannte Staatstheorie war. Wo lag zum Beispiel der Sitz der Souveränität? Der Reichstag war keine parlamentarische Institution. Er konnte weder die Ernennung noch die Entlassung von Kabinettsmitgliedern erzwingen. Politischen Einfluß konnte er, insbesondere nach Bismarcks Entlassung, nur indirekt ausüben; nie mehr als dies. Die verfassungsmäßige Position des preußischen Landtages war noch schlechter; mit Hilfe seiner eigens dafür erdachten »Theorie der Verfassungslücke« war Bismarck sogar in der Lage gewesen, seine Budgets ohne parlamentarische Bewilligung zu verabschieden.
Die souveräne Macht des Reiches lag beim Kaiser und den in der zweiten Kammer (dem Bundesrat) versammelten Fürsten. Die Fürsten leiteten ihre Autorität aus dem Gottesgnadentum her; dieser Begriff aus dem Mittelalter – in der absolutistischen Form, die er im 17. Jahrhundert angenommen hatte – war das beste, was das Deutsche Kaiserreich als eigene Verfassungstheorie anzubieten hatte. Das Ärgerliche daran war jedoch, daß jede Verfassungstheorie eine pure Illusion ist, wenn sie nicht von der Mehrheit des Volkes oder zumindest von den entscheidenden Kräften der Gesellschaft akzeptiert wird. Für die meisten Deutschen war das Gottesgnadentum ein offenkundiger Unsinn. Wie hätte es auch anders sein können! In einer Ansprache am 25. August 1910 in Königsberg gab Wilhelm II. eine seiner zahlreichen ›Von-Gottes-Gnaden-Proklamationen‹ ab. Er sagte folgendes:
»Hier war es, wo der Große Kurfürst aus eigenem Recht zum souveränen Herzog in Preußen sich machte, hier setzte sich sein Sohn die Königskrone aufs Haupt … Friedrich Wilhelm I. stabilisierte hier seine Autorität ›wie einen Rocher de bronze‹ … Und hier setzte sich Mein Großvater wiederum aus eigenem Recht die preußische Königskrone aufs Haupt, noch einmal bestimmt hervorhebend, daß sie von Gottes Gnaden allein ihm verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen, und daß er sich so als auserwähltes Instrument des Himmels ansehe ... Als Instrument des Herrn Mich betrachtend ... gehe Ich Meinen Weg.«
Die unzähligen Witze und Karikaturen, in denen diese spezielle Neuformulierung der Theorie verspottet wurde, lassen wenig Zweifel daran, daß keine politische Partei sie ernst nahm – außer den Konservativen, und auch sie nur in dem Maße, wie der Kaiser sich mit ihren Klasseninteressen identifizierte. Die Rechtfertigung der souveränen Macht ist jedoch die Grundfrage der Verfassungstheorie, und deutsche Autoren durften sie nicht stellen. Es gab keine Alternative in einem Land, das in so viele Fronten – Katholiken und Protestanten, Kapitalisten und Proletarier, Großgrundbesitzer und Industrielle – aufgespalten und in dem jede Gruppe so fest in mächtigen sozialen Verbänden organisiert war. Selbst der Dümmste konnte erkennen, daß der Kaiser weit davon entfernt war, ein neutrales Staatsoberhaupt zu sein, und daß er auf der Seite ganz bestimmter religiöser, gesellschaftlicher und politischer Interessen stand.
Dann kam die Prüfung eines Krieges, der dem Volk die größten Opfer an Blut und Kraft abverlangte. 1918 war die kaiserliche Macht gebrochen, und alle Kräfte der Reaktion dankten ohne den geringsten Widerstand gegen den Linksruck der Massen ab – all das jedoch nicht als unmittelbare Konsequenz der militärischen Niederlage, sondern als Folge eines ideologischen Debakels. Wilsons »Neuer Frieden« und seine Vierzehn Punkte waren die ideologischen Sieger, nicht Großbritannien und Frankreich. Die Deutschen nahmen den »Neuen Frieden« mit seiner Verheißung einer Ära der Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung anstelle des Absolutismus und des bürokratischen Apparates, begierig auf. Selbst General Ludendorff, der in den letzten Kriegsjahren der eigentliche Diktator Deutschlands war, anerkannte die Überlegenheit der Wilsonianischen demokratischen Ideologie gegenüber der preußischen bürokratischen Effizienz. Die Konservativen kämpften nicht – in der Tat hatten sie nichts, womit sie hätten kämpfen können.
2. Die Struktur der Weimarer Demokratie
Verfassungen, die an den großen Wendepunkten der Geschichte geschrieben werden, beinhalten immer Entscheidungen über die zukünftige Struktur der Gesellschaft. Zudem ist eine Verfassung mehr als ihr Gesetzestext; sie ist zugleich ein Mythos, der Loyalität gegenüber einem ewig gültigen Wertsystem verlangt. Um diese Erkenntnis zu gewinnen, brauchen wir nur charakteristische Verfassungen in der Geschichte der modernen Gesellschaft, wie z. B. die französischen Revolutionsverfassungen oder die Verfassung der Vereinigten Staaten, zu prüfen. Sie legten die organisatorischen Formen des politischen Lebens fest; zugleich definierten und regulierten sie die Ziele des Staates. Diese letztere Funktion konnte in der liberalen Ära leicht erfüllt werden. Die Freiheitsgarantien, ob sie nun Teil der Verfassung waren oder nicht, hatten lediglich Sicherheiten gegen Übergriffe der verfassungsmäßigen Gewalten vorzusehen; alles, was zum freien Fortbestand der Gesellschaft benötigt wurde, war der Schutz der Eigentums-, Handels- und Gewerbefreiheit, der Rede-, Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit.
Nicht so im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Verfassung von 1919 war eine Übernahme von Wilsons »Neuem Frieden«. Vor die Aufgabe gestellt, aus der Revolution von 1918 heraus einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft aufzubauen, versuchten die Verfassungsväter der Weimarer Republik jedoch, die Formulierung einer neuen Weltanschauung und eines neuen allumfassenden, allgemein anerkannten Wertsystems zu vermeiden.
Hugo Preuß, ein scharfsinniger demokratischer Verfassungsrechtler, der mit dem eigentlichen Entwurf der Verfassung betraut war, wollte so weit gehen, das Dokument auf einen bloßen Organisationsrahmen zu beschränken, fand aber keine Unterstützung. Unter dem Einfluß des Demokraten Friedrich Naumann entschieden sich die Architekten der Verfassung für den entgegengesetzten Kurs, nämlich für die umfassende Ausführung des demokratischen Wertsystems im zweiten Hauptteil der Verfassung, unter dem Titel »Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen«.
Eine bloße Übernahme der Grundsätze des politischen Liberalismus kam nicht in Frage. Die Revolution von 1918 war nicht das Werk der Liberalen, sondern der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften gewesen, wenngleich gegen den Willen und die Neigung ihrer Führung. Zwar war es gewiß keine sozialistische Revolution: das Privateigentum wurde nicht enteignet, der Großgrundbesitz nicht aufgeteilt und die Staatsmaschine nicht zerschlagen, die Bürokratie war nach wie vor an der Macht. Doch das Verlangen der Arbeiterklasse nach größerer Mitbestimmung über das Schicksal des Staates mußte befriedigt werden.
Vom Klassenkampf sollte es zur Zusammenarbeit der Klassen kommen – das war das Ziel der Verfassung. Tatsächlich ist so die Ideologie der katholischen Zentrumspartei zur Ideologie der Weimarer Republik und das Zentrum selbst, mit seinen aus den unterschiedlichsten Gruppen stammenden Mitgliedern – Arbeitern, Selbständigen, Beamten, Handwerkern, Industriellen und Agrariern – zum Prototyp der neuen politischen Struktur geworden. Das Wesen der Verfassung war der Kompromiß zwischen allen sozialen und politischen Gruppen. Mit Hilfe eines politischen Pluralismus, der sich hinter der Form der parlamentarischen Demokratie verbarg, sollten die antagonistischen Interessen harmonisiert werden. Vor allem sollte die imperialistische Expansion ein Ende haben. Das republikanische Deutschland würde seinen Produktionsapparat in einer international organisierten Arbeitsteilung zur vollen Nutzung bringen können.
Die pluralistische Doktrin war ein Protest gegen die Theorie und Praxis der Staatssouveränität. »Die Theorie des souveränen Staates hat versagt« und soll aufgegeben werden.17 Der Pluralismus begreift den Staat nicht als eine souveräne Größe außerhalb und über der Gesellschaft, sondern als eine unter vielen gesellschaftlichen Institutionen, die keine größere Autorität hat als Kirchen, Gewerkschaften, politische Parteien oder Berufs- und Wirtschaftsverbände.18 Die Theorie hatte ihren Ursprung in Otto von Gierkes Interpretation der deutschen Rechtsgeschichte, die sich in einer merkwürdigen Kombination mit dem reformistischen Syndikalismus (Proudhon) und den Soziallehren des Neothomismus vermischte. Gegen einen feindlichen souveränen Staat forderten die Gewerkschaften und Kirchen die Anerkennung ihres angeblich ursprünglichen und nicht übertragenen Rechts auf die Vertretung autonomer Bevölkerungsgruppen. »Wir betrachten den Staat nicht so sehr als einen Zusammenschluß von Individuen in ihrem gemeinschaftlichen Leben; wir betrachten ihn vielmehr als einen Zusammenschluß von Individuen, welche bereits in verschiedenen Gruppen zu einem weitergehenden und umfassenderen gemeinsamen Zweck vereinigt sind.«19
Dem pluralistischen Prinzip lag das Unbehagen des ohnmächtigen Individuums angesichts eines allzu mächtigen Staatsapparates zugrunde. In dem Maße, wie das Leben immer komplexer wird und die Zahl der vom Staat übernommenen Aufgaben wächst, verstärkt das isolierte Individuum seinen Protest dagegen, Mächten ausgeliefert zu sein, die es weder begreifen noch kontrollieren kann. So schließt es sich unabhängigen Organisationen an. Von der Übertragung entscheidender administrativer Aufgaben an diese privaten Körperschaften versprachen sich die Pluralisten zwei Resultate: die Kluft zwischen Staat und Individuum überbrükken sowie die demokratische Identität von Regierung und Regierten wirklich herstellen und zugleich, durch die Übertragung von Verwaltungsaufgaben an kompetente Organisationen, maximale Effizienz erreichen zu können.
Der Pluralismus ist also die Antwort des individualistischen Liberalismus auf den Staatsabsolutismus. Leider kann er seine selbstgestellten Aufgaben nicht erfüllen. Wenn der Staat erst einmal darauf reduziert ist, schlicht eine gesellschaftliche Institution unter anderen zu sein und somit seiner obersten Zwangsgewalt beraubt ist, dann wird nur ein Bündnis zwischen den in der Gesellschaft herrschenden unabhängigen sozialen Organisationen die konkrete Befriedigung der allgemeinen Interessen bewirken können. Damit derlei Vereinbarungen zustande kommen und eingehalten werden, muß es eine fundamentale Verständigungsbasis unter den beteiligten gesellschaftlichen Gruppen geben, kurz: die Gesellschaft muß grundsätzlich harmonisch sein. Wenn jedoch die Gesellschaft in Wirklichkeit antagonistisch ist, muß die pluralistische Doktrin früher oder später zusammenbrechen. Entweder wird eine gesellschaftliche Gruppe die souveräne Macht an sich reißen, oder es wird, falls die verschiedenen Gruppen sich gegenseitig paralysieren und neutralisieren, die Staatsbürokratie allmächtig werden – und zwar mehr als je zuvor; denn um sich gegen starke gesellschaftliche Gruppen durchzusetzen, bedarf sie weit stärkerer Zwangsmittel als sie zur Kontrolle der isolierten, unorganisierten Individuen früher benötigte.
Das Bündnis als die grundlegende Bedingung des Pluralismus muß im wörtlichen Sinne verstanden werden. Die Weimarer Demokratie verdankte ihre Existenz einer ganzen Reihe von Verträgen zwischen Gruppen, von denen jeder wichtige Entscheidungen über die Struktur und Politik des Staates festlegte:
1. Am 10. November 1918 gingen Feldmarschall von Hindenburg, der die Oberaufsicht bei der Demobilmachung des Heeres hatte, und Fritz Ebert, der damalige Führer der Sozialdemokratischen Partei und spätere erste Präsident der Republik, ein Bündnis ein, dessen allgemeiner Inhalt erst einige Jahre danach enthüllt wurde. Ebert soll im Anschluß daran gesagt haben: »Wir haben uns verbündet zum Kampfe gegen den Bolschewismus. An eine Wiedereinführung der Monarchie war nicht zu denken. Unser Ziel am 10. November war die Einführung einer geordneten Regierungsgewalt, die Stützung dieser Gewalt durch Truppenmacht und die Nationalversammlung so bald wie möglich. Ich habe dem Feldmarschall zuerst den Rat gegeben, nicht mit der Waffe die Revolution zu bekämpfen … Ich habe ihm vorgeschlagen, die OHL möge sich mit der MSP verbünden, da es zur Zeit keine Partei gebe ..., um eine Regierungsgewalt mit der OHL wieder herzustellen. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden.«20 Obwohl diese Absprache ohne das Wissen von Eberts Partei oder selbst seiner engsten Mitarbeiter zustandekam, stand sie im vollen Einklang mit der Politik der SPD. Sie enthielt zwei Punkte: einen negativen, den Kampf gegen den Bolschewismus, und einen positiven, die frühzeitige Einberufung einer Nationalversammlung.
2. In der Hindenburg-Ebert-Vereinbarung wurde nichts über die Sozialstruktur der neuen Demokratie ausgesagt. Das war der Inhalt des Stinnes-Legien-Abkommens vom 15. November 1918, dessen Ergebnis die Errichtung der sogenannten Zentralarbeitsgemeinschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern war. Stinnes, als Vertreter der Unternehmer, und Legien, der Führer der sozialistischen Gewerkschaften, einigten sich über folgende Punkte: Die Unternehmer werden künftig die »gelben Werkvereine« nicht mehr unterstützen und nur unabhängige Gewerkschaften anerkennen. Sie akzeptieren den kollektiven Arbeitsvertrag als Mittel zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen und versprechen die generelle Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Es dürfte kaum ein eindeutigeres pluralistisches Dokument gegeben haben als dieses Übereinkommen zwischen privaten Gruppen, das als zukünftige Struktur der deutschen Arbeitsverhältnisse ein von autonomen Gruppen errichtetes und kontrolliertes kollektivistisches System etablierte.
3. Die Vereinbarung vom 22. und 23. März 1919 zwischen der Regierung, der Sozialdemokratischen Partei und anderen führenden Parteirepräsentanten enthielt die folgende Bestimmung:
»Zur Mitwirkung an Sozialisierungsmaßnahmen, zur Kontrolle sozialistischer Betriebe, zur Überwachung der Gütererzeugung und Verteilung im gesamten Wirtschaftsleben sind gesetzlich geordnete Arbeitervertretungen zu schaffen. In dem zu diesem Zweck schleunigst zu schaffenden Gesetz sind Bestimmungen zu treffen über die Wahl und Aufgaben von Betriebs-, Arbeiter- und Angestelltenräten, die bei der Regelung der allgemeinen Arbeitsverhältnisse gleichberechtigt mitzuwirken haben. Es sind weiter Bezirksarbeiterräte und ein Reichsarbeiterrat vorzusehen, die vor dem Erlaß wirtschaftlicher und sozialpolitischer Gesetze ebenso wie die Vertretungen aller übrigen schaffenden Stände gutachtlich zu hören sind und selbst Anträge auf Erlaß solcher Gesetze stellen können. Die entsprechenden Bestimmungen sind in der Verfassung der deutschen Republik festzulegen.«
Im Artikel 165 der Weimarer Verfassung sind dann zwar die Bestimmungen dieses gemeinsamen Beschlusses aufgenommen worden, aber mit Ausnahme des Gesetzes von 1920, das die Errichtung von Arbeiterräten anordnete21, wurde nichts zur Erfüllung des Versprechens getan.
4. Das Verhältnis zwischen dem Reich und den einzelnen Ländern wurde in einer Vereinbarung vom 26. Januar 1919 festgelegt. Der Traum vom deutschen Einheitsstaat wurde ebenso wie Hugo Preuß’ Forderung verworfen, Preußen als ersten Schritt zur Einheit Deutschlands aufzugliedern. Das föderative Prinzip wurde, wenn auch in abgeschwächter Form, wieder zum Bestandteil der Verfassung erhoben.
5. Endlich wurden sämtliche früheren Vereinbarungen in eine Übereinkunft der Parteien der Weimarer Koalition eingebettet: der Sozialdemokratischen Partei, des katholischen Zentrums und der Demokraten. Diese Übereinkunft enthielt den gemeinsamen Beschluß, so bald wie möglich eine Nationalversammlung einzuberufen, den bestehenden Status der Bürokratie und der Kirchen anzuerkennen, die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern und die Macht unter den verschiedenen Schichten des deutschen Volkes zu teilen, so wie es später im den Grundrechten und -pflichten des deutschen Volkes gewidmeten Verfassungsteil geschah.
Als die Verfassung schließlich angenommen wurde, war sie mithin in erster Linie eine Kodifikation von bereits vorab getroffenen Vereinbarungen verschiedener soziopolitischer Gruppen, von denen jede für sich in gewissem Umfang die Anerkennung ihrer Sonderinteressen gefordert und erreicht hatte.
3. Die sozialen Kräfte
Die Hauptstützen des pluralistischen Systems waren die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften. Sie allein hätten im Deutschland der Nachkriegszeit die großen Massen des Volkes auf die Seite der Demokratie bringen können, und zwar nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Mittelschichten, den Teil der Bevölkerung, der am meisten unter dem Monopolisierungsprozeß zu leiden hatte.
Die übrigen Schichten reagierten auf die verwickelte Nachkriegslage und nachrevolutionäre Situation genau so, wie zu erwarten war. Die Großgrundbesitzer verfolgten auf allen Gebieten eine reaktionäre Politik. Die monopolistische Industrie haßte und bekämpfte die Gewerkschaften und das politische System, das den Gewerkschaften ihren Rang verliehen hatte. Die Armee nahm jedes verfügbare Mittel zur Stärkung des chauvinistischen Nationalismus wahr, um ihre einstige Größe wiederherzustellen. Die Justiz schlug sich nach wie vor auf die Seite der Rechten, und das Beamtentum unterstützte konterrevolutionäre Bewegungen. Dagegen war die Sozialdemokratie außerstande, die gesamte Arbeiterklasse oder die Mittelschichten zu organisieren; Teile der Arbeiterklasse fielen von ihr ab, und im Mittelstand konnte sie nie richtig Fuß fassen. Den Sozialdemokraten fehlte eine fähige Führung, eine konsistente Theorie und die nötige Handlungsfreiheit. Ohne daß es ihnen bewußt war, stärkten sie die monopolistischen Tendenzen in der deutschen Industrie. Und da sie volles Vertrauen in ein formalistisches Legalitätsprinzip setzten, waren sie unfähig, die reaktionären Elemente in Justiz und Beamtentum auszuschalten oder die Armee auf die ihr verfassungsmäßig zustehende Rolle zu beschränken.
Der starke Mann der SPD, Otto Braun, preußischer Ministerpräsident bis zum 20. Juni 1932, als er durch den Hindenburg-Papen-Staatsstreich seines Amtes enthoben wurde, schreibt das Versagen seiner Partei und die erfolgreiche Machtergreifung Hitlers einer Kombination aus Versailles und Moskau zu.22 Diese Verteidigung ist weder richtig noch besonders geschickt. Natürlich lieferte der Versailler Vertrag ausgezeichnetes Propagandamaterial gegen die Demokratie im allgemeinen und die Sozialdemokratische Partei im besonderen, und zweifellos gelangen der Kommunistischen Partei Einbrüche bei Sozialdemokraten. Aber primär verantwortlich für den Untergang der Republik war keines von beidem. Wären indessen Versailles und Moskau tatsächlich die zwei hauptverantwortlichen Faktoren für das Entstehen des Nationalsozialismus gewesen, hätte dann nicht die Aufgabe einer großen demokratischen Führung gerade darin bestanden, für das Funktionieren der Demokratie trotz und gegen Moskau und Versailles zu sorgen? Ungeachtet aller offiziellen Erklärungen bleibt es die entscheidende Tatsache, daß die Sozialdemokratische Partei versagte. Sie versagte, weil sie nicht sah, daß das zentrale Problem der Imperialismus des deutschen Monopolkapitals war, welches sich mit dem ständig zunehmenden Monopolisierungsprozeß immer dringlicher stellte. Je mehr die Monopole wuchsen, desto weniger ließen sie sich mit der politischen Demokratie vereinbaren.
Eines der vielen großen Verdienste von Thorstein Veblen war es, daß er auf diese spezifischen Merkmale des deutschen Imperialismus aufmerksam machte, die sich aus seiner Position als eines Spätlings beim Kampf um den Weltmarkt ergaben.
»Die deutschen Industriekapitäne, die in der neuen Ära die unumschränkte Führung übernehmen sollten, waren in der durchaus glücklichen Lage, sich nicht von der Lehranstalt einer auf Kleinhandel beruhenden Landstadt in die Fakultät für Bodenspekulation und politische Schiebereien immatrikulieren zu müssen … Sie kamen in die Ausleseprüfung der Tauglichkeit zur aggressiven Führung von Industrieunternehmen … Da das Land zugleich im großen und ganzen … nicht auf altertümliche Standorte und Transportwege für seine Industriebetriebe angewiesen war, stand es den Männern, die Umsicht walten ließen, frei, ihren Sitz einzig und allein unter dem Gesichtspunkt seiner Zweckmäßigkeit für die Mechanisierung auszuwählen … Da sie außerdem keine veraltete Betriebsausrüstung und keine unzeitgemäßen Handelsverbindungen hatten, die die Sache getrübt hätten, stand es ihnen auch frei, die Produktion auf ihrem besten und höchsten Leistungsstand aufzunehmen.«23
Das leistungsfähige und machtvoll organisierte deutsche Wirtschaftssystem von heute wurde unter dem Anreiz einer ganzen Reihe von Faktoren geboren, die durch den Ersten Weltkrieg in den Vordergrund traten. Die Inflation am Anfang der 20er Jahre gab skrupellosen Unternehmern die Möglichkeit, auf Kosten des Mittelstandes und der Arbeiterklasse riesige Wirtschaftsimperien aufzubauen. Das Musterbeispiel war der Stinnes-Konzern, und es ist zumindest ein Symbol, daß Hugo Stinnes der eingefleischteste Gegner der Demokratie und der Rathenauschen Außenpolitik war. Die Auslandsanleihen, die nach 1924 nach Deutschland flossen, verschafften der deutschen Industrie das zur Rationalisierung und Erweiterung ihrer Betriebe nötige flüssige Kapital. Selbst das umfassende Sozialfürsorgeprogramm, das die Sozialdemokratie vorantrieb, verstärkte indirekt die Zentralisation und Konzentration der Industrie, da die Großunternehmen die Lasten viel leichter übernehmen konnten als der kleine oder mittlere Unternehmer. Trusts, Konzerne und Kartelle überzogen die gesamte Wirtschaft mit einem Netzwerk autoritärer Organisationen. Unternehmerverbände kontrollierten den Arbeitsmarkt, und Lobbies der Großunternehmer setzten alles daran, den Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizapparat in den Dienst des Monopolkapitals zu stellen.
In Deutschland gab es nie so etwas wie die volkstümliche Antimonopolbewegung in den USA unter Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson. Industrie und Finanz waren natürlich fest davon überzeugt, daß das Kartell und der Trust die höchsten Formen der Wirtschaftsorganisation darstellen. Der unabhängige Mittelstand brachte seine Opposition – außer gegen große Kaufhäuser und Kettenläden – nicht klar zum Ausdruck. Wenn auch die Mittelschicht mächtigen Interessengruppen wie dem Reichsverband der Deutschen Industrie24 angehörte, so waren ihre Sprecher doch ausnahmslos führende Vertreter der Großindustrie.
Die Arbeiterschaft war keineswegs ein Gegner der fortschreitenden Trustbildung. Die Kommunisten betrachteten das Monopol als ein unvermeidliches Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus und hielten es daher für sinnlos, die Kapitalkonzentration statt des Systems selbst zu bekämpfen. Daß die Politik des reformistischen Flügels der Arbeiterbewegung in der Tat nicht wesentlich anders aussah25, entbehrt nicht der Ironie. Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften betrachteten die Konzentration ebenfalls als unvermeidlich, ja darüber hinaus als eine höhere Form der kapitalistischen Organisation. Ihr führender Theoretiker, Rudolf Hilferding, faßte den Standpunkt auf dem Parteitag der Sozialdemokraten 1927 zusammen:
»Organisierter Kapitalismus bedeutet … den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion … Das heißt nichts anderes, als daß unserer Generation das Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates … diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln.«26 Unter Wirtschaftsdemokratie verstand die SPD eine stärkere Beteiligung an der Kontrolle der monopolistischen Organisationen und besseren Schutz der Arbeiter vor den negativen Auswirkungen der Konzentration.
Die größten Trusts der deutschen Geschichte wurden in der Zeit der Weimarer Republik gebildet. Das Ergebnis der Fusion von vier großen Stahlgesellschaften im Westen Deutschlands im Jahre 1926 war die Bildung der »Vereinigten Stahlwerke«. Die »Vereinigten Oberschlesischen Hüttenwerke« waren ein ähnlicher Zusammenschluß der oberschlesischen Stahlindustrie. Die »IG Farbenindustrie« entstand 1925 durch Fusion der sechs größten Konzerne auf diesem Sektor, die zuvor alle in einem Kartell zusammengeschlossen waren. 1930 betrug das Aktienkapital der IG Farbenindustrie insgesamt 1,1 Mrd. Mark, die Zahl ihrer beschäftigten Arbeiter stieg auf 100 000 an.
Zu keiner Zeit der Republik (nicht einmal während des Booms im Jahre 1929) wurden die Produktionskapazitäten der deutschen Industrie voll oder nur ausreichend ausgeschöpft.27 Am schlimmsten stand es in der Schwerindustrie, besonders bei Kohle und Stahl, also gerade in den Bereichen, die während des Kaiserreichs die industrielle Führung gestellt hatten und immer noch die entscheidenden Wirtschaftsorganisationen beherrschten. Mit der Weltwirtschaftskrise nahm die Kluft zwischen der tatsächlichen Produktion und der Kapazität derart gefährliche Ausmaße an, daß staatliche Hilfe zwingend notwendig wurde. Neben Subventionen in Form von direkten Schenkungen, Krediten und niedrigen Zinssätzen nahm man zu Kartellen und Zöllen Zuflucht.28 Diese Maßnahmen halfen, verstärkten aber zugleich eine andere Gefahr. Schließlich war der Rahmen der deutschen Regierung immer noch eine parlamentarische Demokratie; was aber würde geschehen, wenn in den Massenorganisationen Bewegungen entstünden, die die herrschende monopolistische Struktur bedrohten? Schon vor einiger Zeit, im November 1923, hatte öffentlicher Druck das Kabinett Stresemann gezwungen, eine Kartellverordnung zu erlassen, die die Regierung autorisierte, Kartelle aufzulösen und gegen Monopolstellungen generell vorzugehen29. Zwar wurde von diesen Befugnissen nicht ein einziges Mal Gebrauch gemacht, aber die in der politischen Demokratie enthaltene Gefahr für Privilegien blieb bestehen und wurde in Zeiten einer großen Krise offensichtlich akuter.
4. Der Niedergang der organisierten Arbeiterbewegung
Der gesamte Prozeß der Rationalisierung, Konzentration und Bürokratisierung hatte schwerwiegende Folgen für die Sozialstruktur. Eine der bedeutsamsten Auswirkungen war sicherlich die ernsthafte Schwächung der Macht der Gewerkschaften, die am besten am Rückgang der Streiks abzulesen ist. Die Waffe des Streiks besaß ihre größte Wirksamkeit in der Periode des verhältnismäßig freien Wettbewerbs, denn die Widerstandskraft eines einzelnen Unternehmers ist relativ gering. Der erfolgreiche Streik wird in dem Maße schwieriger, wie sich Monopole entwickeln und die Stärke der Unternehmerorganisationen wächst, und dies um so mehr, wenn die Monopole das Ausmaß internationaler Kartelle annehmen, wie das in der Stahlindustrie der Fall war. Selbst der völlige Stillstand der Produktion auf nationaler Ebene kann vom Kartell ausgeglichen werden. Dies sind allgemein gültige Regeln.
Der Weimarer Pluralismus ließ in Deutschland weitere Faktoren hinzutreten. Zunehmende Staatseingriffe in Wirtschaftsunternehmen gaben Arbeitskämpfen den Makel von Streiks gegen den Staat, während die Mittlertätigkeit der Regierung vielen Arbeitern zugleich die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als unnötig erscheinen ließ. Die Gewerkschaften ihrerseits waren nicht darauf erpicht, einen Staat zu bekämpfen, an dem sie ein so starkes Interesse hatten. Vor allem bewirkte das Monopol große – und für die Gewerkschaften nachteilige – Veränderungen in der sozialen Schichtung. Der steigende Prozentsatz ungelernter und angelernter Arbeiter (und besonders der arbeitenden Frauen), die ständig größer werdende Zahl von Vorarbeitern und Aufsichtspersonal, die zahlenmäßige Zunahme der Gehaltsempfänger in Bürostellungen und im wachsenden Distributionsapparat, von denen viele in nichtsozialistischen Gewerkschaften mit Mittelstandsideologie organisiert waren30 – all diese Faktoren schwächten die Gewerkschaftsbewegung. Die große Wirtschaftskrise verschlimmerte die Lage noch; einmal wegen des gewaltigen Produktionsrückgangs und der Erzeugung großer Arbeitslosenmassen, und zweitens deshalb, weil die damit verbundenen politischen Spannungen jedem Streik die Tendenz zum politischen Streik gaben31, welchen die Gewerkschaften aufgrund ihrer revisionistischen und wirtschaftsdemokratischen Theorien strikt ablehnten.
Die enge Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite führte zu einem stetigen Bürokratisierungsprozeß innerhalb der Arbeiterbewegung. Diese Entwicklung und die fast ausschließliche Konzentration auf Sozialreformen machte die Sozialdemokratische Partei für die jüngere Generation gänzlich unattraktiv. Die Zusammensetzung der Parteimitglieder nach Dauer der Mitgliedschaft und Altersgruppen ist sehr aufschlußreich:
Dauer der Mitgliedschaft | Prozent | Altersgruppe | Prozent |
5 Jahre u. weniger | 46,56 | 25 Jahre u. jünger | 7,82 |
6 bis 10 Jahre | 16,26 | 26 bis 30 Jahre | 10,34 |
11 bis 15 Jahre | 16,52 | 31 bis 40 Jahre | 26,47 |
16 Jahre und mehr | 20,66 | 41 bis 50 Jahre | 27,26 |
100,00 | 51 bis 60 Jahre | 19,57 | |
61 Jahre od. älter | 8,54 | ||
100,00 32 |
Das wenige, was der Sozialdemokratie an Handlungsfreiheit blieb, wurde von der Kommunistischen Partei noch weiter eingeschränkt. Außer in den Tagen der Revolution von 1918 und 1919 und in den Sturmzeiten von Inflation und ausländischer Besetzung, die im Juli 1923 ihren Höhepunkt erreichten, war die KPD keine unmittelbar entscheidende politische Kraft. Das eine Mal wollte sie eine kleine Sekte von Berufsrevolutionären nach dem Vorbild der Bolschewiki von 1917 sein, das andere Mal eine »revolutionäre Massenorganisation«, eine Art Synthese zwischen dem frühen russischen Modell und einer Struktur gleich der SPD. Ihre eigentliche Bedeutung lag in der Tatsache, daß sie einen ganz erheblichen indirekten Einfluß ausübte. Ein gründliches Studium der Kommunistischen Partei würde vermutlich mehr über die Eigenschaften der deutschen Arbeiterklasse und bestimmter Teile der Intelligenz zutage fördern als eine Untersuchung der größeren Sozialistischen Partei und der Gewerkschaften.
Beide, Kommunisten wie Sozialisten, sprachen primär dieselbe soziale Schicht an: die Arbeiterklasse. Die bloße Existenz einer überwiegend proletarischen Partei, die sich dem Kommunismus und der Diktatur des Proletariats verschrieben hatte und von dem magischen Bild Sowjetrußlands sowie den Heldentaten der Oktoberrevolution beflügelt wurde, war eine permanente Bedrohung für die Sozialdemokratische Partei und die führenden Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung, zumal in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und sozialer Unruhen. Daß diese Bedrohung eine reale war, obwohl nie in gleichbleibender Stärke, geht klar aus den Wahlergebnissen und Mitgliederzahlen hervor. Zwar gelang es den Kommunisten nicht, eine Mehrheit der Arbeiterklasse zu organisieren, die Sozialistische Partei zu zerschlagen oder die Kontrolle der Gewerkschaften an sich zu reißen. Der Grund dafür lag in ihrem Unvermögen, die unter den deutschen Arbeitern wirkenden psychologischen Faktoren und soziologischen Trends richtig einzuschätzen, so gut wie in ihrer Unfähigkeit, die materiellen Interessen und ideologischen Bande zu zerreißen, welche die Arbeiter an das vom Reformismus entwickelte System der pluralistischen Demokratie ketteten. Dennoch schwankte die reformistische Politik schon allein wegen der Drohung, die Arbeiter könnten den reformistischen Organisationen den Rücken kehren und zur Kommunistischen Partei überlaufen, ständig hin und her. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür bietet die zögernde Duldung des Kabinetts Brüning (1930–1932) durch die Sozialdemokratische Partei, verglichen mit ihrer unmißverständlichen Opposition gegenüber den Kabinetten Papen und Schleicher (1932). Die Kommunistische Partei hatte alle drei als faschistische Diktaturen angegriffen.
Die Reaktionäre fanden in der Kommunistischen Partei einen bequemen Prügelknaben nicht allein für den Kampf gegen Kommunisten und Marxisten, sondern gegen alle liberalen und demokratischen Gruppen. Für die Nationalsozialisten (und die italienischen Faschisten) waren Demokratie, Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus allesamt Äste ein und desselben Baumes. Jedes Gesetz, das angeblich gegen Kommunisten und Nationalsozialisten gerichtet war, wurde stets gegen die Sozialistische Partei und die gesamte Linke, aber selten gegen die Rechte angewendet.
Die Politik der Kommunistischen Partei selbst war auffallend ambivalent. Einerseits vermittelte sie den Arbeitern genügend kritische Einsichten, um die Funktionsweise des Wirtschaftssystems zu durchschauen und ließ ihnen damit wenig Glauben an die Sicherheit, die Liberalismus, Demokratie und Reformismus verhießen. Sie öffnete ihnen recht früh die Augen über den vorübergehenden und vollkommen fiktiven Charakter des nachinflationären Wirtschaftsaufschwungs. Der fünfte Weltkongreß der Komintern hatte am 9. Juni 1924 erklärt, der Kapitalismus sei in einem Stadium der akuten Krise. Obwohl diese Analyse verfrüht und die daraus folgende »linke« Taktik der KP vollkommen irrig war, beugte sie doch der Selbstzufriedenheit, die sich unter den Sozialisten breitmachte, vor. Diese sahen in dem mit Auslandsanleihen finanzierten Boom die Lösung aller Wirtschaftsprobleme und hielten jeden sozialdemokratischen Bürgermeister oder Stadtkämmerer für ein Finanzgenie ersten Ranges, wenn es ihm gelang, von den USA einen Kredit zu bekommen. Selbst auf dem absoluten Höhepunkt des Booms prophezeiten die kommunistischen Führer, daß der Welt eine schwere Wirtschaftskrise bevorstehe, und so war ihre Partei gegen die Gefahren des reformistischen Optimismus gefeit.
Andererseits wurden die verdienstvollen Seiten der kommunistischen Analyse durch den zutiefst rückständigen Charakter ihrer Politik und Taktik mehr als aufgewogen: der Verbreitung des Führerprinzips innerhalb der Partei und Zerstörung der innerparteilichen Demokratie als einer Folge der völligen Abhängigkeit von der Politik der sowjetischen KP, dem starken Übergewicht der »revolutionären« Gewerkschaftstaktik, der »national-bolschewistischen Linie«, der Lehre vom Sozialfaschismus, der Parole der Volksrevolution und schließlich dem häufigen Wechsel der Parteilinie.
Der einzige andere potentielle Verbündete, die katholische Zentrumspartei, erwies sich als vollkommen unzuverlässig. Unter Erzberger und eine gewisse Zeit unter Josef Wirth hatte das Zentrum die mitreißendste demokratische Führung gestellt, die die Republik je erlebte. Mit dem Wachstum der Reaktion gewann indes der rechte Flügel mehr und mehr das Übergewicht in der Partei, wobei Brüning der Vertreter der gemäßigten Konservativen und Papen der Sprecher des reaktionären Teils war. Von den übrigen Parteien verschwand die Demokratische Partei von der politischen Bühne, und zahlreiche Splittergruppen versuchten, ihren Platz als Sprachrohr des Mittelstandes einzunehmen. Hausbesitzer, Handwerker, kleine Bauern bildeten ihre eigenen Parteien; »Aufwertungsanhänger« organisierten eine eigene politische Bewegung. Sie alle konnten eine gewisse politische Repräsentation erlangen, weil das System der Verhältniswahl jeder Sektiererbewegung eine Stimme zugestand und das Zustandekommen solider Mehrheiten verhinderte.
5. Die Konterrevolution
Schon an dem selben Tag des Jahres 1918, da die Revolution ausbrach, begann sich die konterrevolutionäre Partei zu organisieren. Sie versuchte sich in vielerlei Formen und mit zahlreichen Mitteln, lernte aber bald, daß sie nur mit Hilfe, niemals aber gegen den Staatsapparat zur Macht kommen konnte. Der Kapp-Putsch von 1920 und der Hitler-Putsch von 1923 hatten dies erwiesen.
Im Zentrum der Konterrevolution stand die Justiz. Anders als Verwaltungsakte, die sich aus Erwägungen der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit ergeben, beruhen richterliche Entscheidungen auf dem Gesetz, das heißt auf Recht und Unrecht. Stets stehen sie im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Gerade wegen des Glorienscheins, der die Begriffe ›Recht‹ und ›Gerechtigkeit‹ umgibt, ist das Gesetz wohl die verderblichste aller Waffen im politischen Kampf. »Das Recht«, sagte Hocking, »ist in psychologischer Hinsicht ein Wert, dessen Mißachtung mit tieferem Abscheu begegnet wird als das Unrecht selbst es rechtfertigen würde, ein Abscheu, der sich bis zur Leidenschaft steigern kann, für die die Menschen Leben und Eigentum wie für keinen anderen Zweck riskieren«.33 Wenn sie ›politisch‹ wird, erzeugt die ›Gerechtigkeit‹ Haß und Verzweiflung bei denen, die sie treffen will. Auf der anderen Seite entwickeln jene, die von ihr begünstigt werden, eine tiefe Verachtung für den Wert der Gerechtigkeit selbst, denn sie wissen, daß sie für die Mächtigen käuflich ist. Als Mittel, eine politische Gruppe auf Kosten einer anderen zu stärken, den Gegner auszuschalten und den politischen Verbündeten zu stützen, bedroht das Gesetz sodann die fundamentalen Überzeugungen, auf denen die Tradition unserer Zivilisation ruht.
In jedem Gesetzessystem finden sich vielfältige technische Möglichkeiten, das Recht zu politischen Zwecken zu pervertieren. Im republikanischen Deutschland waren sie genau so zahlreich wie die Paragraphen des Strafgesetzbuches.34 Vielleicht lag das hauptsächlich am Charakter des Strafprozesses selbst, denn im Unterschied zum amerikanischen System ist die dominierende Gestalt im deutschen Verfahren nicht der Anwalt, sondern der vorsitzende Richter. Die Macht des Richters wurde zudem Jahr für Jahr gestärkt. In politischen Fällen wurden jene Gesetzesbestimmungen bevorzugt, die strafwürdige Beleidigungen und Spionage bestrafen – das sogenannte Gesetz zum Schutze der Republik und vor allem die Hochverratsparagraphen (80 und 81) des Strafgesetzbuches. Eine vergleichende Analyse dreier causes célèbres wird hinreichend klarstellen, daß die Weimarer Strafgerichtshöfe ein untrennbarer Bestandteil des anti-demokratischen Lagers waren.
Nach dem Zusammenbruch der bayerischen Räterepublik im Jahre 1919 fällten die Gerichte die folgenden Urteile:
407 Personen: Festung
1737 Personen: Gefängnis
65 Personen: Zuchthaus
Jeder Anhänger der Räterepublik, der auch nur im entferntesten mit dem erfolglosen Coup zu tun hatte, wurde abgeurteilt.
Der Gegensatz zur strafgerichtlichen Behandlung des rechtsgerichteten Kapp-Putsches von 1920 hätte nicht vollkommener sein können. 15 Monate nach dem Putsch, am 21. Mai 1921, teilte das Reichsjustizministerium amtlich mit, daß insgesamt in 705 Fällen wegen Hochverrats ermittelt worden war. Davon fielen
412 nach Ansicht der Gerichte unter das Amnestiegesetz vom 4. August 1920, obwohl die Anführer des Putsches von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausdrücklich ausgenommen waren; außerdem waren
108 durch Tod und andere Gründe hinfällig geworden, wurde in
174 Fällen das Verfahren eingestellt, während
11 noch nicht abgeschlossen waren.
Nicht eine einzige Person war bestraft worden. Dabei ist das Bild, das die Statistik zeigt, noch gar nicht vollständig. Von den elf Verfahren, die am 21. Mai 1921 noch schwebten, endete nur eines mit einem Urteil: der frühere Polizeipräsident von Jagow aus Berlin bekam fünf Jahre Ehrenhaft. Als der preußische Staat Jagow die Pension aberkannte, sprach das Oberste Reichsgericht sie ihm wieder zu. Der führende Kopf des Putsches, Dr. Kapp, starb vor Beginn des Verfahrens. Von den übrigen Anführern waren mehrere, wie der General von Lüttwitz und die Majore Papst und Bischoff, geflüchtet; General Ludendorff wurde nicht strafrechtlich verfolgt, weil das Gericht sich dafür entschied, seine Ausrede, er sei nur zufällig dabeigewesen, anzuerkennen; bei General von Lettow-Forbeck, der eine ganze Stadt für Kapp besetzt hatte, wurde erklärt, daß er kein Anführer, sondern lediglich ein Mitläufer gewesen sei.
Das dritte signifikante Beispiel ist die gerichtliche Behandlung des fehlgeschlagenen Hitler-Putsches von 1923 in München.35 Hitler, Pöhner, Kriebel und Weber wurden zu fünf Jahren, Röhm, Frick, Brückner, Pernet und Wagner zu einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Ludendorff war wieder einmal rein zufällig dabei gewesen und wurde freigesprochen. Obwohl Absatz 9 des Gesetzes zum Schutze der Republik klar und unmißverständlich die Ausweisung jedes des Hochverrats überführten Ausländers bestimmte, setzte der Münchener Volksgerichtshof Hitler mit dem Scheinargument auf freien Fuß, daß er sich trotz seiner österreichischen Staatsbürgerschaft als Deutscher fühle.
Es wäre müßig, die Geschichte der politischen Justiz der Weimarer Republik im Detail zu erzählen. Einige wenige weitere Beispiele mögen genügen. Das Strafgesetzbuch schuf das Verbrechen des »Landesverrats«, um damit den Verrat militärischer oder anderer Geheimnisse an ausländische Agenten zu ahnden. Die Gerichte fanden jedoch prompt eine spezielle politische Verwendung für diese Bestimmung. Nachdem der Versailler Vertrag Deutschland zur Entwaffnung gezwungen hatte, förderte die Reichswehr die Bildung geheimer und illegaler Wehrverbände, der sogenannten Schwarzen Reichswehr. Wenn Liberale, Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten diese Verletzung der internationalen Verpflichtungen wie des deutschen Rechtes (denn der Vertrag war Teil des deutschen Rechtssystems geworden) brandmarkten, wurden sie verhaftet und wegen durch die Presse begangenen Landesverrats angeklagt. Auf diese Weise schützten die Gerichte die illegale und reaktionäre Schwarze Reichswehr. Andererseits wurden von der Schwarzen Reichswehr an angeblichen Verrätern in ihren eigenen Reihen verübte Morde (die berüchtigten Fememorde) entweder überhaupt nicht gesühnt oder mit geringfügigen Strafen geahndet.36
In den Prozessen gegen Nationalsozialisten wurden die Gerichte ausnahmslos zum Resonanzboden für deren Propaganda. Als Hitler bei einem Prozeß gegen eine Gruppe wegen Hochverrats angeklagter nationalsozialistischer Offiziere als Zeuge auftrat, gestattete man ihm, eine zweistündige Brandrede zu halten, die mit Beschimpfungen hoher Regierungsbeamter und Drohungen gegen seine Feinde vollgepackt war, ohne daß er wegen Mißachtung des Gerichts verhaftet worden wäre. Die neuen Techniken der Rechtfertigung und Propagierung des Nationalsozialismus gegen die Weimarer Republik wurden als geeignete Schritte, die kommunistische Gefahr abzuwenden, verteidigt. Der Nationalsozialismus ist ein Hüter der Demokratie, so tönte es, und die Gerichte waren nur zu gern bereit, die oberste Maxime jeder Demokratie und jedes Staates zu vergessen, daß die Zwangsgewalt ein durch seine Armee und Polizei ausgeübtes Monopol des Staates sein muß, und daß eine Gruppe von Privatpersonen oder ein einzelner nicht einmal unter dem Vorwand, den Staat retten zu wollen, zu seiner Verteidigung zur Waffe greifen darf, es sei denn, die souveräne Macht hätte dazu aufgerufen oder ein wirklicher Bürgerkrieg wäre ausgebrochen.
1932 deckte die Polizei eine nationalsozialistische Verschwörung in Hessen auf. Ein gewisser Dr. Best, später ein hoher Beamter des Regimes, hatte einen sorgfältigen Plan für einen coup d’état ausgearbeitet, und schriftliche Beweise dafür lagen vor (die Boxheimer Dokumente).37 Nichts wurde unternommen. Man glaubte Dr. Best, als er erklärte, daß er nur im Falle einer kommunistischen Revolution von seinem Plan Gebrauch machen wollte.
Es ist unmöglich, die Schlußfolgerung zu umgehen, daß die politische Justiz das schwärzeste Kapitel im Leben der deutschen Republik darstellt. Die Reaktion machte mit stetig zunehmender Intensität von der Waffe der ›Rechtsprechung‹ Gebrauch. Darüber hinaus erstreckt sich diese Anklage auf die gesamte Tätigkeit der Justiz, und ganz besonders auf den Wandel im Rechtsdenken und der Position des Richters, der in dem neuen Grundsatz des richterlichen Prüfungsrechts der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen gipfelte, eines Mittels zur Sabotierung sozialer Reformen. Die Macht der Richter wuchs hierbei auf Kosten des Parlaments38.
Der Niedergang der Parlamente stellt eine allgemeine Tendenz im Europa der Nachkriegszeit dar. In Deutschland wurde sie aufgrund spezifisch deutscher Verhältnisse, vor allem der monarchistisch-nationalistischen Tradition der Bürokratie, verschärft. Jahre zuvor hatte Max Weber darauf hingewiesen, daß die Sabotage der Macht des Parlaments dann beginnt, wenn dieses Organ aufhört, ein bloßer Honoratioren-Klub zu sein.39 Wenn Abgeordnete einer progressiven Massenpartei gewählt werden und die Gefahr besteht, daß sie die Legislative zu einer Institution für tiefgreifende soziale Veränderungen verwandeln, dann entstehen unweigerlich antiparlamentarische Tendenzen in der einen oder anderen Form. Die Kabinettsbildung wird zu einer überaus schwierigen und heiklen Angelegenheit, denn nun repräsentiert jede Partei eine Klasse, deren Interessen und Anschauungen sich von den anderen stark unterscheiden. So zogen sich zum Beispiel die Verhandlungen zwischen der Sozialdemokratischen Partei, dem katholischen Zentrum, den Demokraten und der Deutschen Volkspartei über vier Wochen hin, ehe die letzte voll verfassungsmäßige Regierung, das Kabinett Müller, im Mai 1928 gebildet werden konnte. Die politischen Differenzen zwischen der Deutschen Volkspartei als Repräsentantin des Unternehmertums und der die Arbeiter repräsentierenden Sozialdemokratischen Partei waren so tiefgehend, daß nur ein sorgsam ausgehandelter Kompromiß sie überhaupt zusammenbringen konnte, während das katholische Zentrum wegen seiner Unzufriedenheit über die ungenügende Ämterpatronage stets im Streit mit den anderen lag.
Ein dermaßen brüchiges Gebilde konnte die Störung seines empfindlichen Gleichgewichts nicht allzu leicht gestatten, und wann immer parlamentarische Prinzipien die Gewichte verschieben mochten, mußte es modifiziert werden. Kritik der Regierungsparteien mußte heruntergespielt werden, und tatsächlich wurde auch nur zweimal vom Tadelsvotum Gebrauch gemacht. Wenn keine Übereinstimmung unter den Parteien erzielt werden konnte, wurden »Kabinette von Fachleuten« (wie das berühmte Kabinett Cuno im Jahre 1923) gebildet, die angeblich über den politischen Parteien und deren Streitigkeiten stehen. Dieses Zerrbild einer parlamentarischen Demokratie wurde zum Ideal der Reaktionäre, denn es erlaubt ihnen, ihre antidemokratische Politik unter dem Deckmantel des Experten zu verbergen. Die daraus folgende Unmöglichkeit, das Handeln des Kabinetts parlamentarischer Kontrolle zu unterstellen, war das erste Anzeichen für das Schwinden parlamentarischer Macht.
Die tatsächliche politische Macht des Reichstags entsprach zu keiner Zeit den weitgehenden Befugnissen, die ihm von der Verfassung zugedacht waren. Zum Teil läßt sich dies mit dem auffallenden sozialen und ökonomischen Wandel erklären, der in Deutschland stattgefunden und eine hohe Komplexität des wirtschaftlichen Lebens hervorgebracht hatte. Die zunehmende Reglementierung des ökonomischen Bereiches führte zur Schwerpunktverlagerung von der Legislative zur Bürokratie, und der zunehmende Interventionismus machte es dem Reichstag technisch unmöglich, die administrative Macht gänzlich zu kontrollieren oder auch nur seine eigenen Gesetzgebungsrechte voll wahrzunehmen. Das Parlament war genötigt, legislative Verfügungsmacht zu delegieren. Dennoch hätte die Demokratie wohl überleben können – aber nur, wenn das demokratische Wertsystem fest in der Gesellschaft verankert gewesen, die Delegation von Macht nicht dazu benutzt worden wäre, Minderheiten ihrer Rechte zu berauben, und wenn sie nicht als Schutzschild gedient hätte, hinter dem antidemokratische Kräfte das Geschäft weiter betrieben, eine bürokratische Diktatur zu errichten.
Es wäre falsch anzunehmen, daß der Verfall der parlamentarischen Gesetzgebungsmacht lediglich ein Resultat der letzten, der präfaschistischen Periode der Deutschen Republik, also etwa der Zeit von 1930 bis 1933, gewesen sei. Der Reichstag war nie sehr darauf bedacht, das alleinige Gesetzgebungsrecht zu bewahren; schon von den ersten Tagen der Republik an entwickelten sich nebeneinander drei konkurrierende Arten der Gesetzgebung. Bereits 1919 gab der Reichstag freiwillig seine höchste Gewalt im Bereich der Gesetzgebung auf, indem er ein Ermächtigungsgesetz verabschiedete, das dem Kabinett, d. h. der Ministerialbürokratie, weitreichende Machtbefugnisse übertrug. Ähnliche Bestimmungen wurden 1920, 1921, 1923 und 1926 eingeführt.
Das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923, um nur ein Beispiel zu nennen, autorisierte die Reichsregierung, »die Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Gebieten für erforderlich und dringend erachtet«, und mit dieser Vollmacht wurden folgende Maßnahmen verkündet: eine Verordnung über die Stillegung von Fabriken, die Gründung der Deutschen Rentenbank, über Währungsregelungen und die Änderungen des Einkommenssteuergesetzes, schließlich eine Verordnung, die eine Kontrolle von Kartellen und Monopolen einführte. In den fünf Jahren von 1920 bis 1924 ergingen 450 Regierungsverordnungen gegenüber 700 parlamentarischen Gesetzen. Die gesetzgebende Gewalt des Kabinetts nahm also faktisch gleichzeitig mit der Geburt des deutschen parlamentarischen Systems ihren Anfang.
Das zweite Kennzeichen parlamentarischen Niedergangs ist im Charakter des Gesetzes selbst zu finden. Die Komplexität des Gesetzgebungsverfahrens brachte den Reichstag dazu, lediglich unbestimmte allgemeine Grundsätze festzulegen und dem Kabinett die Verfügungsmacht über die Anwendung und den Vollzug zu überlassen.
Der dritte und letzte Schritt war das auf Artikel 48 der Verfassung beruhende präsidiale Notverordnungsrecht. Zwar besaß der Reichstag das verfassungsmäßige Recht, solche Notstandsgesetze zu widerrufen, doch war dies nur ein geringer Trost, da dieses Recht eher ein scheinbares als ein reales war. Sind die Maßnahmen erst einmal in Kraft getreten, dann haben sie tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Leben, und obschon es dem Parlament als leicht vorgekommen sein mag, eine Notverordnung aufzuheben (z. B. die Senkung der Kartellpreise und Löhne), konnte es doch eine Ersatzregelung nicht so leicht verabschieden. Diese Erwägung spielte eine gewisse Rolle bei der Haltung des Reichstages gegenüber den Brüning-Verordnungen von 1930, die tiefe Veränderungen für die Wirtschafts- und Sozialstruktur der deutschen Nation brachten. Ein bloßer Widerruf hätte den Fluß des nationalen Lebens unterbrochen. Eine Ersatzregelung konnte aber aufgrund der Gegensätze zwischen den verschiedenen im Parlament vertretenen Gruppen nicht Zustandekommen. Tatsächlich waren die Parteien, so sehr sie die Delegierung der Gesetzgebungsgewalt an den Präsidenten und die Bürokratie auch verurteilen mochten, oft recht froh, der Verantwortung enthoben zu sein.
Der Angelpunkt jedes parlamentarischen Regierungssystems ist das Budgetkontrollrecht der Legislative, und eben dies brach in der Weimarer Republik zusammen. Die Verfassung hatte den Reichstag insofern etwas eingeschränkt, als sie ihm verbot, Ausgabenerhöhungen zu beschließen, nachdem das Kabinett seinen Haushaltsplan vorgelegt hatte – es sei denn, der Reichsrat stimmte ihnen zu. Abgesehen von dieser Einschränkung waren jedoch sichtlich alle notwendigen Garantien des parlamentarischen Budgetrechts in der »Reichshaushaltsordnung« vom 31. Dezember 1922 und in den Artikeln 85, 86 und 87 der Verfassung verankert worden. Dennoch blieben genügend Gesetzeslücken, die der Bürokratie ständige Übergriffe ermöglichten. Die Buch- und Rechnungsprüfung wurde dem Reichstag ganz entzogen und dem »Rechnungshof für das Deutsche Reich« übertragen, einem Verwaltungsgremium, das von Regierung und Parlament unabhängig war und dem kein Parlamentsmitglied angehören durfte. Schließlich war die Position des Finanzministers gegenüber seinen Kabinettskollegen so stark, daß er gegen jede kleinere Ausgabe allein und gegen andere Ausgaben zusammen mit dem Kanzler – selbst gegen die Mehrheitsentscheidung des ganzen Kabinetts – Einspruch erheben konnte. Zuletzt erließ der Reichspräsident das Budget gegen das Wort der Verfassungsrichter auf dem Notverordnungswege.
Wieder sehen wir in Deutschland lediglich die spezifische Ausprägung einer allgemeinen Tendenz. Wie das englische Beispiel zeigt, besteht im Interventionsstaat immer die Neigung zum Verfall der Budgetrechte des Parlaments. Die fixen Ausgabenposten steigen zu Lasten des parlamentarisch noch zu bewilligenden zusätzlichen Etats. Wo es einen riesigen bürokratischen Apparat als Dauereinrichtung und eine zunehmende staatliche Aktivität in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft gibt, werden die Ausgaben zu feststehenden und permanenten, die faktisch nicht mehr in die Rechtszuständigkeit des Parlaments fallen. In Deutschland wurden zudem nur die Einnahmen und Ausgaben des Reiches selbst im Etat aufgeführt. Die Finanzoperationen der unabhängigen reichseigenen Wirtschaftsunternehmen, ob öffentlich- oder privatrechtlich organisiert, lagen außerhalb der Budgetkontrolle. Post und Eisenbahn, Bergbauunternehmen und Fabriken, die Eigentum des Reiches waren, waren vom Budget unabhängig. Lediglich ihre Bilanzen wurden entweder als Einnahmen des Reiches oder als Subventionsforderungen an das Reich aufgeführt.
Diese ganze Entwicklung stand in völligem Einklang mit den Wünschen der deutschen Industrie. Ihre wichtigste Interessenorganisation, der Reichsverband der Deutschen Industrie, forderte sogar noch weitergehende Beschränkungen der Budgetrechte des Reichstags. Die Deutsche Volkspartei nahm seine Vorschläge in ihr Parteiprogramm auf. Sie bestand darauf, daß sämtliche Ausgaben von der Regierung gebilligt werden müßten, und daß dem Rechnungshof als Aufsichtsbehörde eine entscheidende Position bei der Annahme oder Ablehnung des Haushalts eingeräumt werden müsse. Dr. Popitz, der führende Experte für Staatsfinanzen im Reichsfinanzministerium, sprach den Grund für diesen Versuch, das Budgetrecht des Reichstages zu sabotieren, offen aus. Das allgemeine Wahlrecht, so sagte er, habe Gesellschaftsschichten in den Reichstag gebracht, die keine hohen Einkommensteuern und Sonderabgaben zahlten.40
Der Abbau der parlamentarischen Oberhoheit kam dem Reichspräsidenten und daher der Ministerialbürokratie zugute. In Anlehnung an das amerikanische Vorbild sah die Weimarer Verfassung die Volkswahl des Präsidenten vor. Aber hier endet auch schon die Ähnlichkeit der beiden Verfassungssysteme. In den USA ist der Präsident die unabhängige Spitze der Exekutive des Regierungssystems, während die Anordnungen des deutschen Reichspräsidenten vom zuständigen Minister oder vom Kanzler, der die politische Verantwortung für die Handlungen und Erklärungen des Präsidenten übernahm, gegengezeichnet werden mußten.
Dennoch hatte der deutsche Präsident relativ viel Freiheit. Zunächst verschaffte ihm die Volkswahl eine gewisse unabhängige Position gegenüber den verschiedenen Parteien. Er konnte den Kanzler und die Minister seiner Wahl ernennen; er war an keinerlei Verfassungsbrauch der englischen Tradition, den Führer der siegreichen Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen, gebunden. Die Präsidenten Ebert und von Hindenburg bestanden beide darauf, ihre Wahl frei und unabhängig zu treffen. Das Recht, den Reichstag aufzulösen, gab dem deutschen Präsidenten weitere politische Macht. Die Bestimmung, daß er dies nur einmal aus dem gleichen Grunde tun könne, war leicht zu umgehen.
Gleichwohl konnte der Reichspräsident nicht als »Hüter der Verfassung« bezeichnet werden, wie ihn die antidemokratischen Theoretiker hinzustellen pflegten. Er repräsentierte die Demokratie durchaus nicht und war weit davon entfernt, ein neutrales Staatsoberhaupt zu sein, das über Parteienhader und Sonderinteressen stehe. Während der gesamten Weimarer Republik und insbesondere bei Hindenburg war die Präsidentenschaft in hohem Maße parteilich. Politische Gruppen arrangierten und finanzierten die Wahl des Präsidenten; er blieb abhängig von den Gruppen der Parteigänger, die ihn umgaben und ihn berieten. Er hatte Präferenzen und eine politische Linie, die er weit über die ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen hinaus zu verfolgen suchte. Als Kommunisten und Sozialisten durch ein Volksbegehren die Fürstenhäuser enteignen wollten, verurteilte Reichspräsident von Hindenburg dieses Vorhaben in einem offenen Brief (vom 22. Mai 1926) und scherte sich nicht einmal darum, die Unterschrift des Reichskanzlers einzuholen, sondern insistierte darauf, daß ein solcher Brief seine Privatangelegenheit sei. Als er Brüning zum zweiten Mal zum Reichskanzler ernannte, verlangte Hindenburg die Aufnahme zweier seiner konservativen Freunde (Treviranus und Schiele) in das Kabinett. Dann verriet er sie. Eberts Autorität war beschränkt gewesen. Da er Sozialist war, konnte er nicht die Achtung erlangen, die dem ersten Mann der Republik eigentlich gebührte. Aber Hindenburg war der Feldmarschall, der große Soldat, der Vater. Das war etwas anderes, ganz besonders nachdem Brüning einen wahren Hindenburg-Mythos geschaffen hatte, um dessen Wiederwahl im Jahre 1932 sicherzustellen. Hindenburgs Stärke lag hauptsächlich in seinen engen Beziehungen zur Armee und zu den ostelbischen Großgrundbesitzern. Von 1930 an, als die Anwesenheit von 107 nationalsozialistischen Abgeordneten eine ordentliche parlamentarische Gesetzgebungsarbeit nahezu unmöglich machte, wurde er zum alleinigen Gesetzgeber, indem er die Notverordnungsbefugnisse des Artikels 48 der Verfassung ausnutzte.41
Die durch den Versailler Vertrag auf 100 000 Mann reduzierte Reichswehr war nach wie vor die Hochburg des Konservativismus und Nationalismus. Da die Soldatenkarriere nun vielen verschlossen war, und man in der Armee nur langsam befördert wurde, überrascht es nicht, daß das Offizierskorps militant antidemokratisch wurde und den Parlamentarismus schmähte, weil er seine Nase zu tief in die Geheimnisse der Heeresausgaben steckte, und daß es die Sozialisten verabscheute, weil sie den Versailler Vertrag und die Zerstörung der Obergewalt des deutschen Militarismus hingenommen hatten. Wann immer es zu einer politischen Krise kam, stellte sich die Armee ausnahmslos auf die Seite der antidemokratischen Elemente. Hitler selbst war ein Produkt der Reichswehr, die sich seiner bereits 1918 und 1919 als Redner und Propagandafunktionär bedient hatte. Das alles kann nicht überraschen. Überraschend aber ist, daß der demokratische Apparat diese Situation tolerierte. Die Reichswehrminister, der unvermeidliche Gessler und der demokratisch loyalere General Groener, befanden sich in einer außerordentlich doppeldeutigen verfassungsmäßigen Lage. Als Kabinettsmitglieder unterlagen sie parlamentarischer Kontrolle und Verantwortlichkeit, aber als Untergebene des Präsidenten, des Oberbefehlshabers der Armee, waren sie der Kontrolle durch das Parlament entzogen. In der Praxis wurde dieser Widerspruch leicht aufgelöst: die Reichswehrminister sprachen für die Armee und gegen den Reichstag. In der Tat identifizierten sie sich so vollkommen mit der Militärbürokratie, daß die parlamentarische Kontrolle über das Militär eigentlich verschwand.
6. Der Zusammenbruch der Demokratie
Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften waren gegenüber den von vielen Seiten kommenden Angriffen auf die Weimarer Demokratie vollständig hilflos. Vorsichtige Versuche wurden unternommen, den Gedanken einer Wirtschaftsdemokratie zu verbreiten, doch erwies sich diese neue Ideologie sogar als noch weniger attraktiv denn das alte sozialistische Programm. Die angestellten Gehaltsempfänger blieben uninteressiert; die Mitgliederzahl der den sozialistischen Gewerkschaften angeschlossenen Beamtenorganisation ging von 420 000 im Jahre 1922 auf 172 000 im Jahre 1930 zurück, während der sogenannte neutrale, faktisch aber nationalistische Beamtenbund im Jahre 1930 1 043 000 Mitglieder, vor allem aus den mittleren und unteren Rängen, zählte. Die Bedeutung dieser Zahlen liegt auf der Hand.
Die Sozialdemokratische Partei war in Widersprüchen befangen. Obwohl sie immer noch für sich in Anspruch nahm, eine marxistische Partei zu sein, war ihre Politik schon lange eine rein gradualistische. Sie brachte nie den Mut auf, sich für eines von beidem zu entscheiden, für die traditionelle Ideologie oder für die reformistische Politik. Ein radikaler Bruch mit der Tradition und die Aufgabe des Marxismus hätte Tausende ihrer Anhänger in das kommunistische Lager getrieben. Andererseits hätte der Verzicht auf den Gradualismus zugunsten einer revolutionären Politik bedeutet, daß die vielen die SPD an den bestehenden Staat kettenden Bande zerrissen worden wären. Daher verharrten die Sozialisten in dieser doppeldeutigen Position und waren außerstande, ein demokratisches Bewußtsein zu schaffen. Die Weimarer Verfassung, auf der Rechten von Deutschnationalen, Nationalsozialisten und reaktionären Liberalen, auf der Linken von den Kommunisten attackiert, blieb für die Sozialdemokraten lediglich eine Übergangserscheinung, ein erster Schritt zu einer größeren und besseren Zukunft. Und ein Übergangsgebilde kann nicht gerade große Begeisterung wecken.42
Deshalb war das ideologische, ökonomische, soziale und politische System schon vor Beginn der großen Krise nicht mehr richtig funktionsfähig. Welchen Anschein der Erfolgstüchtigkeit es auch immer erweckt haben mag – sie beruhte in erster Linie auf der Tolerierung durch die antidemokratischen Kräfte und der trügerischen, durch die Auslandsanleihen ermöglichten Prosperität. Die Krise legte die versteinerte traditionelle soziale und politische Struktur offen und verstärkte sie. Die Gesellschaftsverträge, auf denen diese Struktur beruhte, lösten sich auf. Die Demokratische Partei verschwand, das katholische Zentrum rückte nach rechts, während Sozialdemokraten und Kommunisten weit mehr Energie darauf verwandten, sich gegenseitig zu bekämpfen, als gegen die wachsende Bedrohung durch den Nationalsozialismus vorzugehen. Die Nationalsozialistische Partei ihrerseits häufte Schimpf und Schande auf die Sozialdemokraten. Sie prägte das Schmähwort von den Novemberverbrechern, einer Partei der Korruption und des Pazifismus, verantwortlich für die Niederlage von 1918, den Versailler Vertrag und die Inflation. Der Produktionsausstoß der deutschen Industrie war stark zurückgegangen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg43: im Januar 1932 wurden sechs Millionen registriert, und wahrscheinlich gab es noch weitere zwei Millionen sogenannter unsichtbarer Arbeitsloser. Nur ein kleiner Teil von ihnen erhielt Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung, und eine ständig größer werdende Zahl bekam keinerlei Hilfe. Die erwerbslosen Jugendlichen wurden ein Problem für sich. Hunderttausende hatten nie einen Arbeitsplatz besessen. Arbeitslosigkeit wurde zu einem Status und in einer Gesellschaft, in der Erfolg über allem steht, zu einem Schandmal. Im Norden revoltierten die Bauern, während die Großgrundbesitzer nach finanzieller Unterstützung riefen. Kleine Geschäftsinhaber und Handwerker standen vor dem Ruin. Hausbesitzer konnten ihre Mieten nicht kassieren. Banken brachen zusammen und gingen in den Besitz der Reichsregierung über. Sogar die Hochburg der industriellen Reaktion, die Vereinigten Stahlwerke, waren dem Zusammenbruch nahe, und ihre Aktien wurden von der Reichsregierung zu Preisen, die weit über den Marktwerten lagen, aufgekauft. Die Haushaltslage wurde prekär. Die Reaktionäre weigerten sich, ein großangelegtes Arbeitsbeschaffungsprogramm zu unterstützen, damit nicht die schwindende Macht der Gewerkschaften wieder zunähme, deren finanzielle Reserven versiegten und deren Mitgliederzahl zurückging.
Die Lage war verzweifelt und erforderte verzweifelte Maßnahmen. Die SPD hatte die Wahl, entweder über eine Einheitsfront mit den Kommunisten unter sozialistischer Führung den Weg der politischen Revolution zu beschreiten, oder mit den Semi-Diktaturen Brünings, Papens und Schleichers in dem Versuch zusammenzuarbeiten, der größeren Gefahr, Hitler, zu wehren. Es gab keine andere Wahl. Die Sozialdemokratische Partei stand vor der schwersten Entscheidung ihrer Geschichte. Gemeinsam mit den Gewerkschaften entschied sie sich dafür, die Brüning-Regierung zu tolerieren, als im September 1930 107 nationalsozialistische Abgeordnete in den Reichstag einzogen und das Zustandekommen einer parlamentarischen Mehrheit unmöglich machten. Tolerieren hieß weder offene Unterstützung noch offener Angriff. Die ideologische Rechtfertigung dieser Politik erfolgte in der programmatischen Rede von Fritz Tarnow, dem Delegierten und Vorsitzenden der Holzarbeitergewerkschaft, auf dem letzten Parteitag (1931):
»Nun stehen wir … am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch – ja, was soll ich sagen? – als Arzt, der heilen will? Oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? … Wir sind nämlich, wie mir scheint, dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will, und dennoch das Gefühl aufrechtzuerhalten, daß wir Erben sind, die lieber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen sollen.«44
Dies war die Politik eines Mannes, der von seinen Feinden gejagt wird, aber sich weigert, entweder seinen Untergang hinzunehmen oder zurückzuschlagen, und der Ausflüchte über Ausflüchte erfindet, um seine Untätigkeit zu rechtfertigen.
Der Politik des kleineren Übels weiter folgend, unterstützte die Partei die Wiederwahl Hindenburgs im April 1932.
Hindenburg zahlte seine Schuld prompt zurück, indem er den Staatsstreich vom 20. Juni 1932 über die Bühne gehen ließ und anstelle der rechtmäßig gewählten preußischen Landesregierung unter Otto Braun (SPD) seinen Günstling Papen einsetzte. Alles, was die Sozialdemokratische Partei dagegen unternahm, war ein Appell an den Verfassungsgerichtshof, der ein Kompromißurteil sprach, das die politische Situation nicht antastete; Papen blieb als Reichskommissar für Preußen. Die Sozialdemokratische Partei wurde völlig demoralisiert; die letzte Hoffnung eines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten schien geschwunden zu sein.
Die Kommunisten waren nicht weniger optimistisch gewesen als die Sozialisten, wenn auch aus anderen Gründen. »Wir … stellten nüchtern und ernst fest«, so sagte Thälmann, »daß der 14. September gewissermaßen Hitlers bester Tag« war, »dem keine besseren, aber eher schlechtere folgen werden«45. Sie erwarteten in unmittelbarer Zukunft eine soziale Revolution, die zur Diktatur des Proletariats führen werde. Bei den Novemberwahlen von 1932 verloren die Nationalsozialisten 34 Sitze. Die Sozialdemokraten, die nur in parlamentarischen Kategorien dachten, frohlockten: Der Nationalsozialismus ist geschlagen. Rudolf Hilferding, ihr führender Theoretiker und Herausgeber der Parteizeitschrift »Die Gesellschaft«, veröffentlichte in der Ausgabe vom Januar 1933 einen »Zwischen den Entscheidungen« überschriebenen Artikel. Er meinte, daß der Nationalsozialismus durch die parlamentarische Legalität blokkiert werde (Malapartes Vorstellung)46. Hilferding wurde kühn. Er verweigerte die Zusammenarbeit mit Schleicher, Hitlers unmittelbarem Vorgänger, und lehnte die Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei ab. Das Hauptziel der Sozialisten, so sagte er, ist der Kampf gegen den Kommunismus. Er verspottete Hitlers Versuch, diktatorische Machtbefugnisse von Hindenburg zu erhalten: »Ohne die Revolution die Resultate der Revolution zu fordern, diese politische Konstruktion konnte nur im Gehirn eines deutschen Politikers entstehen.«47 Hilferding vergaß dabei, daß der italienische Politiker Mussolini genau dieselbe Idee besessen und sie erfolgreich verwirklicht hatte.
Nur wenige Tage nach Erscheinen von Hilferdings Artikel übernahm Hitler die Macht. Am 4. Januar 1933 arrangierte der Kölner Bankier Kurt von Schröder, dessen Name in der Geschichte des Nationalsozialismus eine tiefe Bedeutung gewann, jene Unterredung zwischen Papen und Hitler, die eine Aussöhnung der alten reaktionären Gruppen mit der neuen konterrevolutionären Bewegung herbeiführte und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar den Weg ebnete. Es war die Tragik der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften, daß ihre führenden Männer zwar hohe intellektuelle Qualitäten besaßen, aber bar jeden Gefühls für die Verfassung der Massen und ohne jede Einsicht in die großen gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit waren.
Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei besaß keine Ideologie, war aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammengewürfelt und zögerte niemals, den Bodensatz aller Bevölkerungsteile aufzunehmen, wurde von der Armee, der Justiz und von Teilen der Beamtenschaft unterstützt, von der Industrie finanziert, machte sich die antikapitalistischen Gefühle der Massen zunutze und war doch vorsichtig genug, die einflußreichen Geldgeber nie zu verprellen. Terror und Propaganda bemächtigten sich der schwachen Stellen der Weimarer Demokratie, und von 1930 bis 1933 war sie nur noch eine einzige große schwache Stelle.
»Ein Mann, der die Macht besitzt«, sagte Woodrow Wilson in seiner Botschaft in Kansas am 6. Mai 1911, »der aber gewissenlos ist, könnte, wenn er eine beredte Zunge hat und sich um nichts anderes als seine eigene Macht kümmert, dieses ganze Land in Brand setzen, weil dieses ganze Land glaubt, daß etwas nicht stimmt, und weil es begierig ist, jenen zu folgen, die vorgeben, es aus seinen Schwierigkeiten herausführen zu können.«48
7. Versuch einer Zusammenfassung
Jedes Gesellschaftssystem muß die primären Bedürfnisse seiner Menschen auf die eine oder andere Weise befriedigen. Dem Kaiserreich gelang dies in dem Maße und so lange, wie es expandieren konnte. Eine erfolgreiche Kriegspolitik und imperialistische Expansion hatten große Teile der Bevölkerung mit dem Semi-Absolutismus ausgesöhnt. Angesichts der erzielten materiellen Vorteile hatte der anomale Charakter der politischen Struktur keine entscheidende Bedeutung. Die Armee, die Bürokratie, die Industrie und die agrarischen Großgrundbesitzer herrschten. Die Theorie des Gottesgnadentums – die offizielle politische Doktrin – verschleierte lediglich diese Herrschaft und wurde nicht ernstgenommen. Die kaiserliche Herrschaft war in Wirklichkeit nicht absolutistisch, denn sie war an das Gesetz gebunden und stolz auf ihre ›Rechtsstaat‹-Theorie. Als ihrer expansionistischen Politik Einhalt geboten wurde, hatte sie ausgespielt und dankte ab.
Die Weimarer Demokratie schlug eine andere Richtung ein. Sie mußte ein verarmtes und erschöpftes Land wiederaufbauen, in dem sich die Klassengegensätze schroff ausgeprägt hatten. Sie versuchte, drei Elemente miteinander zu verschmelzen: das Erbe der Vergangenheit (insbesondere das Beamtentum), die parlamentarische Demokratie nach westeuropäischem und amerikanischem Muster und einen pluralistischen Kollektivismus, die direkte Eingliederung der mächtigen Sozial- und Wirtschaftsverbände in das politische System. Was sie jedoch tatsächlich hervorbrachte waren verschärfte soziale Antagonismen, den Zusammenbruch der freiwilligen Kooperation, die Zerstörung parlamentarischer Institutionen, das Wachstum einer herrschenden Bürokratie und die Wiedergeburt der Armee als eines entscheidenden politischen Faktors.
Warum?
In einem verarmten, doch hochindustrialisierten Land konnte der Pluralismus nur unter den folgenden – unterschiedlichen – Bedingungen funktionieren: Erstens ließ sich Deutschland mit ausländischer Hilfe wiederaufbauen, indem es seine Märkte auf friedlichem Wege, dem hohen Stand seiner industriellen Kapazität entsprechend, ausdehnte. Die Außenpolitik der Weimarer Republik ging in diese Richtung. Mit ihrem Beitritt zum Konzert der westeuropäischen Mächte hoffte die Weimarer Regierung, Konzessionen zu erhalten. Der Versuch scheiterte. Er wurde weder von der deutschen Industrie und den Großgrundbesitzern, noch von den Westmächten unterstützt. Im Jahr 1932 befand sich Deutschland in einer katastrophalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise.
Zweitens konnte das System auch dann funktionieren, wenn die herrschenden Gruppen freiwillig oder unter staatlichem Zwang Zugeständnisse machten. Das hätte für die Masse der deutschen Arbeiter zu einem besseren Leben und den Mittelstand zur Sicherheit geführt – auf Kosten der Profite und der Macht des Großkapitals. Die deutsche Industrie stemmte sich jedoch mit Entschiedenheit dagegen, und der Staat stellte sich mehr und mehr auf ihre Seite.
Die dritte Möglichkeit war die Umwandlung in einen sozialistischen Staat, und das war 1932 vollkommen irreal geworden, da die Sozialdemokratische Partei nur noch dem Namen nach sozialistisch war.
Die Krise von 1932 zeigte, daß politische Demokratie allein, ohne eine stärkere Ausnutzung der dem deutschen Industriesystem innewohnenden Möglichkeiten, d. h. ohne die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und ohne eine Verbesserung des Lebensstandards, nur eine leere Hülse blieb.
Die vierte Möglichkeit war die Rückkehr zur imperialistischen Expansion. Imperialistische Wagnisse im Rahmen der traditionellen demokratischen Form konnten jedoch nicht organisiert werden, denn die Opposition dagegen wäre zu stark gewesen. Sie konnten auch nicht die Form einer Restauration der Monarchie annehmen. Eine Industriegesellschaft, die eine demokratische Phase durchschritten hat, kann die Massen nicht aus ihren Erwägungen ausklammern. Daher nahm der neue Expansionismus die Form des Nationalsozialismus an, einer totalitären Diktatur, der es gelungen ist, einen Teil ihrer Opfer in Anhänger und das ganze Land in ein unter eiserner Disziplin gehaltenes bewaffnetes Lager zu verwandeln.