Читать книгу Behemoth - Franz Neumann - Страница 18
ОглавлениеII. Die Revolte der Partei und der Staat der »Bewegung«
1. Der ideologische Protest gegen den totalitären Staat
Der Anspruch der Partei und der des totalitären Staates stehen offensichtlich in Widerspruch zueinander. Ist der Staat die oberste Gewalt, dann kann die Partei nur einer seiner Arme sein, so wie das Beamtentum oder die Reichswehr, und vielleicht sogar weniger bedeutend als diese. Doch der Sieg des Nationalsozialismus war in erster Linie den Anstrengungen der Partei, ihren politischen Gruppen und angeschlossenen Militärverbänden, Handwerksvereinen, Bauernbünden, ja sogar ihrem Arbeiterflügel zu verdanken. Die Parteifunktionäre hungerten nach Beute und riefen nach den Posten der Beamten, die der Partei größtenteils nicht, oder nur um ihres Vorteils willen statt aus Überzeugung, beigetreten waren; der kleine Mittelstand forderte seinen Anteil an Warenhäusern und Genossenschaften; und die Braunhemden, geführt von Hauptmann Röhm, dürsteten danach, der Reichswehr gleichgestellt zu werden, deren Führer sie verächtlich als »Schreibtischgeneräle« bezeichneten. Alfred Rosenberg, das philosophische Orakel der Partei, war über Baron von Neuraths vorsichtige Außenpolitik ungehalten. Die Unmutsäußerungen nahmen zu. Die Partei versuchte, der Unzufriedenheit ein Ende zu setzen, indem sie einen großangelegten Propagandafeldzug startete und ihm mit den drohenden Konzentrationslagern Nachdruck verlieh. Aber die von den Braunhemden angeführte Rede von der zweiten Revolution verstummte nicht, und aus dem allgemeinen Murren war ein unheilverkündendes Grollen deutlich herauszuhören. Die Braunhemden, ein Heer von entwurzelten Proletariern und kleinen Mittelständlern, waren enttäuscht, als Hitler General von Fritsch zum Nachfolger General von Hammersteins auf dem Posten des Reichswehrchefs ernannte und von Blomberg gestattete, das Kriegsministerium zu behalten. Röhm sah seine ehrgeizigen Pläne vereitelt. Die Spannung nahm zu; es gab dauernde Reibereien zwischen den Braunhemden, dem nationalistischen »Stahlhelm« und der Reichswehr. Die illegalen Eingriffe in die Wirtschaft nahmen ein ernsthaftes Ausmaß an. Am 17. Juni 1934 hielt Vizekanzler von Papen in Marburg seine berühmte Rede, in der er besonders das Recht des Bürgers, das Regime zu kritisieren, hervorhob.1 Hitler entschloß sich, sich seines »Berges« zu entledigen. Das Resultat war das Massaker vom 30. Juni 1934, das den Ereignissen der Bartholomäusnacht von 1572 vergleichbar ist. Die staatliche Autorität hatte ihre Rechte auf blutige Weise wiederhergestellt; die zweite Revolution war tot.
Zur gleichen Zeit wurde der Gedanke der Totalität des Staates dennoch über Bord geworfen. Mit einem Artikel im Völkischen Beobachter, dem Zentralorgan der Partei, eröffnete Alfred Rosenberg die Attacke (9. Januar 1934).2 Der totale oder »abstrakte« Staat, so erklärte er, gehört dem liberalistischen Zeitalter an, wo er als technisches Machtinstrument diente. Im Liberalismus stand der Staat über der Nation; seine Vertreter beanspruchten Vorrang vor allen sonstigen Bürgern. »Die Revolution des 30. Januar 1933 ist nun nicht etwa die Fortsetzung des absolutistischen Staates, wieder mit einem neuen Vorzeichen, sondern der Staat wird hier zu Volk und Volkstum in eine andere Beziehung gesetzt wie 1918, aber auch wie 1871. Was sich in diesem vergangenen Jahr vollzogen hat … ist nicht die sogenannte Totalität des Staates, sondern die Totalität der nationalsozialistischen Bewegung. Der Staat ist nicht mehr etwas, was neben dem Volk und neben der Bewegung, sei es als mechanischer Apparat, sei es als herrschendes Instrument, bestehen soll, sondern Werkzeug der nationalsozialistischen Weltanschauung.«
Rosenberg nannte auch klar und deutlich die Gründe, aus denen er die Obergewalt des Staates ablehnte. Die Idealisierung des Staates, so sagte er, bedeutet die Verherrlichung der Staatsbeamten auf Kosten der Bewegung. Er empfahl, mit dem Gerede über den totalen Staat Schluß zu machen, und statt dessen die Totalität der nationalsozialistischen Weltanschauung mit der NSDAP als ihrer Trägerin und dem nationalsozialistischen Staat als ihrem Werkzeug nachdrücklich zu betonen.
Rosenbergs Protestartikel gegen die Obergewalt des Staates stand in vollem Einklang mit seiner langen, Der Mythos des 20. Jahrhunderts genannten Abhandlung, in der er den Staat anprangerte, sich weigerte, vor ihm »im Staube zu liegen« und Hegel kritisierte.3 In Mein Kampf, das lange vor seinem Machtantritt erschien, bringt Hitler ähnliche Gefühle zum Ausdruck, läßt seiner Verachtung für die Weimarer Demokratie vollen Lauf und prophezeit die Ankunft einer neuen Ära. Die Verfassungsrechtler und politischen Theoretiker, die sich in den Jahren 1933 und 1934 als zum Nationalsozialismus bekehrt bezeichneten, unterließen es offenbar, dieses Buch zu lesen, in dem jegliche Forderung des Staates und für den Staat zurückgewiesen wird. Der Staat, sagt Hitler, ist weder ein Begriff der Moral noch die Verwirklichung einer absoluten Idee, sondern der Diener des Volkstums. Er ist kein »Zweck, sondern ein Mittel. Er ist wohl die Voraussetzung zur Bildung einer höheren menschlichen Kultur, allein nicht die Ursache derselben. Diese liegt vielmehr ausschließlich im Vorhandensein einer zur Kultur befähigten Rasse.« An anderer Stelle sagt er: »Der Staat ist ein Mittel zum Zweck. Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen.« Er befähige sie zur besseren Erhaltung ihrer Art. Daher kann »die Güte eines Staates … nicht bewertet werden nach der kulturellen Höhe oder der Machtbedeutung dieses Staates im Rahmen der übrigen Welt, sondern ausschließlich nur nach dem Grade der Güte dieser Einrichtung für das jeweils in Frage kommende Volkstum … Also kann umgekehrt ein Staat als schlecht bezeichnet werden, wenn er, bei aller kulturellen Höhe, den Träger dieser Kultur in seiner rassischen Zusammensetzung dem Untergange weiht.« Aus diesen Gründen lehnt Hitler den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Staat ab und bejaht ein biologisches Recht auf Widerstand. »Nicht die Erhaltung eines Staates oder gar die einer Regierung«, so schreibt er, ist »höchster Zweck des Daseins der Menschen, … sondern die Bewahrung ihrer Art. Ist aber einmal diese selber in Gefahr, unterdrückt oder gar beseitigt zu werden, dann spielt die Frage der Legalität nur mehr eine untergeordnete Rolle. Es mag dann sein, daß sich die herrschende Macht tausendmal sogenannter legaler Mittel in ihrem Vorgehen bedient, so ist dennoch der Selbsterhaltungstrieb der Unterdrückten immer die erhabenste Rechtfertigung für ihren Kampf mit allen Waffen … Menschenrecht bricht Staatsrecht.«
Hitler erklärt entsprechend weiter: »Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht … Denn wer nicht bereit oder fähig ist, für sein Dasein zu streiten, dem hat die ewig gerechte Vorsehung schon das Ende bestimmt.«4
Die Theorie ist unverkennbar eine Art von pervertiertem Liberalismus, der sich auf eine biologische Vorstellung vom Naturrecht stützt und dem die Reinerhaltung der Rasse die angeborenen Rechte des Individuums ersetzt. Auch der Liberalismus begreift den Staat als Werkzeug oder Mechanismus; Hitlers Berufung der Vorsehung erinnert an die liberalistischen deistischen Philosophen, welche die Hilfe der Vorsehung als Garantie sozialer Harmonie beschworen. Jedoch sind die Unterschiede gewaltig. Die liberale Lehre hatte staatlichen Schutz ohne Ansehung von Rasse, Glauben oder Klasse versichert. An ihre Stelle ist heute die Doktrin von der Herrenrasse getreten.
Die Doktrin, nach welcher der Staat eine untergeordnete Rolle zu spielen hat, wurde nach dem Blutbad vom 30. Juni 1934 zu neuem Leben erweckt. Der Parteitag vom September 1934 bot Gelegenheit zur Neuformulierung des Verhältnisses von Partei und Staat, und der Führer legte in seinem Aufruf besonderen Nachdruck darauf, daß die nationalsozialistische Revolution eine Sache der Vergangenheit sei.5 Hitler verwarf den Gedanken der permanenten Revolution mit dem Hinweis, sie führe zur Zerrüttung des völkischen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebens. Permanente Revolutionen, so führte er weiter aus, sind nichts anderes als Machtkämpfe beutegieriger Politiker. Erfolg ist nicht ohne Stabilität zu erreichen. Die nationalsozialistische Revolution mußte beendet werden, weil das Volk bereits von der nationalsozialistischen Weltanschauung erfüllt und die Reichswehr zu einem auf ewig zuverlässigen Bollwerk des NS-Staates geworden ist. In der soeben zuendegegangenen Phase war es die oberste Aufgabe, die Autorität des Staates zu stärken. Die Aufgabe der Zukunft besteht darin, die Partei und ihre alten Braunhemd- und Leibgarde-Kämpfer zu einer einzigen Gemeinschaft zu verschmelzen, die durch einen feierlichen Eid verpflichtet ist, das ganze Volk zu reinigen, zu mobilisieren und den Glauben an die Partei zu stärken. Eine weitere Rede, die er zum Abschluß des Parteitages hielt, enthielt die bisher aggressivste Kritik an der Theorie des totalitären Staates. Die Partei, so erklärte Hitler, stellt die politische Elite: »Nicht der Staat befiehlt uns, sondern wir befehlen dem Staat!«6
2. Der dreigegliederte Staat
Politische Theoretiker und Verfassungsrechtler, deren konformistische Instinkte geweckt waren, machten sich sogleich daran, die nationalsozialistische Lehre neu zu formulieren. Den entscheidenden Beitrag dazu leistete wiederum Carl Schmitt.7 Das politische Gebäude Deutschlands, so schrieb er, ruht auf einem dreigliedrigen Fundament: Staat, Bewegung und Volk. Der Staat ist der »politisch-statische Teil«, die Bewegung »das politisch-dynamische Element« und das Volk »die im Schutz und Schatten der politischen Entscheidungen wachsende unpolitische Seite« (S. 12). Obwohl Schmitt jeden Versuch, »ein Element gegen die anderen in sophistischer Weise auszuspielen«, ablehnt, enthält das von ihm erstellte Schema doch eine hierarchische Struktur. In der nationalsozialistischen oder faschistischen Tradition rangiert das »Dynamische« (was immer das bedeuten mag) höher als das »Statische« und das Unpolitische niedriger als das Politische. Tatsächlich weist Schmitt in seinem Buch jeden Versuch der Gleichsetzung des Staates mit seiner Bürokratie und Justiz zurück: »Die politisch führende Partei trägt als Organisation der ›Bewegung‹ sowohl den Staats›apparat‹, wie die Sozial- und Wirtschaftsordnung« (S. 14).
Carl Schmitt trifft eine strenge Unterscheidung zwischen seiner Theorie der Dreigliederung des Staates und der dualistischen Theorie des Liberalismus, in der Staat und Gesellschaft einander als zwei getrennte Subjekte gegenüberstehen. In der neuen Theorie besitzt der Staat nicht das Monopol der politischen Entscheidung. Schmitt folgert, daß es nicht mehr der Staat sei, der das politische Element bestimmt, sondern umgekehrt der Staat vom politischen Element, das heißt der Partei, bestimmt werde.
Das genaue Verhältnis von Staat und Bewegung bleibt freilich ungewiß. Obwohl unlösbar mit dem Staat verbunden, ist die Partei nicht identisch mit ihm. Sie gibt dem Staat Anweisungen, handelt aber nur durch ihren Führer. Führertum seinerseits darf nicht mit Oberaufsicht, Befehlsgewalt, Diktatur oder bürokratischer Herrschaft verwechselt werden. Die Rolle, die das Volk dabei zu spielen hat, ist noch unklarer. Per definitionem ist das Volk der unpolitische Teil, das heißt, es hat keinen Einfluß auf das Zustandekommen politischer Entscheidungen. Doch wurde dieser Teil der Schmittschen These nicht akzeptiert; denn seine eindeutige Folgerung, das Volk sei nur dazu da, regiert zu werden, löste leidenschaftliche Proteste aus. Schmitt wurde entgegengehalten, daß das Volk nicht unpolitisch, sondern politisch ist, daß es die Urkraft ist, von der alle Individuen ihre Recht herleiten. »Die politische Totalität des Nationalsozialismus ist gegründet auf eine alldurchdringende politische Idee, getragen von einem in sich geschlossenen politischen Volk, verwirklicht durch eine einzigartige politische Bewegung, und sie erhält Gestalt in der lebendigen, dauernden Form des Staates.«8
Wie wir sehen werden, ist der Nationalsozialismus stolz darauf, das Volk in den Mittelpunkt seiner sozialen und politischen Ideologie gestellt zu haben. Carl Schmitts Dreigliederungstheorie wurde mit einer bezeichnenden Korrektur beibehalten: das Volk wurde zum Bestandteil der politischen Struktur erklärt. Wie das Volk politisch handeln könne, ist nicht dargelegt worden; lediglich die Führung der »Bewegung« wurde berücksichtigt.
Unzählige Theoretiker und Pamphletisten traten hervor und nannten das Volk den Urquell des Staates, aber keiner von ihnen war in der Lage anzugeben, was das Volk als solches leisten könne, zumal der Führer nicht an Plebiszite gebunden ist. An die Stelle jeder rationalen Diskussion des Problems trat schlechte Metaphysik.
3. Partei und Staat
Die Aussagen der nationalsozialistischen politischen Theorie zum Verhältnis von Partei und Staat sind gleichermaßen vage. In seiner Rede auf dem Parteitag von 1935 versuchte Hitler persönlich eine Definition: »Staatsaufgabe«, so sagte er, »ist die Fortführung der historisch gewordenen und entwickelten Verwaltung der staatlichen Organisationen im Rahmen und mittels der Gesetze. Parteiaufgabe ist: 1. Aufbau ihrer inneren Organisation zur Herstellung einer stabilen, sich selbst forterhaltenden ewigen Zelle der nationalsozialistischen Lehre. 2. Die Erziehung des gesamten Volkes im Sinne der Gedanken dieser Idee. 3. Die Abstellung der Erzogenen an den Staat zu seiner Führung und als seine Gefolgschaft. Im übrigen gilt das Prinzip der Respektierung und Einhaltung der beiderseitigen Kompetenzen.«9 Damit sind wir genau da, wo wir vorher waren, denn es ging ja gerade darum, präzise zu definieren, wo die Kompetenz des Staates endet und die der Partei beginnt.
Einparteistaaten weisen drei Typen des Verhältnisses von Partei und Staat auf. In Italien ist die Partei in den Staat »eingegliedert«; sie ist ein Organ des Staates, eine »Staatspartei«. Sowjetrußland gibt der Partei volle Befehlsgewalt über den Staat; die periodischen Säuberungen zielen zu einem beträchtlichen Teil darauf ab, die Anhäufung autonomer politischer Macht in den Händen der Staatsbürokratie zu verhindern. Der deutsche Typ liegt etwa in der Mitte zwischen den beiden anderen und ist schwer zu analysieren. Die Analyse muß aber geleistet werden – nicht so sehr, um die Neugier von Verfassungs- und Verwaltungsrechtlern zu befriedigen, sondern um die Grundprobleme: bei wem liegt die politische Macht, und wie stark haben die nationalsozialistischen Ideen Armee und Beamtentum durchdrungen, zu klären.10
Beginnen wir unser Bemühen um Klärung mit einer Analyse der einschlägigen Praxis in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Die verfassungsrechtliche Grundlage des Verhältnisses Partei-Staat ist das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« vom 1. Dezember 1933, das seine Ergänzung in der Führerverordnung vom 29. März 1935 findet. Diesem Gesetz zufolge ist die Partei »die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staat unlöslich verbunden«. Sie wurde zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gemacht, ihr Statut ist vom Führer zu erlassen. Zur organisatorischen Zementierung dieser Einheit wurden Heß, der Stellvertreter des Führers, und Röhm, damals Chef der Braunhemden, zu Mitgliedern der Reichsregierung ernannt. Dasselbe Gesetz unterstellte die Mitglieder der NSDAP und die Braunhemden einer besonderen Partei- und SA-Gerichtsbarkeit. Das Einheitsgesetz war der logische Schlußpunkt unter alle jene Gesetzesmaßnahmen, die die konkurrierenden politischen Parteien zerschlagen hatten: die polizeilichen Bestimmungen der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 28. Februar 1933; das Gesetz vom 26. Mai 1933 zur Beschlagnahmung des sozialdemokratischen Vermögens; die vom preußischen Innenminister am 23. Juni 1933 unterzeichnete Verordnung, die sämtliche Aktivitäten der Sozialdemokratischen Partei, ihrer Vertreter im Reichstag, in den Landtagen, in den Bezirks-, Kreis- und Gemeindevertretungen verbot; das Verbot der nationalistischen Kampfringe (1. Juni 1933) ; die freiwillige Auflösung der Deutschnationalen Volkspartei (27. Juni 1933), der Bayrischen Volkspartei (4. Juli 1933) und der katholischen Zentrumspartei (5. Juli 1933). Alle diese Maßnahmen kulminierten in dem Gesetz vom 14. Juli 1933, das die Neubildung von Parteien verbot und jeden Versuch der Wiederbelebung oder Neugründung einer anderen als der Nationalsozialistischen Partei mit Zuchthaus oder Gefängnis bedrohte.
Wörtlich genommen unterscheidet sich das Gesetz kaum von dem italienischen Gesetz von 1932, welches das Verhältnis zwischen der National-Faschistischen Partei und dem italienischen Staat regelt. Es stellt die Partei nicht über andere öffentliche Körperschaften wie Kirchen, Gemeinderäte oder Behörden, die Krankenversicherungsgelder verwalten. Nach deutschem Staatsrecht ist die öffentliche Körperschaft nur eine bedingt freie Einrichtung. Es gibt ihm zufolge keiner Körperschaft des öffentlichen Rechts, die nicht vom Staat beaufsichtigt wird.11 Ihre Aufgaben sind gesetzlich eindeutig festgelegt, das Maß ihrer Autorität ist streng begrenzt, und ihre Tätigkeit unterliegt der Kontrolle von Verwaltungsgerichten und anderen Behörden. Faktisch besitzen Körperschaften des öffentlichen Rechts im modernen Staat keine generelle Unabhängigkeit. Jede einzelne bezieht ihre Macht als vom Staat delegierte; einige Theoretiker hat diese Tatsache ganz folgerichtig dazu veranlaßt, den Begriff der Unabhängigkeit als mit dem Rechtssystem des modernen Staates unvereinbar abzulehnen. Wenn wir die Partei als öffentlich-rechtliche Körperschaft beschreiben, heißt dies, daß Aufgaben und Autorität der Partei gesetzlich umrissen sind, und daß ihre Aktivitäten vom Staat überwacht werden. Die Partei stünde demnach auf derselben Ebene wie jede andere relativ unabhängige staatliche Institution.
Derlei Erwägungen schienen indes nicht mit der Behauptung, die »Bewegung« repräsentiere und führe den Staat, übereinzustimmen. Folglich wich die Verfassungs- und Rechtstheorie (und -praxis) von dem Wortlaut des Einheitsgesetzes von 1933 ab und formulierte es so um, daß die Partei völlig unabhängig vom Staat wurde und sogar über ihm stand.12 Die tatsächliche Entwicklung des Verhältnisses von Partei und Staat zeigt an, daß der Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts hier nicht anwendbar ist. Die Partei wirkt nicht nur in Sachen Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz mit, sondern sie nimmt eine dem Staate übergeordnete Stellung ein. Das gilt ganz besonders für die SS und die Hitlerjugend.
4. SS und Hitlerjugend
Die SS, der »Eliteorden«, ist eine Polizei und folglich der Staat in seiner wichtigsten innenpolitischen Funktion. Sie dient als Schutzpolizei und stellt Personal für die Geheime Staatspolizei. Seit ihrer Gründung im Jahre 1925 und ihrer Erweiterung 1929 bildet die SS eine geschlossene Gruppe, die nach ihren eigenen Gesetzen lebt. Die Auswahl ihrer Mitglieder erfolgt primär nach biologischen Prinzipien, wie sie der »Saatzüchter« anwendet; der Zweck ist »die Auswahl derjenigen, die körperlich dem Wunschbild, dem nordisch-bestimmten Menschen nahekommen«.13 Die bestimmenden Elemente der Ideologie ihrer Mitglieder sind Glaube, Ehre und bedingungsloser Gehorsam. Ihr Elitebewußtsein wird in einer Verordnung vom 9. November 1935 bekräftigt, die jeden SS-Mann berechtigt und verpflichtet, seine Ehre mit der Waffe zu verteidigen. Derselben Verordnung zufolge muß er mindestens 21 Jahre alt sein, eine Lehrzeit von 18 Monaten ab leisten, seinem Führer einen Eid schwören und seinen Arbeits- und Wehrdienst hinter sich haben. Mit dem Empfang seines SS-Dolches ist er endgültig aufgenommen. Die der SS zugebilligten Privilegien wurden vom Reichsgericht noch erweitert. Der § 53 des Strafgesetzbuches gestattet dem gewöhnlichen Bürger Waffengebrauch nur in Notwehr, aber eine Gerichtsentscheidung bestimmte, daß SS-Männern der Gebrauch ihrer Waffe selbst dann erlaubt ist, wenn der Angriff mit anderen Mitteln abgewehrt werden könnte. »Der Träger der SS-Uniform kann den Volksgenossen nicht das Schauspiel einer öffentlichen ›Balgerei‹ bieten. Das ist mit dem Ansehen der SS-Uniform unvereinbar.«14
Eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung vom 26. Mai 1939 definiert die SS im Verhältnis zur Polizei.15 Ihre Aufgabe ist die Verteidigung des Staates gegen alle offenen und verborgenen Feinde. Die drei SS-Abteilungen unterscheiden sich jedoch so stark voneinander, daß sie kaum mehr als den Namen gemein haben.16 Die »Allgemeine« SS ist eine reine Parteiorganisation, deren Leitung beim Reichsschatzmeister der NSDAP liegt (er ist auch der Chef der Parteiverwaltung).17 Aus der Allgemeinen SS haben sich zwei Spezialgruppen herausgebildet: die »SS-Verfügungstruppen« und die »SS-Totenkopfstandarten«; beide unterstehen der Kontrolle des Reichsinnenministers.18 Die Parteitruppen stehen dem Staat zur Verfügung, und der Reichsführer der SS (Himmler) ist zugleich Chef der Reichspolizei (Gesetz vom 17. Juni 1936).
Die Polizei umfaßt zwei Organisationen: die Ordnungspolizei (unter SS-Obergruppenführer Daluege) und die Sicherheitspolizei (unter Leitung von SS-Gruppenführer Heydrich). Die Polizeiführung ist dieselbe wie die SS-Führung, und die SS-Verbände sind dieselben wie die Polizeiverbände – mit anderen Worten, der Staat hat auf diesem Gebiet zugunsten der Partei abgedankt.
Die Hitlerjugend, die aus dem Jugendbund der NSDAP hervorgegangen ist (1922 gegründet und 1926 in seine gegenwärtige Gestalt gebracht), ist ein weiteres Beispiel für den Vorrang der Partei. In ihrer Anfangszeit war sie lediglich eine Unterabteilung der Braunhemden, direkt kontrolliert vom Führer der SA. Baldur von Schirach, der am 30. Oktober 1931 zum Jugendführer ernannt wurde, war SA-Gruppenführer. Da die HJ eine Abteilung der SA war, mußte das gegen letztere am 13. April 1932 ausgesprochene Verbot auch für erstere gelten. Nach dem Verbot wurde die Hitlerjugend aus der SA ausgegliedert. Aber das war ein langwieriger Prozeß; zwar wurde Baldur von Schirach im Juni 1933 zum »Reichsleiter«19 der NSDAP ernannt und damit zu den höchsten Kreisen der Führung zugelassen, aber die HJ erhielt ihre Unabhängigkeit von der SA und die Anerkennung als eine Gliederung der Partei erst mit einer Durchführungsverordnung vom 29. März 1935.
Die Hitlerjugend umfaßt mehrere Gruppen: Die »Kern-HJ« (Jungen im Alter von 14 bis 18 Jahren); das »Jungvolk«; den Bund deutscher Mädel« (BDM); die »Jungmädel«; und die BDM-Organisation »Glaube und Schönheit«. Der Gesamtverband wird vertreten und finanziell kontrolliert vom Reichsschatzmeister der NSDAP.20
Mit seiner Ernennung zum Jugendführer des Deutschen Reichs wurde Baldur von Schirach zum höchsten Staatsvertreter für Jugendorganisationen und bekleidete sowohl die Funktion eines Parteiführers als auch die eines Staatsführers. Er nutzte seine neuen Machtbefugnisse zur Koordination der gesamten Jugendbewegung und setzte damit den Anspruch der Partei auf vollständige Kontrolle in die Tat um. Er löste den Großdeutschen Bund auf, schloß die Scharnhorst-Jugend, die Arbeitsfront-Jugend und die Land-Jugend zu einer einzigen Bewegung zusammen und erreichte ein Abkommen mit den konfessionellen Jugendorganisationen.
Trotz seines politischen Monopols über sämtliche Jugendorganisationen gilt der Reichsjugendführer nicht als Staatsbeamter. Er gehört nicht zum Staatsdienst und untersteht nicht den Disziplinarbestimmungen für Beamte. Die Verbindung zwischen Hitlerjugend und Staat beruht einzig und allein auf der Tatsache, daß eine Person zwei Ämter innehat. Dennoch wird die HJ vom Staat finanziell unterstützt und genießt zahllose politische Privilegien.
Am 1. Dezember 1936 erließ die Reichsregierung das »Gesetz über die Hitlerjugend«, in dem es hieß: »Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefaßt«. Dasselbe Gesetz erhob den Reichsjugendführer zu einer Hitler unmittelbar unterstellten Obersten Reichsbehörde. Eine Verordnung vom 11. November 1939 gab ihm in allen die Jugend betreffenden Angelegenheiten die oberste Befehlsgewalt über die Beamten in Preußen, die Landesregierungen und die Reichskommissare in den besetzten Gebieten. Trotz alledem wird die Jugendbewegung nicht als »Staatsjugend« (wie z. B. die italienische Balilla), sondern als »Parteijugend« betrachtet.21 Reichs- und Landesbehörden sind einfach Mittel, mit deren Hilfe der Reichsjugendführer die Bedürfnisse der Partei erfüllt. Die HJ hat ihre eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz, ausdrücklich festgelegt in der »Jugenddienstverordnung« vom 25. März 1939, die es für jeden Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren zur Pflicht macht, in der Hitlerjugend zu dienen. In Anlehnung an Carl Schmitts »Dreigliederungs«-Theorie werden Elternhaus, Schule und Hitlerjugend als die drei Grundpfeiler der Jugenderziehung bezeichnet.
Als die Hitlerjugend so weit vergrößert worden war, daß sie die gesamte deutsche Jugend erfaßte, verlor sie ihren Parteicharakter. Es bedurfte einer neuen Organisation zur Formung zukünftiger Führer: die Durchführungsverordnung vom 25. März 1939 sorgte für die Schaffung einer solchen Elite, der »Stamm-HJ« innerhalb der Hitlerjugend. Die Mitgliedschaft ist freiwillig, und diese zentrale Gruppe ist wieder ein Parteiorgan im strengen Sinne des Wortes.22
5. Die Partei und der andere öffentliche Dienst
Das im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Verhältnis von Partei und Staat kehrt sich in bezug auf den Arbeitsdienst, die Wehrmachtsverwaltung und das Beamtentum um: hier steht der Staat über der Partei. § 26 des Reichswehrgesetzes sieht die Aussetzung der Parteimitgliedschaft für die Dauer des Wehrdienstes vor. § 17 des Arbeitsdienstgesetzes (26. Juni 1935) verbietet – mit einigen wenigen Ausnahmen – die aktive Parteiarbeit während des Arbeitsdienstes. Zwar setzt § 11 des Beamtengesetzes das Inkompatibilitätsprinzip außer Kraft und erlaubt Beamten die Annahme eines unbezahlten Amtes in der Partei und den ihr angeschlossenen Verbänden ohne Sondergenehmigung; doch das wahre Verhältnis von Beamtentum und Partei geht am deutlichsten aus der »Anordnung über die Verwaltungsführung in den Landkreisen« vom 28. Dezember 1939 hervor. Diese Anordnung legt die »Menschenführung« in die Hände des Kreisleiters der NSDAP, der den übergeordneten Parteidienststellen für »die Stimmung und Haltung der Bevölkerung im Kreise« verantwortlich ist. Die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben der staatlichen Verwaltung im Kreise liegt hingegen ausschließlich beim Landrat, in dessen Angelegenheiten Parteifunktionäre sich nicht einmischen dürfen; sie haben lediglich ein Vorschlagsrecht. Diese Anordnung zeigt deutlich, daß die absolute und ausschließliche Befehlsgewalt der staatlichen Exekutive trotz der ideologischen Degradierung des Staates in keiner Weise geschmälert ist. Mit Ausnahme von Polizei und Jugendbewegung hat das Beamtentum die höchste Macht, ist der Staat noch immer totalitär.
Die Schwierigkeiten, die sich aus dem äußerst zweideutigen Verhältnis von Partei und Staat ergeben, sind rechtlich durch das Führerprinzip gelöst; zudem sind viele hohe Parteiführer gleichzeitig hohe Staatsbeamte. An dieser Stelle wollen wir nur den gesetzlichen Rahmen darlegen; die soziologischen und politischen Implikationen werden später analysiert.23
An der Spitze wird die Einheit von Partei und Staat durch Adolf Hitler verkörpert, der zugleich Parteiführer und Staatschef ist. Der Stellvertreter des Führers der Partei ist Mitglied der Regierung, obwohl er kein Minister im eigentlichen Sinne ist.24 Alle Reichsstatthalter und die Mehrzahl der preußischen Oberpräsidenten sind zugleich »Gauleiter« der Partei. Der Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP (Bohle) bekleidet dieselbe Stellung im Auswärtigen Amt (30. Juni 1937). Allerdings gibt es auch Abweichungen. So verfügt eine Anordnung vom 29. Februar 1937 zum Beispiel, daß der Kreisleiter der Partei nicht vollberuflich eine Verwaltungstätigkeit beim Land oder den Gemeinden ausüben darf. Andererseits unterstehen sowohl die staatlichen Behörden als auch die Parteidienststellen den Weisungen des Generalbevollmächtigten für die Bauwirtschaft (Todt) und des Beauftragten für den Vierjahresplan (Göring).
Parteiführer haben nicht nur häufig hohe Regierungsämter inne, sondern die Rechtshoheit der Partei hat auch einen offiziellen Status erhalten. Der Stellvertreter des Führers hilft bei der Ausarbeitung von Legislativ- und Exekutivvorschriften (z. B. den Verordnungen vom 25. Juli 1934 und 6. April 1935) und bei der Auswahl der direkt vom Führer zu ernennenden Beamten (§ 31 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937). Dasselbe gilt für die Reichsarbeitsdienstleiter (3. April 1936). In der Gemeindeverwaltung ist und bleibt der Vertreter der Partei ein Parteifunktionär (§ 6 der Reichsgemeindeordnung).
Aus alledem können wir folgern, daß es unmöglich ist, die NSDAP als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu beschreiben. Diese Tatsache wird noch deutlicher, wenn wir die Frage der richterlichen Kontrolle, die entscheidende Frage für jede Körperschaft des öffentlichen Rechts, untersuchen. Die einhellige Meinung hierzu lautet, daß die Partei keiner wie auch immer gearteten Kontrolle unterliegt. Eine Zwangsvollstrekkung über das Vermögen der Partei wegen öffentlich- oder privatrechtlicher Forderungen ist nicht zulässig.25 Darüber hinaus sind die interne Verwaltung der NSDAP, ihre Gesetzgebungsstruktur und ihre Gerichtsbarkeit nicht mit anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts vergleichbar. Dokumente, die von den Parteiführern herausgegeben werden, sind Staatsdokumente, parteipolitische Führer sind Staatsdiener. Parteigerichte haben dieselben Befugnisse wie ordentliche Gerichte: sie haben das Recht, Zeugen und Sachverständige unter Eid zu vernehmen; einem unteren Parteifunktionär ist es nicht gestattet, vor einem Staatsgericht oder einem Verwaltungsorgan ohne Zustimmung der Parteichefs auszusagen. So werden staatliche Prärogativen, die die Beamten genießen, auf die Parteihierarchie übertragen, und so genießen Parteiuniformen und -einrichtungen denselben Schutz wie die Uniformen und Einrichtungen des Staates (Gesetz vom 20. Dezember 1934); das Parteivermögen ist steuerfrei (Gesetze vom 15. April 1935 und 1. Dezember 1936).
Die autonome Stellung der Partei kommt am besten in der Tatsache zum Ausdruck, daß sie nicht für schuldhafte Handlungen ihrer Amtsträger haftet, obwohl diese Haftung nach deutschem Recht für Amtsträger privater Körperschaften und für Staatsbeamte gilt (Artikel 131 der Weimarer Verfassung). Einige Oberlandesgerichte und das Reichsgericht haben auf Haftung der Partei für schuldhaftes Verhalten ihrer Amtsträger entschieden, insbesondere bei unpolitischen Angelegenheiten26, doch die Mehrzahl der Juristen und die meisten unteren Gerichte akzeptieren keinerlei Haftung. Die Partei beansprucht für sich ausdrücklich alle Privilegien des Staatsdienstes, lehnt aber jegliche Haftung ab. Sie kann nicht für schuldhafte Handlungen ihrer Beauftragten belangt werden, es sei denn, sie stimmt dem staatlichen Gericht in einem Sonderfall aus freiem Willen zu.27 Die NSDAP nimmt damit die Position ein, die normalerweise einem souveränen Staat gegenüber einem anderen zukommt. Sollte sich diese Situation auf sämtliche Bereiche erstrecken, dann wird die Partei letzten Endes über dem Staat stehen.
Die Partei ist kein Organ des Staates. Ihre Rechtsstellung läßt sich nicht mit den Begriffen unserer traditionellen Verfassungslehre definieren. Walter Buch28, oberster Parteirichter und als solcher einer der Herren über Leben und Tod, vergleicht die Partei mit dem Staat selbst. Träfe dieser Vergleich zu, dann gäbe es eine absurde Situation, denn das würde die Existenz eines dualistischen Systems bedeuten, zweier koexistierender souveräner Gewalten, die beide Loyalität beanspruchen und zweierlei Recht schaffen. Frick, Reichsinnenminister und langjähriges Parteimitglied – dem es nicht gelungen ist, sich völlig von der Tradition konservativen Denkens zu befreien, das er sich als bayerischer Beamter zu eigen gemacht hatte – bediente sich folgender Analogie, um das Dilemma zu lösen: die Parteiorganisation und der Staatsapparat gleichen zwei Säulen, die das Dach des Staates tragen, aber die staatlichen Behörden können und dürfen nur von ihren vorgesetzten Dienststellen innerhalb der Staatshierarchie Weisungen entgegennehmen.29 Diese Interpretation löste heftige Proteste aus, weil sie dem Staat wieder die Obergewalt zusprach. Reinhardt, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium und hoher Parteifunktionär, bestand darauf: »Die fundamentale Grundlage dieser Einheit ist nicht der Staat, sondern die NSDAP.«30 Nach seiner Auffassung würde der Staat zu einem Organ der Partei; dem widerspricht die Tatsache, daß Armee und Beamtentum nur den Weisungen der entsprechenden staatlichen Behörden unterworfen sind.
Und wenn Carl Schmitt versuchen sollte, das Rätsel mit seiner Beschwörungsformel, »daß Staat, Bewegung, Volk unterschieden aber nicht getrennt, verbunden, aber nicht verschmolzen sind«31, zu lösen, dann würde er in der Tat sehr wenig aufhellen – so wenig wie jene intelligenten nationalsozialistischen Theoretiker, die meinen, daß Staat und Partei in einer »Verfassungsgemeinschaft« leben, weshalb die Idee der Partei die des Staates sei.32 Viele kompetente Beobachter sind zu dem Schluß gekommen, daß nichts Definitives ausgesagt werden könne, da die politische Theorie und Verfassungslehre des Nationalsozialismus sich noch im Stadium dauernder Veränderungen befänden33. Unsere Aufgabe wird es sein nachzuweisen, daß dies nicht ganz zutrifft, daß es ein bestimmtes Modell der politischen Theorie und Verfassungstheorie gibt, wenngleich dieses Modell nicht in die rationalen Kategorien politischen Denkens, wie wir sie kennen, paßt – handele es sich um liberale, absolutistische, demokratische oder autokratische.34
Bevor wir die Struktur der neuen nationalsozialistischen Theorie weiter entwickeln, müssen wir die Bedeutung der nationalsozialistischen Denunziation des Staates untersuchen. Ein Vergleich der nationalsozialistischen mit der faschistischen Theorie wird die ganze Angelegenheit klären.
6. Partei und Staat in Italien
In Italien ist nach wie vor die Hegelsche Staatstheorie, wenn auch in verzerrter Form, vorherrschend. »Grundpfeiler der faschistischen Lehre«, so sagt Mussolini, »ist die Auffassung vom Staat, seinem Wesen, seinen Aufgaben und seinen Endzwecken. Für den Faschismus ist der Staat ein Unbedingtes, vor dem Einzelmenschen und Gruppen das Bedingte sind … Für den Faschismus ist der Staat nicht ein Nachtwächter … Er ist auch nicht eine Vorkehrung zu rein materiellen Zwekken … Und noch weniger ist er die Schöpfung reiner Politik … Der Staat, wie der Faschismus ihn will und lebendig macht, ist eine geistige und sittliche Tatsache, da er die politische, rechtliche und wirtschaftliche Obsorge am Volk verwirklicht. Und solche Obsorge ist nach Ursprung und Entfaltung eine Äußerung des Geistes«.35
Die von den Doktrinen der italienischen Nationalisten stark beeinflußte Darstellung Mussolinis ist von der offiziellen Verfassungslehre in Italien voll und ganz übernommen worden. Alles ist »vom Staat erfaßt«.36 Der Staat ist ein Organismus; er hat ein Eigenleben.37 Giovanni Gentile gab dieser Lehre ihre weltanschauliche Prägung. Der Staat ist ein sittlicher Staat, die Verkörperung des nationalen Bewußtseins, und er besitzt eine Mission. Der Staat ist in Wirklichkeit das von allen »zufälligen Unterschieden« befreite Individuum; der Staat ist Tat und Geist.38 In Einklang mit dieser Lehre ist die faschistische Partei ein untergeordneter Teil des Staates, eine Institution innerhalb des Staates.39
Zu einem früheren Zeitpunkt seiner politischen Laufbahn, als er ein Gegner der Regierung war, hatte Mussolini diese Apotheose des Staates, die er später zur offiziellen politischen Doktrin machen sollte, verworfen. »Ich gehe vom Individuum aus«, sagte er, »und schlage auf den Staat los. Nieder mit dem Staat in allen seinen Formen und Inkarnationen! Dem Staat von gestern, von heute, von morgen! Dem bürgerlichen und dem sozialistischen Staat! Im Dunkel des Heute und in der Ungewißheit des Morgen ist die augenblicklich absurde, aber ewig tröstliche Religion der Anarchie der einzige Glaube, der uns zum Tode verurteilten Individualisten bleibt«.40 Eine so totale Kehrtwendung wie diese ist bei Mussolini nichts Neues. Seine Einstellung zu Themen wie Privateigentum, Monarchie, Kirche, Senat, Stabilität der Lira und so weiter hat eine ganze Reihe von tiefgreifenden Wandlungen erfahren.
Die Sophistik Gentiles erwies sich bei diesen Metamorphosen als nützlich; mit ihrer Hilfe sind praktisch alle Gegensätze auszugleichen. Selbst Anarchismus und Staatsabsolutismus sind miteinander vereinbar, wenn man den Staat als das wahre und einzige Individuum bezeichnet. Wir beschäftigen uns hier aber nicht mit den Verästelungen der faschistischen Ideologie, sondern versuchen vielmehr herauszufinden, warum die offizielle italienische Ideologie, im Gegensatz zum Nationalsozialismus, den Staat über alles stellt. In einer Rede vor den Liberalkonservativen, die er am 4. April 1924 in Mailand hielt, gab Mussolini selbst die Antwort:
»Infolge des kinematographischen Wechsels der Regierungen war das einzige Stabilitätselement die Bürokratie. Ohne die Bürokratie hätten wir das absolute Chaos gehabt … In der ewigen und rotierenden Unstabilität der Regierungen repräsentierte die Bürokratie die Kontinuität des administrativen und politischen Lebens der Nation.«41
Der Faschismus erhöhte den Staat, weil in der ganzen Geschichte Italiens der Staat immer schwach gewesen war. Die Einigung Italiens, die ungefähr zur gleichen Zeit stattfand wie die Einigung Deutschlands, hatte nicht die Bildung einer starken Staatsgewalt zur Folge. Italien blieb ein durch scharfe geographische, ökonomische und soziale Gegensätze gespaltenes Land.42 Die erzielte politische Einheit war äußerst gefährdet. Der Heilige Stuhl und seine 70 000 Priester waren heftige Gegner des neuen italienischen Staates, weil er der Kirche ihren Landbesitz geraubt hatte. Noch im November 1914 konnte von Bülow, der deutsche Botschafter, Italien mit der Restauration des Kirchenstaates drohen, falls es nicht dem Zweibund Deutschland-Österreich beitrete. Zudem war die Masse der italienischen Bevölkerung gegen den Krieg von 1914, und diese Gegnerschaft beschränkte sich nicht auf kleine revolutionäre Gruppen, wie es in Deutschland der Fall war. Im Gegensatz zu Deutschland stand Italien unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges am Rande eines Bürgerkrieges. Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war eine Zeit voller Streiks, Aufstände, Finanz- und Industrieskandale, steigender Preise und wachsender Unruhe unter dem Industrieproletariat im Norden und der Bauernschaft im Süden gewesen.43 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges gelang es den italienischen Arbeitern, eine Rote Woche auszurufen und zu organisieren. Es ist gemeinhin nicht bekannt, daß bei Kriegsende 1 100 000 Prozesse gegen Deserteure bei den italienischen Militärgerichten schwebten.44 Jeder fünfte aufgebotene Italiener war fahnenflüchtig.
Die Erfordernisse der Konkurrenz auf dem Weltmarkt zwangen den Faschismus, die italienische Staatsgewalt zu stärken. Ein demokratisches Italien wäre zwar vor derselben Notwendigkeit gestanden, hätte aber andere Methoden angewandt und aus anderen Motiven gehandelt. All das erklärt freilich, warum die Verherrlichung des Staates eine so zentrale Stellung in der faschistischen Ideologie einnimmt.
Im Gegensatz zu Italien war die deutsche Staatsmaschinerie niemals ernsthaft in Gefahr, nicht einmal in den Revolutionstagen von 1918 und 1919. Die Bürokratie arbeitete nach wie vor unter ihren eigenen Häuptern, wenn auch scheinbar auf Anweisung der Arbeiter- und Soldatenräte. Die im Reich und in den Ländern gebildeten neuen demokratischen Regierungen störten das alte Personal wenig, und die von ihnen unternommenen Schritte, den alten Beamtenapparat durch neue, demokratische Beamte zu ersetzen, erfolgten langsam und zaudernd. Wo Arbeiterregierungen, wie in Thüringen und Sachsen, den Demokratisierungsprozeß der Verwaltung beschleunigten, schritt das Reich ein und setzte die Regierungen ab. Die Verfassung von 1919 garantierte den Beamten schließlich ihren Status und ihre individuellen Rechte. Die folgende Periode des Staatsinterventionismus bot der Staatsbürokratie neue Betätigungsmöglichkeiten, und in dem Maße, wie die parlamentarische Demokratie zerfiel, verlagerte sich die staatliche Macht Schritt für Schritt auf die Ministerialbüros und die Armee.
Die Nationalsozialisten standen somit einer Anhäufung staatlicher, bei einer Bürokratie mit hoher Qualifikation und langjähriger Erfahrung zentralisierten Macht gegenüber. Ihr Versuch, neben dem bürokratischen Staatsapparat einen konkurrierenden und sämtliche Staatsaktivitäten umfassenden Parteiapparat aufzubauen, führte zu nichts. Zunächst hatte die Partei ein eigenes Außenministerium (Alfred Rosenberg), ein Justizministerium (Hans Frank), ein Arbeitsministerium (Hierl) und ein Kriegsministerium (Röhm). Hitler selbst setzte diesen Versuchen am 30. Juni 1934 ein Ende.
7. Die rationale Bürokratie
Die Lehre von der Oberhoheit des Staates mußte in Deutschland verworfen werden, weil die Ansprüche der Partei mit denen des Staates konfligierten. Wäre das nicht der Fall gewesen, dann hätte nichts Hitler daran hindern können, an der Theorie des totalitären Staates festzuhalten. Heute sind die staatsverherrlichenden Lehren, vor allem der Hegelianismus, über Bord geworfen worden.
Vielleicht trifft es zu, daß Hegels Verherrlichung des Staates – wie Hobhouse nachzuweisen versuchte – der für den preußischen Militarismus und den Ersten Weltkrieg am meisten verantwortliche ideologische Faktor war.45 Aber man kann Hegel nicht für die politische Theorie des Nationalsozialismus verantwortlich machen. Eine ganze Reihe von Hegelianern ist nach wie vor in der nationalsozialistischen Bewegung aktiv; einige von ihnen versuchen sogar, Hegels Theorie der neuen nationalsozialistischen Ideologie anzupassen.46 Aber ihre Bemühungen sind lächerlich; denn niemand kann bezweifeln, daß Hegels Staatsidee mit dem deutschen Rassenmythos grundsätzlich unvereinbar ist. Hegel schrieb dem Staat die »Verwirklichung der Vernunft« zu, und verglichen mit den Theorien von Haller und den angeblich liberalen Lehren der Burschenschaften (den von dem Philosophen Fries angeführten Studentenverbänden) war seine politische Theorie fortschrittlich. Hegel verachtete sie beide, denn Haller repräsentierte einen reaktionären politischen Vorstoß, die politische Macht der rückschrittlichsten Gesellschaftsschichten zu rechtfertigen, während die »liberale« Doktrin der Burschenschaften – wie selbst Treitschke erkannte47 – den Keim des Rassismus, Antisemitismus und teutonischer Selbstüberhebung in sich barg. Hegels Theorie ist rational; sie hält zudem am freien Individuum fest. Sein Staat verkörpert sich in einer Bürokratie, die die bürgerlichen Freiheiten garantiert, weil sie auf der Grundlage rationaler und berechenbarer Normen tätig wird.48 Diese Betonung des rationalen Verfahrens der Bürokratie, Hegel zufolge die Voraussetzung einer guten Regierung, macht seine Lehre für den nationalsozialistischen »Dynamismus« unannehmbar.
Einige wenige Worte sind nötig, um den Begriff der »rationalen« Bürokratie, wie Hegel ihn verstand, und sein Verhältnis zu einem demokratischen System zu klären. Heute werden Übergriffe der Bürokratie in fast allen Ländern als eine Bedrohung der Freiheit des Individuums verdammt.49 Und wenn wir Demokratie ausschließlich als ein Organisationsmodell definieren, nach dem die politische Macht unter frei gewählten Volksvertretern aufgeteilt wird, so läßt sich ohne weiteres feststellen, daß eine Bürokratie, die dauerhaft, hierarchisch gegliedert und einer eigenmächtigen Befehlsgewalt unterworfen ist, als Widerspruch zur Demokratie erscheinen muß. Demokratie ist aber nicht ein bloßes Organisationsmodell; sie ist auch ein Wertsystem, und die von ihr verfolgten Ziele können sich verändern. Der Konkurrenzkapitalismus zielte einzig und allein darauf ab, die Freiheit der Gesellschaft vor staatlicher Einmischung zu schützen. In der Ära des Kollektivismus, der den Konkurrenzkapitalismus als Resultat tiefgreifender ökonomischer Wandlungen ablöste, und in dem die Massen die Berücksichtigung ihrer materiellen Lage verlangen, erweist sich das durch die liberale Demokratie repräsentierte Wertsystem als unangemessen. Arbeitslosen-, Kranken- und Invalidenversicherung, Wohnungsbauprogramme werden zur Notwendigkeit und müssen als unverzichtbarer Teil der Demokratie akzeptiert werden. Darüber hinaus muß eine gewisse Kontrolle des ökonomischen Handelns eingeführt werden. Offensichtlich bieten sich zur Verwirklichung dieser neuen Ziele zwei Methoden an: Eine, als pluralistische Lösung, enthält die Selbstverwaltung durch die privaten interessierten Parteien; die andere, eine monistische Lösung, bedeutet bürokratische Bevormundung. Die Wahl zwischen diesen beiden Methoden fällt nicht leicht, um so weniger, als das Maximum an bürokratischer Macht nur dann erreicht wird, wenn staatliche und private Bürokratien einander durchdringen. Die Bevorzugung der Selbstverwaltung folgt nicht unbedingt aus dem Wesen der Demokratie. Das wäre der Fall und in der Tat die Ideallösung, wenn die privaten Bürokratien in allen wichtigen Punkten eine Einigung erzielen könnten, ohne die Interessen der Gesellschaft insgesamt zu verletzen. Aber diese Erwartung ist utopisch. Wann immer private Gruppen zu einer Einigung kamen, geschah es auf Kosten der Gesamtgesellschaft; gewöhnlich hatte der Verbraucher zu leiden, und ein Eingreifen der Regierung erwies sich als unabdingbar. Unsere Gesellschaft ist nicht harmonisch, sie ist antagonistisch, und der Staat wird immer die ultima ratio sein. In Deutschland zwang das pluralistische System privater Verwaltung – wie ich zu zeigen versuchte – die Regierung früher oder später zur Intervention; als Folge davon wuchs die Macht der Staatsbürokratie. Hinzu kommt die Tendenz der betroffenen Parteien wie Gewerkschaften, Kartelle, Unternehmerverbände und politische Gruppen, selbst bürokratische Einrichtungen zu werden50, deren Zweck entweder darin besteht, ihre Organisationen funktionsfähig oder sich selbst an der Spitze zu halten. Die spontanen Wünsche der breiten Masse werden dabei unweigerlich geopfert.
Konfrontiert mit der Wahl zwischen zwei Arten von Bürokratie, mag die Bürgerschaft die öffentliche der privaten Bürokratie vorziehen; denn private Bürokratien verfolgen egoistische Gruppeninteressen, während öffentliche Bürokratien, selbst wenn sie von Klasseninteressen beherrscht werden, dem Allgemeinwohl eher zuneigen. Das ist darin begründet, daß Staatsbürokratien festgesetzten und nachprüfbaren Regeln gehorchen, während private Bürokratien geheime Anweisungen befolgen. Der Staatsdiener wird nach einem Laufbahnsystem ausgewählt, das auf dem Prinzip der Chancengleichheit für jeden Bewerber beruht, wenngleich dieses Prinzip in der Praxis häufig pervertiert wird. Private Bürokratien kooptieren ihre Mitglieder, und dieser Vorgang entzieht sich der Kontrolle durch die Öffentlichkeit.
Max Webers soziologische Analyse der Bürokratie hat, obwohl sie von einem Idealtypus ausgeht, einen gewissen Wahrheitsgehalt, der auf alle bürokratischen Institutionen zutrifft. Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Verläßlichkeit und Rationalität kennzeichnen danach den Beamten, der »unpersönlich« seines Amtes waltet, d. h.: »sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft … unter dem Druck schlichter Pflichtbegriffe; ›ohne Ansehen der Person‹, formal gleich für ›jedermann‹«.51 Zwar kann die Bürokratie durchaus zu einer antidemokratischen Kraft werden, aber ob das tatsächlich geschieht, hängt in viel größerem Maße von der Stärke der demokratischen Kräfte als von den ihr innewohnenden Tendenzen ab. Selbst wenn sie reaktionär werden sollte, wird die Bürokratie dazu neigen, ihre Maßnahmen auf gesetzlichem Wege durchzuführen, in Übereinstimmung mit den festen Regeln, an die sie sich halten muß. Sie wird ein Minimum an Freiheit und Sicherheit bewahren und so die Auffassung stützen, daß jedes rationale Gesetz, gleich welchen Inhalts, eine unbestreitbare Schutzfunktion hat.
Aus den genannten Gründen erscheint das rationale Verfahren der Bürokratie als unvereinbar mit dem Nationalsozialismus. Die Ablehnung der staatlichen Obergewalt ist daher mehr als ein ideologisches Mittel, das den Verrat der Partei an Armee und Beamtentum verbergen soll; sie ist Ausdruck der realen Notwendigkeit des System, sich der Herrschaft des rationalen Gesetzes zu entledigen.
Wir dürfen uns indes nicht dazu verleiten lassen anzunehmen, daß die Zentralisierung des bürokratischen Apparates in Deutschland in irgendeiner Weise geschmälert wurde, die Existenz der NSDAP die Macht der Bürokratie in irgendeiner Weise beschränkt hat. Im Gegenteil: Aufrüstung und Krieg haben die autoritäre Kontrolle der Bürokratien in Reich, Ländern und Gemeinden spürbar verschärft.
8. Die Partei als Verwaltungsapparat
Wir haben es also mit zwei gleichzeitig auftretenden Entwicklungen zu tun: einerseits dem enormen zahlen- und funktionsmäßigen Wachstum der staatlichen Bürokratien, andererseits der ideologischen Verteufelungskampagne, die sich gegen die Bürokratie richtet und von einer Kampagne zur Machtstärkung der Partei begleitet wird. Die Partei selbst stellt eine riesige Bürokratie dar; der Kampf der NSDAP gegen den Staatsapparat hat den Bürokratisierungsprozeß innerhalb der Partei keineswegs verlangsamt. Im Gegenteil hat die private Bürokratisierung, in völligem Einklang mit der allgemeinen Regel, gleichzeitig mit dem Staatsinterventionismus zugenommen. In dem Maße, wie die öffentliche Reglementierung fortschritt, nahmen die privaten Verbände einen bürokratischen Charakter an. Aufgrund der Komplexität staatlichen Handels sind die Individuen gezwungen, Organisationen beizutreten, ohne die sie keine Chance hätten, sich in dem Labyrinth der Reglementierung durchzusetzen. Derselbe Prozeß zwang die Organisationen, Experten zu bestellen, unter ihren Mitgliedern eine Funktionsteilung zu schaffen und feste Regeln ihres Handels aufzustellen. Als Folge davon ist die Partei nicht nur ein Verband gläubiger Gefolgsleute, sondern ebensogut eine Bürokratie. Sie stellt eine Mischung zweier Herrschaftstypen dar: des »charismatischen« und des »bürokratischen«52, und der Umfang ihres Verwaltungsapparates kann sich mit dem des Staates messen. Daher unterscheiden die Parteijuristen streng zwischen Parteiführung und Parteiverwaltung. Einem Juristen im Stabe des Reichsschatzmeisters zufolge ist »äußeres Sinnbild der Unterscheidung von politischer Führung und Verwaltung … die Errichtung eines Führerbaues«, der sich durch »künstlerische Vielgestaltigkeit« auszeichnet, »und eines Verwaltungsbaues«, der von »strenger Sachlichkeit und nüchterner Zweckmäßigkeit« beherrscht ist.53 Wir werden auf diese allegorische Darstellung noch einmal zurückkommen. Für den Moment ist es wichtig festzuhalten, daß die vollkommene Kontrolle der Parteiverwaltung seit dem 16. September 1931 in den Händen des Reichsschatzmeisters liegt. Dies ist in den Verordnungen vom 2. Juni 1933 und 23. März 1934 bekräftigt worden. »Die Verwaltung der NSDAP liegt völlig in meiner Hand«, bemerkt Franz Schwarz, der Reichsschatzmeister, »weil sie einheitlich sein muß.«54 Schwarz kontrolliert die gesamte Partei, ihre Gliederungen, namentlich die SA und die SS, und die ihr angeschlossenen Verbände (die Deutsche Arbeitsfront, die Verbände der Ärzte, Juristen, Techniker, Lehrer, Dozenten, Beamten; das NS-Kraftfahrzeug-Korps, die Hitlerjugend, den NS-Studentenbund). Eine dritte Kategorie, die sogenannten von der NSDAP »betreuten« Organisationen55, unterstehen ähnlich der Parteiaufsicht. Dazu gehören der Deutsche Gemeindetag, das Deutsche Frauenwerk, der Reichsbund der Kinderreichen und der Reichsbund für Leibesübungen.
Die Führerverordnung vom 29. März 1935 legt den Umfang der Finanzkontrolle des Reichsschatzmeisters fest. Danach bilden die Partei und ihre Gliederungen eine Finanzeinheit unter Aufsicht des Schatzmeisters, der in Erfüllung seiner Aufgaben auch jede beliebige staatliche Behörde um Rechtshilfe anrufen kann. Der Reichsschatzmeister hat den finanziellen Oberbefehl über das Vermögen der Partei sowie ihrer Gliederungen und zugleich die Aufsicht über die Gelder aller der NSDAP angeschlossenen Verbände. Faktisch setzt er die Beträge fest, die jeder einzelne angeschlossene Verband aus den Reihen seiner Mitglieder aufbringen muß. Die Finanzkontrolle der Partei beschränkt sich nicht auf Parteiorganisationen, sondern erstreckt sich auch auf außerparteiliche Aktivitäten wie z. B. die Sammlungen des Winterhilfswerkes (Verordnungen vom 1. Dezember 1936 und 24. März 1937), obwohl die meisten Beiträge von Nicht-Mitgliedern gezahlt werden. Von der Finanzaufsicht des Reichsschatzmeisters ausgenommen dagegen sind der Reichsarbeitsdienst und das NS-Fliegerkorps (Verordnungen vom 17. April 1939). Dieser allgemeine Trend zur Ausnahme ist auch für die SS zu beobachten: diejenigen NS-Formationen, die im wesentlichen als Glieder der staatlichen Zwangsgewalt fungieren, werden schrittweise von der Parteikontrolle befreit.
Grundlage der Parteifinanzen sind die Beiträge der Parteimitglieder, wobei die alten Parteigenossen (die der NSDAP vor dem 1. April 1933 beitraten) einen Einheitssatz bezahlen, während für die neuen Mitglieder eine Staffelung der Beiträge nach der Höhe des Einkommens vorgenommen wurde. Hinzu kommen Bearbeitungsgebühren (Aufnahmegebühren, Zustellungsgebühren usw.), Lizenzgebühren für die Herstellung von Parteiuniformen, -abzeichen und dergleichen, durch besondere Sammlungen aufgebrachte Gelder (Gesetz vom 5. November 1934), Lotterien (Verordnung vom 6. März 1937) und staatliche Subventionen. Wie aus der Mitgliederzahl geschlossen werden kann, handelt es sich um riesige Beträge (Ende 1934 hatte die NSDAP rund 2 400 000 Mitglieder; diese Zahl blieb bis zum 1. Mai 1937 ungefähr konstant und stieg dann stark an). Seit dem 10. Mai 1939, als die Beitrittsbedingungen entschärft wurden, ist der Mitgliederzuwachs noch größer geworden. Nach Hitlers Vorstellung liegt das ideale Zahlenverhältnis von Parteimitgliedern zur übrigen Bevölkerung bei etwa 10 Prozent. Die Bestimmungen vom 11. August 1937 sehen die Rekrutierung neuer Mitglieder aus der Hitlerjugend vor, sofern sie diesem Verband für vier Jahre ohne Unterbrechung angehört und das 18. Lebensjahr erreicht haben. Ihre Aufnahme findet auf dem alljährlichen Parteitag der NSDAP statt. Die Partei hat nicht nur einen gewaltigen Spitzenapparat, sondern auch 760 Kreisleiter, 21 354 Ortsgruppenleiter, 70 000 Zellenleiter und 400 000 Blockleiter.56 Als Ergebnis stehen Staat und Partei Seite an Seite. Rechtlich kontrolliert keiner von beiden den anderen, jeder ist in seinem eigenen Bereich souverän – eine verfassungsmäßig in sich widersprüchliche Situation.