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I. Der totalitäre Staat

1. Die Techniken antidemokratischer Verfassungstheorie

Das Scheitern des Kapp-Putsches im Jahr 1920 und des Hitler-Putsches 1923 lehrte die Nationalsozialisten, daß der coup d’état in unserer Welt keine geeignete Technik zur Ergreifung der politischen Macht darstellt. Curzio Malaparte schrieb ein in breiten Kreisen gelesenes Buch zur Rechtfertigung des Staatsstreiches.1 Er meinte, daß der Weg zu einer erfolgreichen Revolution im Griff einer kleinen Gruppe von Stoßtrupps und hochgeschulten Verschwörern nach den Schlüsselpositionen des Staatsapparates besteht. Zum Beweis führte er die Russische Revolution von 1917, den Kapp-Putsch, die Machtergreifung der Faschisten in Italien, den Streich von Pilsudski in Polen und Primo de Rivera in Spanien an. Die Wahl seiner Beispiele hätte kaum schlechter sein können. Der Erfolg der Bolschewistischen Revolution kann zum Teil Praktiken nach der Art Malapartes zugeschrieben werden, aber noch weit mehr der Tatsache, daß die Kerenskij-Regierung schwach war und sich die russische Gesellschaft in voller Desintegration befand. Der Kapp-Putsch war ein Fehlschlag, Mussolinis »Marsch auf Rom« ein Mythos. Ähnlich steht es mit der gleichermaßen untauglichen militärischen Theorie, eine hochtrainierte, mit den modernsten Waffen ausgerüstete Armee sei einer großen Massenarmee notwendig überlegen. Die Siege der Deutschen im gegenwärtigen Krieg waren das Ergebnis der gewaltigen militärischen Übermacht einer Massenarmee, vereint mit hochmechanisierten Stoßtrupp-Divisionen – und ebenso der moralischen Zerrüttung ihrer Gegner.

Leider irrte Malaparte, als er 1932 voraussagte, daß Hitler, den er als »Möchtegern-Führer« apostrophierte, als »bloße Mussolini-Karikatur«, niemals an die Macht käme, weil er sich ausschließlich auf opportunistische parlamentarische Methoden verlasse. Natürlich hatten die Nationalsozialisten recht und Malaparte unrecht. In seiner Gedenkrede vom 8. November 1935 gab Hitler selbst zu, daß sein früher Putsch ein Fehler war: »Das Schicksal aber hat es dann gut gemeint mit uns. Es hat eine Aktion nicht gelingen lassen, die, wenn sie gelungen wäre, am Ende an der inneren Unreife der Bewegung und ihrer damaligen mangelhaften organisatorischen und geistigen Grundlagen hätte scheitern müssen. Wir wissen das heute! Damals haben wir nur männlich und tapfer gehandelt. Die Vorsehung aber hat weise gehandelt.«

Nach dem Münchener Fiasko ist die Nationalsozialistische Partei eine »legale« geworden. Sie gelobte feierlich, nicht zum Hochverrat oder einem revolutionären Umsturz der Verfassung aufzurufen. Als Zeuge bei einem Prozeß gegen des Hochverrats angeklagte nationalsozialistische Reichswehroffiziere schwor Hitler am 25. September 1930 seinen berühmten »Reinheitseid«, den Legalitätseid. Die Sturmtruppen, die SA, wurden als harmlose Sport- und Parade-Verbände ausgegeben. Kaum eine politische Partei bestand lautstärker als die Nationalsozialisten auf der Wahrung der bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Gleichheit.

Jedes Instrument der parlamentarischen Demokratie, jede liberale Institution, Gesetzesbestimmung, soziale und politische Regel wurde zur Waffe gegen Liberalismus und Demokratie; jede Gelegenheit wurde wahrgenommen, die Ineffizienz der Weimarer Republik mit Hohn zu überschütten. Die folgenden Äußerungen sind eine bescheidene Auswahl von Anklagen wider Liberalismus und Demokratie, die allein den Schriften nationalsozialistischer Professoren entnommen sind (die Schimpfkanonaden der Parteiredner können der Phantasie überlassen bleiben):

Der liberale Staat ist »neutral und negativ«, eine bloße Maschinerie; er ist, um es mit Lassalle zu sagen, ein »Nachtwächterstaat«. Daher ist er »ohne Substanz«, unfähig, eine Entscheidung zu fällen oder zu bestimmen, was gut oder böse, gerecht oder ungerecht ist. Die Idee der Freiheit ist zur Anarchie verkommen. Zersetzung und Materialismus greifen um sich. Und das marxistische Ideal, nur eine Spielart des Liberalismus, ist nicht besser.

Demokratie ist die Herrschaft der »unorganisierten Masse«, einer Summe von Robinson Crusoes, aber nicht von Menschen. Ihr Prinzip ist das »Nasenzählen«, und ihre Parlamente, von privaten Gruppen beherrscht, sind Arenen brutaler Machtkämpfe. Das Recht dient nur privaten Interessen, der Richter ist nichts anderes als eine Maschine. Liberalismus und Recht schließen in Wirklichkeit einander aus, wenngleich sie aus Gründen der Zweckmäßigkeit vorübergehend ein Bündnis eingegangen sind. Mit einem Wort, Liberalismus und Demokratie sind Ungeheuer, man könnte sagen: »negative« Leviathane, so stark, daß sie imstande waren, die Institution des germanischen Rassenerbes zu korrumpieren.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß der Nationalsozialismus während der 20er und frühen 30er Jahre einfach mit dem Ziel angetreten ist, die Wertlosigkeit der Demokratie zu beweisen oder einen Ersatz anzubieten: Monarchie oder Diktatur oder sonst irgend etwas. Ganz im Gegenteil brüstete er sich, der Retter der Demokratie zu sein. Carl Schmitt, der Ideologe dieses Schwindels, entwickelte dies folgendermaßen:

Die Weimarer Republik beruht auf zwei Prinzipien, dem demokratischen und dem liberalen, rechtsstaatlichen, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Demokratie bezieht sich auf den Grundsatz der Identität von Regierenden und Regierten. Gleichheit, nicht Freiheit ist ihre Substanz. Gleichheit kann es nur innerhalb einer vorhandenen Gemeinschaft geben, und die Basis für beide, Gemeinschaft und Gleichheit, kann unterschiedlich sein. Wir können Gleichheit von der physischen oder moralischen Homogenität der Gemeinschaft ableiten, wie die Tugend, die Montesquieu als das Prinzip einer Republik bezeichnete. Oder Gleichheit kann von einer religiösen Übereinstimmung herrühren, wie sie der demokratischen Ideologie der Levellers in der puritanischen Revolution zugrunde lag. Seit der Französischen Revolution ist nationale Homogenität die Basis. Rousseau, der diesen Begriff prägte und darauf das einzige wahrhaft demokratische System errichtete, hat unter nationaler Homogenität die Einstimmigkeit verstanden.2 Sein Begriff des allgemeinen Willens läßt daher keine politischen Parteien zu, da Parteien, wie schon ihr Name zeigt, nur den Willen eines Teils zum Ausdruck bringen. Ein wahrhaft demokratisches System wird also die völlige Identität von Regierenden und Regierten ausdrücken.3

Parlamentarismus ist nicht identisch mit Demokratie, sondern lediglich eine ihrer historischen Formen. Die Hauptprinzipien des Parlamentarismus sind öffentliche Diskussion, Teilung der Gewalten und Allgemeinheit des Gesetzes. Die öffentliche Debatte verlangt, daß die Instanzen politischer Macht sich der Diskussion als eines Mittels der Wahrheitsfindung aussetzen. Die öffentliche Debatte ermöglicht der Bürgerschaft die Überwachung und Kontrolle ihrer Vertreter. Aber, sagt Schmitt, die Praxis stimmt nicht mehr mit der Theorie überein. Die parlamentarische Debatte ist heute nichts weiter als ein Mittel, die zuvor außerhalb gefällten Entscheidungen zu registrieren. Jeder Abgeordnete ist durch starre Parteidisziplin gebunden. Er würde nicht wagen, sich von einem Gegner umstimmen zu lassen. Die parlamentarische Debatte ist ein Betrug. Die Reden werden nur für das Protokoll gehalten. Da die wichtigsten Entscheidungen in geheim tagenden Ausschüssen oder in informellen Verhandlungen zwischen den herrschenden Gruppen fallen, ist die Öffentlichkeit der Debatte selbst leerer Schein.

Der Grundsatz der Gewaltenteilung beschränkt das Parlament auf die Gesetzgebungsfunktion, mit anderen Worten, auf die Verabschiedung abstrakter, allgemeiner Regeln. Wieder hat sich die Praxis von der Theorie entfernt. Das Parlament ist nicht mehr ausschließlicher Gesetzgeber; es ist sogar eher eine Administration, und dazu noch eine untaugliche. Im Zeitalter des Monopolkapitalismus sind allgemeine Gesetze zu einem Mittel geworden, individuelle Entscheidungen zu verschleiern. Die Homogenität des Volkes ist so gut wie nicht vorhanden. Das pluralistische System hat an die Stelle der einen Grundbindung an die Nation eine Vielzahl von Bindungen gesetzt. Die Polykratie, d. h. die nebeneinander stehenden, unabhängigen öffentlichen Organe (Sozialversicherungsinstitutionen, Aufsichtsämter, staatseigene Wirtschaftsunternehmen usf.), die keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen, hat die Einheitlichkeit der politischen Entscheidungen zerstört. Sie hat viele der lebenswichtigen Glieder vom Staatskörper abgetrennt. Das föderative Prinzip, mit seinem Schutz partikularistischer Interessen, spricht dem Gedanken des einen Volkes Hohn.

Bürgerliche Freiheiten und unveräußerliche Rechte schließlich sind die Negation der Demokratie. Rousseau hätte bereits auf diesen Punkt, zumindest implizit, hingewiesen; denn die Theorie des Gesellschaftsvertrages besage, daß der Bürger mit Abschluß des Vertrages seine Rechte veräußert. Die traditionellen persönlichen und politischen Freiheiten waren ein Produkt des Konkurrenzkapitalismus. Dieses Zeitalter ist nun vorbei, und der Kapitalismus ist in die Phase des Interventionismus, des Monopolkapitalismus und Kollektivismus eingetreten. Da Gewerbe- und Vertragsfreiheit verschwunden sind, verloren auch ihre Folgegarantien, Rede- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Freiheit gewerkschaftlicher Organisation, ihre Bedeutung.4

Es ist ein interessantes Paradox, daß diese antidemokratische Analyse, darauf abgestellt, die Bedeutung der Grundrechte auf ein Minimum zu beschränken, sie zugleich gewaltig hervorhob, indem sie diese in Bollwerke der Verteidigung des Privateigentums gegen staatliche Eingriffe verwandelte und ihnen eine verfassungsmäßige Funktion zuschrieb, die der deutschen Tradition völlig fremd war.5 Zahllose Bücher, Pamphlete und Reden denunzierten die parlamentarischen Institutionen als ineffizient, undemokratisch und korrupt. Die bürokratische Ideologie war der unmittelbare Nutznießer. Die Rechtsprechung wurde zur obersten politischen Funktion erhoben, und trotz all der Angriffe auf die pluralistischen, polykratischen und föderativen Ursachen der Zerrüttung wurde jede Kritik am unabhängigen politischen Status der Armee peinlich vermieden. Die Grundrechte wurden als mit der demokratischen Weltanschauung unvereinbar erklärt, während zugleich den Grundrechten auf Eigentum und Gleichheit eine so umfassende und tiefe Bedeutung zugemessen wurde, wie diese sie nie zuvor besessen hatten.

Das logische Resultat dieses vorsätzlichen Manövers war der Ruf nach einem starken Staat, der in dem Wahlspruch gipfelte: »Alle Macht dem Präsidenten«. Der Präsident, so wurde unterstellt, ist eine wahrhaft demokratische Institution: Er ist vom Volk gewählt. In seinen Händen, als dem einzig wahren pouvoir neutre et intermédiaire, sollten legislative und exekutive Gewalt konzentriert sein. Die Neutralität des Präsidenten sei nicht bloß Farblosigkeit, sondern eine wahrhaft objektive Stellung über den kleinlichen Streitigkeiten der zahlreichen Interessen, öffentlichen Organe und Länder.6

So sah die Grundhaltung aus, die sich hier offenbarte, der Dezisionismus Carl Schmitts7, die Forderung zu handeln statt abzuwägen, zu entscheiden statt zu berechnen. Der Dezisionismus basiert auf einer eigentümlichen, doch überaus attraktiven Lehre vom Wesen der Politik, die große Ähnlichkeit mit dem revolutionären Syndikalismus von Georges Sorel hat. Das Politische, so erklärte Schmitt, ist ein Freund-Feind-Verhältnis. Der Feind ist letzten Endes jener, der physisch vernichtet werden muß. In diesem Sinne kann jede menschliche Beziehung eine politische werden, denn jeder Gegner kann zu einem physisch zu vernichtenden Feind werden. Das Gebot des Neuen Testaments, daß man sogar seine Feinde lieben soll, bezieht sich nur auf den privaten Feind, inimicus, nicht auf den öffentlichen Feind, hostis.8 Dies ist eine Doktrin, die sich gegen jeden Aspekt und jeden Akt liberaler Demokratie und gegen unseren gesamten traditionellen Begriff der Herrschaft des Gesetzes wendet.

Dagegen gerichtete Theorien waren entweder ohne Einfluß oder aber spielten der antidemokratischen These in die Hände. Die Kommunisten zum Beispiel brandmarkten die Verfassung als Verschleierung der kapitalistischen Ausbeutung und als politischen Überbau einer monopolkapitalistischen Wirtschaft. In Wirklichkeit verschleierte die Weimarer Verfassung gar nichts. Ihr Kompromißcharakter, die Abreden der Interessen, der unabhängige Status der Reichswehrbürokratie, die offen politische Rolle der Justiz waren sämtlich klar erkennbar. Verfassungstheorie und -praxis enthüllten die Schwäche der demokratischen Kräfte und die Stärke ihrer Gegner. Ganz ebenso offenbarten sie, daß die Weimarer Verfassung ihre Existenz weit mehr der Duldung ihrer Feinde als der Stärke ihrer Anhänger verdankte. Das Fehlen jeglicher allgemein anerkannter Verfassungslehre, selbst wenn sie bloßer Schein und eine reine Fiktion gewesen wäre, sowie der konsequent öffentliche Charakter der fundamentalen Antagonismen waren gerade die Faktoren, die den Übergangsstatus der Verfassung bestätigten und die Bildung einer dauerhaften Loyalität verhinderten.

Der sozialistischen Verfassungstheorie mißlang es, eine spezifisch sozialistische Lehre zu entwickeln. Genau wie Carl Schmitt verurteilte sie die Weimarer Verfassung wegen des Fehlens einer Entscheidung.9 Sie gestand der Verfassung nicht einmal eine Kompromißqualität zu, sondern meinte, daß die unvereinbaren Interessen und Positionen ohne jede Integration nebeneinander stünden. Jede Verfassung, an geschichtlichen Wendepunkten erlassen, so urteilten die Sozialisten, muß ein bestimmtes Aktionsprogramm verkünden und eine neue Gesellschaftsordnung organisieren. Da die Weimarer Verfassung keine eigenen Ziele hatte, ließ sie die verschiedensten Wertsysteme zu.

Ihre vernichtende Kritik zwang die Sozialisten, das Wertsystem der Weimarer Demokratie neu zu formulieren. So entwickelten sie die Lehre des sozialen Rechtsstaates, der das Erbe der bürgerlichen Rechte, die rechtliche und politische Gleichheit, mit den Erfordernissen des Kollektivismus verband.10 Verfassungsbestimmungen zur Sozialisierung der Industrie und der Anerkennung von Gewerkschaften hervorhebend, forderten sie die Einführung einer Wirtschaftsverfassung, die eine gleichberechtigte Repräsentation der Arbeit festsetzen sollte. Der »soziale Rechtsstaat« war so die Rationalisierung des Verlangens der »Arbeitnehmer« nach angemessener Beteiligung am politischen Leben der Nation. Als politische Theorie besaß er zugestandenermaßen einen Übergangscharakter (zusammen mit der entsprechenden Lehre von der Wirtschaftsdemokratie), denn der soziale Rechtsstaat wurde lediglich als der erste Schritt auf dem Wege zu einer voll sozialisierten Gesellschaft betrachtet. Und seine Wirkung war genau so gering wie die übrige Politik von Sozialdemokratie und Gewerkschaften.

Ein weiterer Gegner des Dezisionismus war die sogenannte Österreichische Schule: die »reine Rechtslehre«. Sie sah Staat und Recht als identische Sphären an. Es gibt nur ein Recht, das Recht des Staates. Da jedes politische Phänomen in Rechtsbegriffen erklärt werden müsse, ist jede politische Form ein Rechtsstaat, ein Staat, der auf Recht gegründet ist. Nicht einmal die absoluteste Diktatur könne sich der Einordnung in diese Kategorie entziehen, weil die Macht des Diktators nur als eine explizit oder implizit von einem Grundgesetz abgeleitete Macht denkbar sei, einem übergeordneten Gesetz, welches das Rechtssystem bestimmt. Die Rechtsordnung ist eine Hierarchie, ein Zurechnungssystem, das von der übergeordneten Norm an der Spitze zum individuellen Vertrag und besonderen Verwaltungsakt hinunter verläuft. Folglich gebe es keine kategoriale Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht, zwischen natürlichen und juristischen Personen.11

Die kritische Stoßrichtung und entlarvende Kraft der Österreichischen Schule sind nicht zu leugnen. Ihr Beharren auf der alleinigen Gültigkeit des positiven Rechts und der gänzlichen Entkleidung der Rechtswissenschaft von allen moralischen Erwägungen soziologischer oder politischer Art macht es unmöglich, politische Forderungen mit dem Deckmantel des Rechts zu verhüllen. Im Grunde ist ihre Theorie eine relativistische, ja sogar nihilistische; so nimmt es nicht wunder, daß ihr Begründer und unermüdlicher Exponent, Hans Kelsen, Demokratie mit Parlamentarismus gleichsetzte und sie als bloßen organisatorischen Rahmen zur Herbeiführung von Entscheidungen, ohne Rückgriff auf irgendwelche allgemein anerkannten Werte, definierte.12 Gerade an diesem relativistischen Begriff von Demokratie entzündeten sich die Attacken der Dezisionisten und Sozialisten.

Eine entlarvende Lehre mag zwar ein brauchbares Werkzeug der wissenschaftlichen Analyse sein, kann aber nicht die Grundlage politischen Handelns abgeben. Zudem teilt die reine Rechtslehre die Mängel des logischen Positivismus und jeder anderen »reinen Wissenschaft«: Sie ist von jungfräulicher Einfalt. Indem sie alle damit verbundenen Probleme politischer und gesellschaftlicher Macht aus ihren Erwägungen ausklammert, wird sie zum Wegbereiter des Dezisionismus, der Hinnahme politischer Entscheidungen gleich welchen Ursprungs und welchen Inhalts, solange nur genügend Macht hinter ihnen steht. Die reine Rechtslehre hat ebensosehr wie der Dezisionismus dazu beigetragen, jedes universell anerkennbare Wertsystem zu untergraben.

Auf dem Gebiet des Rechts haben die Liberalen die große kulturelle Tradition Deutschlands repräsentiert: ein profundes historisches Wissen, scharfes und präzises analytisches Denken und das konsequente Festhalten an den Werten der deutschen idealistischen Philosophie. Sie versuchten, die demokratische Struktur mit liberalen Garantien in Einklang zu bringen. Das Weimarer System, das als verfassungsmäßiger Ausdruck dieser Harmonie angesehen wurde, war die Verkörperung ihres Scheiterns.

Zu den konservativen Verfassungslehren braucht nicht viel gesagt zu werden. Ihr Traum von der Restauration der Monarchie teilte mit dem Dezisionismus die Sehnsucht nach einem starken Staat, einig im Innern und mächtig nach außen. Der Staat war für sie der höchste sittliche Wert. Als Gegner der liberalen Demokratie spielten die Konservativen der antidemokratischen Bewegung direkt in die Hände und bereiteten die erste Phase der nationalsozialistischen Ideologie vor.

2. Der totalitäre Staat

Der Gedanke des totalitären Staates erwuchs aus der Forderung, alle Macht in den Händen des Präsidenten zu konzentrieren. Unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme begannen politische Theoretiker eifrig die Idee der Totalität des Staates zu verfechten, wie sie von den Verfassungsrechtlern entwickelt worden war. Alle Macht müsse beim Staat liegen; alles andere sei Sabotage der nationalsozialistischen Revolution. Der totalitäre Staat wurde als Herrschaftsordnung und als Form der Volksgemeinschaft beschrieben. Er sei antidemokratisch, weil die Demokratie mit ihrer Vorstellung der Identität von Regierenden und Regierten die nötige Autorität der Führung untergrabe. Führung, erklärten die Nationalsozialisten, ist nicht vom Volke delegiert: »Autorität setzt einen Rang voraus, der darum gegenüber dem Volke gilt, weil das Volk ihn nicht verleiht, sondern anerkennt.«13

Hitlers Machtübernahme löste eine Flut von Schriften aus, in denen die traditionellen Staats- und Regierungsformen einer Revision unterzogen wurden. Unterschieden wurde zwischen dem liberalen Rechtsstaat, geboren in der Französischen Revolution und verkörpert in der englischen Verfassung, und dem nationalen Rechtsstaat, wie ihn zuerst der italienische Faschismus entwickelte, und wie er danach im nationalsozialistischen Deutschland zum Sieg gelangte. Letzterer wurde als ein Staat gekennzeichnet, der die Gerechtigkeit mit der politischen Notwendigkeit versöhne.14 Das Wesen der nationalsozialistischen Revolution galt als Wiedererweckung und Weiterentwicklung der besten konservativen Tradition (wie sie einst in der Herrschaft Friedrichs II. von Preußen verkörpert war), einer Tradition, die von den Liberalen mit ihrem »Nachtwächterstaat« entweiht und entwürdigt worden sei.15 Einige Theoretiker nahmen sich Hegels Staatsidee zum Vorbild für den Nationalsozialismus. Um die Gleichsetzung des totalitären Staates mit dem Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts zu vermeiden, bestanden die Theoretiker ferner darauf, daß der Staat mehr sei als ein bloßes Zwangssystem: er sei eine Lebensform des Volkstums. Verschiedene Typen totalitärer Staaten wurden unterschieden, um den spezifisch nationalsozialistischen Schlag von den anderen, dem italienischen oder russischen, abzugrenzen.16

Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß ursprünglich die oberste Parteispitze sich für diese Totalitätsdoktrin einsetzte. Goebbels erklärte: »Unsere Partei hat von jeher den totalen Staat erstrebt … Das Ende der Revolution muß immer der totale Staat sein, der alle Gebiete des öffentlichen Lebens durchdringt.«17 Frick, Reichsinnenminister und ein führender Mann der Partei, unterzeichnete am 11. Juli 1933 ein Rundschreiben, in dem die Reichsstatthalter ermahnt wurden, »die Autorität des Staates … unter allen Umständen sicherzustellen«.18 Hitler wandte sich in einem ähnlichen Ton an die am 1. Juli 1933 in Bad Reichenhall versammelten SA-Führer. Die dritte Phase der Revolution, sagte er, ist »die Herstellung dessen, was mit der Totalität des Staates bezeichnet wird: Die nationalsozialistische Bewegung müsse diesen Staat zum Träger ihres Geistesgutes machen«.19 Auf dem Juristentag 1933 ermahnte er seine Zuhörer, »die Autorität dieses totalen Staates zu verteidigen«.20 Und sogar noch am 15. November 1934 betonte Frick in einer Rede vor Reichswehroffizieren die Notwendigkeit absoluter Autorität und forderte »eine starke Regierung … ungehindert durch die Wünsche von einzelnen Personen, Gruppen, Klassen, Ständen, Parteien und Parlamenten«.21

Solche Verherrlichung des Staates wurde kurze Zeit später aufgegeben (übrigens fehlt sie auch in »Mein Kampf«). Warum stand sie bis Ende 1934 so stark im Mittelpunkt? Drei Faktoren scheinen dafür ausschlaggebend gewesen zu sein. Erstens hatten die politischen Theoretiker und Rechtsgelehrten der vorangegangenen Ära ihre herausragende Stellung bei der Ideologienformulierung behalten. Diese Männer sahen in der nationalsozialistischen Revolution eine Neuausgabe des kaiserlichen Systems, das sich auf die Autorität der Bürokratie und der Armee stützte. Nun, da diese Autorität wieder in den Händen zuverlässiger Führer lag, würde der deutsche Staat wieder die höchsten Werte verkörpern. Der italienische Faschismus hatte eine Lehre des totalitären Staates entwickelt, und da die Unterschiede zwischen beiden bisher noch nicht klar zum Ausdruck gekommen waren, wurde natürlich versucht, die italienische Doktrin in die ältere deutsche Tradition einzubauen.

Eine große Hilfe war dabei die spezielle Note, die Carl Schmitt, der intelligenteste und verläßlichste aller nationalsozialistischen Verfassungsrechtler, der Totalitätslehre gab. Er machte sie sogar der Großindustrie schmackhaft, eine Sache, die er sich bereits seit 1932 zum Ziel gesetzt hatte. In einer Rede – mit dem bezeichnenden Titel »Starker Staat und gesunde Wirtschaft« – vor dem Langnam-Verein22 erfand er eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Totalität, der romanischen und der germanischen.23 Die romanische Totalität sei eine quantitative, die germanische eine qualitative. Die erste würde alle Bereiche des Lebens erfassen und in jedwede Tätigkeit der Menschen eingreifen. Im scharfen Gegensatz dazu begnüge sich die germanische Totalität mit einem starken und mächtigen Staat, der zwar die volle politische Kontrolle für sich in Anspruch nimmt, die wirtschaftliche Betätigung aber nicht einschränkt. Natürlich ist die Schmittsche Lehre ebenso wenig germanisch, wie ihr Gegenteil romanisch ist. Tatsächlich war sie weitaus klarer und realistischer von einem Italiener formuliert worden, von Vilfredo Pareto, der für das Nebeneinander von politischem Autoritarismus und wirtschaftlichem Liberalismus eintrat und die ersten Anfänge der Wirtschaftspolitik Mussolinis beeinflußte.

Beide Beweggründe – das Berufen der monarchistischen Tradition eines starken Staates wie des Privateigentums und der Privatinitiative – spielten eine große Rolle in der letzten Rede, die Hitler vor einem (relativ) frei gewählten Reichstag hielt (23. März 1933). Hitler legte dar, daß eine monarchische Restauration zur Zeit kein Gegenstand der Diskussion sein könne, weil die Hauptaufgabe darin bestehe, eine unbedingte Autorität der Regierung herzustellen. Gleichzeitig versprach er, die Privatinitiative aufs stärkste zu fördern und das Privateigentum anzuerkennen.24

Die Lehre von der Totalität des Staates befriedigte so die zahlreichen Anhänger der deutschen Reaktion: Universitätsprofessoren, Bürokraten, Reichswehroffiziere und Großindustrielle. Ebenso war sie für die westliche Welt im allgemeinen akzeptabel. Denn jede politische Theorie, in welcher der Staat die zentrale und beherrschende Rolle einnimmt und mit der Aufgabe betraut ist, das Allgemeininteresse zu wahren, steht in Einklang mit der Tradition der westlichen Zivilisation, mag diese Tradition auch noch so liberal sein. Die westliche Tradition betrachtet den Staat nicht als einen gegen die Menschenrechte gerichteten Unterdrükkungsapparat, sondern als eine Institution, die über das Interesse des Ganzen wacht und dieses Interesse gegen Übergriffe partikularer Gruppen schützt. Die Souveränität des Staates ist der Ausdruck des Bedürfnisses nach Sicherheit, Ordnung, Gesetz und Rechtsgleichheit, und die nationalsozialistische Emphase der Totalität des Staates hatte noch nicht mit dieser europäischen Tradition gebrochen. Zudem diente dieser Totalitarismus auch den praktischen Erfordernissen des Augenblicks. In den ersten Monaten des Regimes versuchte jeder Braun- und Schwarzhemd-Funktionär, so viel wie möglich Posten und Ämter zu ergattern. Die breite Masse der Parteimitglieder war bald ungehalten über den Verrat an der Revolution; ein Flügel rief sogar nach einer zweiten Revolution. Röhms Braunhemden sahen voller Neid auf die neue Macht der Reichswehr.

Die Lage war heikel, und Hitler beeilte sich, die Waffe der Totalitätslehre einzusetzen. Die Revolution mußte – was Eigentum, Beamtentum und Reichswehr betraf – in geordneten Bahnen verlaufen. § 26 des Reichswehrgesetzes und eine preußische Verordnung vom 4. Mai 1933 bestimmten, daß Parteimitglieder ihre Mitgliedschaft für die Dauer des Dienstes bei den bewaffneten Streitkräften oder der Polizei aufgeben mußten, da sie einer anderen Disziplinargewalt unterstanden.25 Am 20. November 1933 trat Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers, mit einer eindringlichen Erklärung an die Öffentlichkeit, in der es hieß, daß Parteiführer kein Recht hätten, Verordnungen und Erlasse herauszugeben.26 Vor allen Dingen sollten die Parteichefs auf Orts- und Gauebene sich aus der Wirtschaft heraushalten. Dies ist der Inhalt des Rundschreibens von Dr. Frick, in dem er die hohen Beamten des Reiches, an die das Schreiben gerichtet war, ermahnte, nicht zuzulassen, daß der Parteiapparat die Autorität der Bürokratie antastet. Dr. Frick beabsichtigte keineswegs gegen die Terrorakte an Juden, das Schlagen wehrloser Gefangener in den Kasernen der Braunhemden, die Verschleppung von Kommunisten, Sozialisten und Pazifisten oder die Ermordung – »auf der Flucht erschossener« – politischer Gegner einzuschreiten. Aber die Partei durfte sich nicht in Wirtschaft und Verwaltung einmischen.

3. Die Gleichschaltung des politischen Lebens

Die Totalitätstheorie war auch das Instrument zur Koordinierung des gesamten öffentlichen Handelns. Die absolute Kontrolle von oben – die berühmte Gleichschaltung jeder Tätigkeit von Reich, Ländern, Kreisen und Gemeinden – erfuhr in der Lehre vom totalen Recht und der totalen Macht des Staates ihre Rechtfertigung. Im Gegensatz zu der pluralistischen und föderalistischen Weimarer Republik konnte und wollte der neue Staat die Existenz autonomer öffentlicher Institutionen nicht dulden, und in den Jahren 1933 und 1934, die Hitler die Zeit der Machtbefestigung nannte, sorgte eine ganze Serie von Rechtsverfügungen für alle dazu erforderlichen Details. Anders als in Italien waren Machtkonzentration und Gleichschaltung in Deutschland in sehr kurzer Zeit abgeschlossen.

Die Rechtsgrundlage bildete das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das »Gesetz zur Behebung der Not vom Volk und Reich«, das von einem Reichstag beschlossen wurde, der erst knapp drei Wochen zuvor, am 5. März, gewählt worden war. Es ist auch die »vorläufige Verfassung des Reiches« genannt worden.27 Dieses Gesetz übertrug der Reichsregierung die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt, auch das Recht, von den in der Reichsverfassung vorgesehenen Bestimmungen abzuweichen und überall einzugreifen, soweit nicht die parlamentarischen Institutionen, die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche betroffen sind. Ferner legte es fest, daß die Rechte des Reichspräsidenten unberührt bleiben. Ein neues und »vereinfachtes« Gesetzgebungsverfahren wurde eingerichtet. Obwohl die gesetzgebende Gewalt des Reichstages nicht ausdrücklich abgeschafft ist, wurde sie faktisch doch hinfällig, da sie nur in Ausnahmesituationen und dann nur zu Dekorationszwecken wahrgenommen wird.

Der Reichstag, so wie er heute noch besteht, zusammengesetzt aus Funktionären der NSDAP, ist ein bloßes Dekorationsstück. Fritz Thyssen, seinerzeit selbst Mitglied jenes erlauchten Gremiums, berichtete nach seiner Flucht aus Deutschland,28 daß bei der Reichstagssitzung am 1. September 1939 (der Kriegssitzung) nur hundert Parlamentsmitglieder anwesend waren, während die übrigen Sitze einfach mit irgendwelchen Parteisekretären besetzt wurden.

Die Reichsregierung wurde zum normalen Gesetzgeber. Diese Aufhebung der Trennung von legislativen und administrativen Funktionen – eine charakteristische Entwicklung in nahezu allen modernen Staaten – bedeutet, daß die politische Macht nicht mehr unter verschiedene Gesellschaftsschichten aufgeteilt ist, und die Minderheiten nicht mehr gegen Gesetzesvorschläge opponieren können.29 Die Staatsgewalt ist nicht nur einheitlich, sondern sie ist absolut. (Einheitlich ist sie selbstverständlich auch in der liberalen Demokratie, denn Gewaltenteilung heißt nicht, daß es drei verschiedene Gewalten gibt. Genauer wäre, von getrennten und unterschiedlichen Funktionen statt von Gewalten zu sprechen.)

Das Ermächtigungsgesetz stellt eine überaus radikale Abkehr von den Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates dar, von dem System von Normen und Gewohnheiten, das die gesetzgebende Gewalt des Staates beschränkt. Ein Schreiber formulierte dies so: »Damit hat die Reichsregierung die Führergewalt in Deutschland erhalten; sie hat unter der Führung Adolf Hitlers die weitaus größte politische Macht.«30

Die Geschichte des Ermächtigungsgesetzes straft die Behauptung der Nationalsozialisten Lügen, sie seien mit verfassungsmäßigen Mitteln zur Macht gekommen. Das Gesetz wurde zwar mit 441 gegen 94 Stimmen angenommen und bekam damit die erforderliche Zweidrittelmehrheit der anwesenden Reichstagsmitglieder (Artikel 76 der Weimarer Verfassung). Aber die Sitzung fand in einer Atmosphäre des Terrors statt. Die 81 kommunistischen Abgeordneten und zahlreiche Sozialdemokraten waren zuvor willkürlich verhaftet worden und folglich nicht anwesend (die anwesenden Sozialdemokraten stimmten gegen die Vorlage). Hätten die Zentrumsabgeordneten nicht kapituliert und die Gesetzesvorlage nicht unterstützt, dann wäre zweifellos auch gegen sie die Terrorherrschaft entfesselt worden.

Überdies sah Artikel 5 vor, daß das Ermächtigungsgesetz außer Kraft treten sollte, »wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird«. Die Umstände, die diese von Hindenburg geforderte Vorschrift begleiteten, sind bezeichnend. Die Welt hat vergessen, daß in dieser ersten Hitler-Regierung, die am 31. Januar 1933 die Macht antrat, nur drei von zwölf Kabinettsmitgliedern Nationalsozialisten waren. (Tatsächlich war diese Regierung eine Neuauflage der Harzburger Front vom Oktober 1931, die Hitler und Hugenberg mit dem Segen Schachts organisiert hatten, um eine »nationale« Opposition gegen das Kabinett Brüning zu schmieden.)31 Hindenburg bestand deshalb auf dem Artikel 5, weil er die Mehrheit seiner reaktionären Freunde in der neuen Regierung der »nationalen Konzentration« und ganz besonders drei von ihnen (Vizekanzler von Papen, Wirtschaftsminister Hugenberg und Arbeitskommissar Gerecke) schützen wollte. Mit anderen Worten, das Ermächtigungsgesetz gab der Regierung in ihrer damaligen Zusammensetzung und keiner anderen volle Gesetzgebungsgewalt.

Hugenberg trat bald als Reichswirtschaftsminister zurück; Gerecke wurde wegen Unterschlagung verhaftet; der Nazi Darré zum Landwirtschaftsminister bestellt, und der Stellvertreter des Führers, Heß, begann an den Kabinettssitzungen teilzunehmen, obwohl er kein Mitglied der Regierung war. Rechtlich hätte damit das Ermächtigungsgesetz auslaufen müssen. Es erübrigt sich zu sagen, daß in Wirklichkeit nichts dergleichen geschah. So verteidigte denn ein Verfassungsrechtler, ein hoher Beamter im Reichsinnenministerium, die Beibehaltung des Gesetzes: »Es hieße die Bedeutung des großen Ereignisses der nationalen Konzentration verkleinern, wenn man in eine Untersuchung der Frage eintreten sollte, welcher Tatbestand hiernach das vorzeitige Ende des vereinfachten Gesetzgebungswegs bedeuten würde, ob etwa bereits der Ersatz der einen oder anderen Persönlichkeit im Kabinett oder eine andere politische Zusammensetzung der Reichsregierung diesen Tatbestand erfüllen würde.«32 Ein anderer, weniger zurückhaltender Kommentator behauptete, daß das Gesetz seine Gültigkeit behalte, weil die NSDAP schon immer eine Mehrheit im Kabinett besessen habe.33 Das war eine handfeste Lüge.

Wegen des offenkundigen Verstoßes gegen Artikel 5 ziehen die politischen Theoretiker und Rechtsgelehrten des Nationalsozialismus es vor, vom Ermächtigungsgesetz als »dem Grundstein einer neuen Verfassung« zu sprechen. Es nach alledem als Ermächtigungsgesetz zu bezeichnen, wäre gleichbedeutend damit, seine Wurzeln in der verachteten Weimarer Verfassung anzuerkennen. Von einer außerordentlichen Delegierung verfassungsmäßiger Gewalt, folglich einer Maßregel, deren Gültigkeit nach Maßgabe der Verfassung beurteilt werden muß, wandelten sie das Ermächtigungsgesetz zum »Reichsführungsgesetz« um. Als solches bezeichnet es das Ende der Weimarer Republik und den Anfang des nationalsozialistischen Systems.34

In jedem Fall geht es dem Nationalsozialismus nicht um die rechtliche Übereinstimmung mit dem herrschenden Verfassungssystem. An seine Stelle setzt er den Anspruch der »Legitimität«.35 Ein System ist »legitim«, wenn es eine innere Existenzberechtigung hat, in diesem Fall den Erfolg der nationalsozialistischen Revolution. Mit anderen Worten, die Rechtmäßigkeit der neuen Verfassung liegt in ihrem Erfolg – ein Argument, das weder neu noch überzeugend ist.

Der Verstoß gegen Artikel 5 war freilich nicht die einzige Verletzung des Ermächtigungsgesetzes. Wie wir gesehen haben, schützte das Gesetz scheinbar die parlamentarischen Institutionen sowie den Reichsrat und versprach, die Rechte des Reichspräsidenten zu garantieren. Kaum zwei Jahre später wurde der Reichsrat jedoch abgeschafft (Gesetz vom 14. Februar 1934), und das Amt des Reichspräsidenten wurde unmittelbar nach Hindenburgs Tod am 1. August 1934 mit dem des Reichskanzlers zusammengelegt. Die Rechtfertigung dieser Ämterverschmelzung erfolgte unter Hinweis auf Hindenburgs Testament, in welchem er Hitler angeblich zu seinem Nachfolger bestimmte, und durch die 89,9% Ja-Stimmen bei der Volksabstimmung vom 19. August. Die Volksabstimmung hatte selbst nach Ansicht nationalsozialistischer Theorien keinen verfassungsmäßigen Status, sondern allenfalls moralische Bedeutung. Die Weimarer Verfassung unterschied zwischen Volksentscheid und Volksbegehren. Bei ersterem sollte das Volk in Gesetzgebungskonflikten zwischen Präsident und Parlament als Schiedsrichter auftreten – eine Situation, die in der Praxis nie vorgekommen ist. Auf der anderen Seite gab das Volksbegehren politischen Gruppen die Gelegenheit, entweder eine Gesetzgebung zu erzwingen, oder eine parlamentarische Verabschiedung zu verhindern. In der ganzen Geschichte der Weimarer Republik hat es drei Fälle gegeben, in denen ein Volksbegehren versucht wurde: die von der Linken ausgehende Initiative zur Konfiszierung des Eigentums der Fürstenhäuser, die Initiative der Kommunisten gegen den Bau von Schlachtschiffen und die von den Reaktionären ausgehende Initiative gegen den Young-Plan. Sie blieben erfolglos, und das konnte angesichts der vollständigen Organisation des öffentlichen Lebens und der Rigidität des Parteiensystems auch gar nicht anders sein.

Dennoch war das Volksbegehren ein potentielles Instrument zur Korrektur des erstarrten politischen und parlamentarischen Lebens. Das von den Kommunisten initiierte Volksbegehren zur Enteignung der Fürstenhäuser rüttelte, trotz seines Scheiterns, die sozialistischen Massen so auf, daß die sozialdemokratische Parteiführung gezwungen war, ihren Kurs zu ändern und die Volksbewegung anzuführen.

Im Gegensatz zu den republikanischen Formen ist das nationalsozialistische Gesetz über Volksabstimmung vom 14. Juli 1933 mehr eine Sache der Propaganda als des Verfassungsrechts. Dieses Gesetz gibt der Reichsregierung das alleinige Recht, dem Volk eine beabsichtigte Maßnahme zur Abstimmung vorzulegen. Nationalsozialistische Juristen haben das Statut willkürlich so ausgelegt, daß das Volk auch nach Verabschiedung und Verkündung eines Gesetzes aufgefordert werden könne, ihm zuzustimmen. In einem Einparteisystem, das keine liberalen Garantien kennt, unterscheidet sich das Plebiszit völlig von einem demokratischen Referendum. Nach der offiziellen Verlautbarung zum Volksabstimmungsgesetz hat es seinen Ursprung in »alten germanischen Rechtsformen« und seine Funktion besteht darin, der Stimme des Volkes »in geadelter Form« Ausdruck zu verleihen. Was wäre, wenn das Volk einer beabsichtigten oder bereits vollzogenen Maßnahme der Regierung seine Zustimmung verweigerte? Abgesehen davon, daß ein solches Resultat undenkbar scheint, sind sich alle Experten darüber einig, daß der Führer nicht an den Volksentscheid gebunden ist. »Selbst wenn die stimmabgebende Öffentlichkeit sich gegen ihn stellt, bleibt er der alleinige Repräsentant der objektiven Sendung des Volkes.«36

Nachdem die Volksabstimmung politisch und juristisch erst einmal zur bloßen Staffage herabgewürdigt und die Gesetzgebungsbefugnis ausschließlich der Reichsregierung übertragen wurde, war der Prozeß der Vereinigung und Konzentration der Gesetzgebungsgewalt abgeschlossen. Die Gleichschaltung konnte nun nach Belieben bis weit in den administrativen Bereich hinein fortgesetzt werden. Der nächste Schritt war die Aufhebung der Eigenständigkeit der Länder. Der erste Schlag wurde mit dem Gleichschaltungsgesetz vom 31. März 1933 geführt, das den Landesregierungen das Recht verlieh, außerhalb der Landesverfassungen Gesetze zu erlassen. Sodann wurden die bestehenden Länderparlamente durch Reichsgesetz aufgelöst. Bei den darauffolgenden Wahlen gewann die sogenannte nationale Regierung aus Nationalsozialisten und Deutschnationalen in allen Landtagen die Mehrheit. Noch größer wurden die Mehrheiten, als den Sozialdemokraten am 7. Juli 1933 ihre Mandate entzogen wurden. Das »Gesetz über den Neuaufbau des Reiches« vom 30. Januar 1934 übertrug dem Reich alle bisher den Ländern zustehenden Hoheitsrechte, zerstörte damit ihren Staatscharakter und beseitigte die Landtage. Derselbe Vorgang wiederholte sich in den Gemeinden. Die Gemeinderäte wurden durch das Gesetz vom 30. Januar 1935 (Gemeindeordnung) abgeschafft. Die autoritäre Kontrolle war nun von oben bis unten perfekt.

Ein zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich, das am 7. April 1933 verkündet wurde, führte das Amt der von Hitler bestellten Reichsstatthalter ein. In Preußen übernahm Hitler selbst diesen Posten. Das Reichsstatthaltergesetz vom 30. Januar 1934 band die Statthalter an die Weisungen der Reichsregierung und machte sie damit zu Beamten des Reiches. Das Recht auf Bestellung der Länderregierungen wurde ihnen entzogen, sie konnten dem Führer nur noch Namen vorschlagen. So wurden die Reichsstatthalter zu bloßen Galionsfiguren. Freilich war das Amt gut bezahlt und ging an verdienstvolle Parteifunktionäre. Selbst nationalsozialistischen Juristen erscheint es nunmehr unmöglich, die verfassungsmäßige Lage der Länder genau zu definieren. Das beste, was sie bisher zustandebrachten, war die Aussage, daß die Länder bis zur endgültigen territorialen Neugestaltung des Reiches als Übergangseinrichtungen bestehen blieben.37

Dieselben Theoretiker, die einst forderten, alle Macht in den Händen des Reichspräsidenten zu vereinigen, hatten es nun genau so eilig, seine Stellung auf die einer reinen Repräsentationsfigur zu beschränken. Ein Jurist formulierte das sehr hübsch: »Nachdem in den vergangenen Jahren infolge des Versagens des Parlaments das Schwergewicht der Reichspolitik sich auf den Reichspräsidenten verlagert hatte, konnte nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus der Reichspräsident sich wieder aus der Verflechtung in die Tagespolitik freimachen und in seine verfassungsmäßige Stellung als Repräsentant der völkischen Einheit und Schirmherr der Nation zurückkehren.«38 Ein anderer, etwas vorsichtigerer Autor erklärt, der Reichspräsident habe seine autoritäre Führung nicht an Hitler abgetreten, sondern eine neue Funktion, die des Repräsentierens, übernommen.39 Der rapide Abbau der Präsidialgewalt wurde eindeutig gesetzlich dokumentiert, insbesondere mit dem Gesetz, das das Amt des Reichsstatthalters schuf. Die Reichsstatthalter wurden nicht dem Befehl des Reichspräsidenten, sondern dem des Reichskanzlers unterstellt40: Der Reichsstatthalter »hat die Aufgabe, für die Beobachtung der vom Reichskanzler aufgestellten Richtlinien der Politik zu sorgen.« So wurde der Reichspräsident, der einst der starke Mann gewesen war, zum bloßen Aushängeschild, hinter dem die unumschränkte Macht des Führers stand.

4. Der totalitäre Staat im Krieg

Vor Ausbruch des gegenwärtigen Krieges hatte die Konzentration der politischen Macht in den Händen der Reichsregierung ein sehr hohes Stadium erreicht. Die Institution der Reichsstatthalter und die Zerstörung der kommunalen Selbstverwaltung, welche die Gemeindeorgane auf den Status von Behörden des Reiches reduzierten, verliehen der Reichsregierung die volle Macht über die gesamte politische Struktur Deutschlands bis hinunter zur kleinsten territorialen Einheit. Diese Macht wurde nur von den Verwaltungsgerichten und der Rechtsprechungspraxis eingeschränkt.

Bei Kriegsausbruch wurde die politische Macht indes noch viel stärker konzentriert. Der Reichsrat für die Reichsverteidigung wurde zum Ministerrat für die Reichsverteidigung umgebildet (wie selbst die Frankfurter Zeitung in ihrer Ausgabe vom 1. Januar 1941 zugeben mußte, war über Zusammensetzung und Aufgaben des Reichsrates nichts bekannt). Der Ministerrat hat die Gesetzgebungsbefugnisse der Regierung im wesentlichen übernommen. Er besteht aus Reichsmarschall Göring, seinem Vorsitzenden, dem Stellvertreter des Führers, Heß, dem Chef der Reichskanzlei, Lammers, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Keitel, dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung, Frick (auch Innenminister) und dem Generalbevollmächtigten für die Wirtschaft, Funk (auch Wirtschaftsminister). In Sonderfällen dürfen auch andere Personen hinzugezogen werden. Die Bildung des Ministerrates für die Reichsverteidigung ist gleichbedeutend mit der Errichtung eines Generalstabes der Zivilverteidigung und der Wirtschaft. Der Generalbevollmächtigte für die Wirtschaft (Funk) ist der Vorgesetzte der Minister für Wirtschaft, Arbeit, Ernährung, Forsten und sogar Finanzen; die Minister für Justiz, Inneres, Kultur und Angelegenheiten der Kirchen unterstehen dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung (Frick). Nichts gibt ein klareres Bild von der Umkehrung der überholten liberalen Formen als die Degradierung des Finanzministers. Fiskalpolitische Erwägungen können die Durchsetzung der notwendigen Verwaltungs- und Wirtschaftsmaßnahmen nun nicht mehr verhindern. Der große Einfluß, den das Schatzamt hatte und in England nach wie vor hat, ist immer ein Hindernis für die Durchführung vieler notwendiger Aufgaben gewesen. In der neuen Verwaltungshierarchie ist der Finanzminister schlichtweg zu einem untergeordneten Beamten geworden.

Der Ministerrat ist in praktisch allen Fällen der normale Gesetzgeber. Seine Anordnungen haben Gesetzeskraft und bedürfen nicht der Gegenzeichnung durch den Führer, denn er halte sich, wie die Frankfurter Zeitung (10. Januar 1941) schreibt, im Krieg oft in seinen Hauptquartieren außerhalb der Hauptstadt auf. Der Ministerrat regelt alle Angelegenheiten, die direkt oder indirekt mit der Verteidigung des Staates zusammenhängen. Diese Klausel schränkt natürlich in keiner Weise seine Autorität ein.

Die Verordnungen des Ministerrates können sich freilich nicht auf alle Einzelheiten erstrecken. Im ordentlichen wie im vereinfachten Gesetzgebungsverfahren sind die Einzelheiten gewöhnlich Durchführungsbestimmungen vorbehalten, die der jeweils zuständige Minister verkündet. Eine ähnliche, aber weitergehende Machtbefugnis ist mit den Durchführungsvorschriften verbunden, die zum Zwecke der Ausführung oder Weiterführung gesetzgeberischer Akte des Ministerrates erlassen werden können.

Die Generalbevollmächtigten für Wirtschaft und Reichsverwaltung sowie der Beauftragte für den Vierjahresplan (Göring) können, jeder in seinem Kompetenzbereich, aber mit Zustimmung der beiden anderen und des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, Durchführungsverordnungen erlassen, die – und dies ist der neue Schritt – sogar von bestehenden Gesetzen abweichen dürfen. Die Autorität der Generalbevollmächtigten ist damit weit größer als die der Ministerialbürokratie, welche die Durchführungsverordnungen normalerweise formuliert. Als ein Ergebnis haben die Generalbevollmächtigten das Strafgesetzbuch und das Zivilprozeßrecht geändert.

Aber selbst mit dieser Entwicklung ist der Prozeß der Konzentration der Gesetzgebungsgewalt noch nicht beendet. Ein Führererlaß vom Januar 1941 ermächtigte den Reichsmarschall, selbständig alle Rechtsvorschriften und Verwaltungsanweisungen zu erlassen, die er für den Luftschutz für notwendig erachtet. Diese Ermächtigungsverordnung geht weiter als alle bisher gekannten.

Dem Führer stehen somit folgende Gesetzgebungsbefugnisse zur Verfügung:

1 Seine direkten Gesetzgebungsakte, entweder in Form eines Gesetzes, einer Verordnung oder eines Erlasses. Von der letztgenannten Form wird in zunehmendem Maße Gebrauch gemacht, wie bei der Eingliederung von Eupen-Malmedy und Moresnet in das Reich und der Ernennung von Reichskommissaren für Norwegen und die Niederlande. Ein weiteres Beispiel ist die Erweiterung des Vierjahresplanes. Die direkte Gesetzgebungstätigkeit des Führers hat sich jedoch vermindert.

2 Die vereinfachten Gesetzgebungsakte der Reichsregierung, gestützt auf das Notverordnungsgesetz von 1933; sie sind im Krieg praktisch aufgegeben worden.

3 Reichstagsgesetze; von diesen ist seit 1936 kein Gebrauch mehr gemacht worden, doch lassen sie sich für propagandistische Zwecke wieder einsetzen.

4 Die Volksabstimmung; ein weiteres Propagandawerkzeug.

5 Die Gesetzgebungsgewalt des Ministerrates für die Reichsverteidigung, des normalen Gesetzgebers.

6 Verordnungen des Triumvirats der Generalbevollmächtigten, zum Teil Durchführungsbestimmungen zur Verwirklichung von Gesetzgebungsakten des Ministerrates, zum Teil darüber hinausgehende Verordnungen. In diese Sparte fällt die Verordnungsbefugnis des Beauftragten für den Vierjahresplan.

7 Die Gesetzgebungsbefugnisse des Reichsmarschalls für den Luftschutz.

8 Die den Reichsministern in ihrem jeweiligen Kompetenzbereich übertragene Gesetzgebungsgewalt, die sich auf besondere Ermächtigungen stützt, und natürlich die große Zahl anderer Fälle von delegierter Gesetzgebung.

Die Konzentration der politischen Macht beschränkt sich nicht auf die höchste Ebene, sondern ist auch auf die Bezirksebene ausgedehnt worden. Eine Verordnung des Ministerrats vom 1. September 1939 bestimmte 18 Reichsverteidigungskommissare mit Sitz am Ort der 18 Wehrkreiskommandos. Sie sind die Vollzugsorgane des Ministerrates auf Bezirksebene. Ihre Aufgabe ist die Vereinheitlichung der zivilen Verteidigung. Sie verfügen nicht über einen eigenen Apparat, sondern müssen sich der vorhandenen Maschinerie der Oberpräsidenten (in Preußen), der Reichsstatthalter oder der Länderministerien bedienen, je nachdem, wo das Wehrkreiskommando seinen Sitz hat. Die Reichsverteidigungskommissare sind damit die obersten Verwaltungsbeamten in den Wehrkreisen, ermächtigt, sämtlichen Verwaltungsbehörden in ihrem Amtsbereich – außer in Ausnahmefällen – Weisungen zu erteilen. Ihre Bevollmächtigten, die in der Praxis häufig die eigentliche Arbeit leisten, sind die Chefs jener Verwaltungsbehörden, von denen die Reichsverteidigungskommissare zur Erledigung ihrer Aufgaben Gebrauch machen. Diese Regelung bedeutet die völlige Zerstörung der überkommenen hierarchischen Struktur des deutschen Beamtentums und ist zugleich ein Zeugnis dafür, daß die Notwendigkeit einer leistungsfähigen Verwaltung höher geschätzt wird als traditionelle Begriffe und Wertvorstellungen. Um ein Beispiel zu geben: Der Reichsverteidigungskommissar Nummer XII für das Wehrkreiskommando mit Sitz in Wiesbaden bedient sich zur Erfüllung seiner Aufgaben des Amtes des Regierungspräsidenten in Wiesbaden. Sein Bevollmächtigter ist demnach von Rechts wegen der Regierungspräsident. Normalerweise ist dieser Regierungspräsident der Untergebene des Oberpräsidenten, aber als Bevollmächtigter des Reichsverteidigungskommissars steht er tatsächlich über seinem Vorgesetzten.

Gemäß einer weiteren Verordnung des Ministerrates vom 22. September 1939 können die Verteidigungskommissare besondere Beauftragte für bestimmte Gebiete bestellen.

Zum gleichen Zeitpunkt wurden 18 Reichsverteidigungsausschüsse zur Unterstützung der Reichsverteidigungskommissare gebildet. Ihnen gehören die Reichsstatthalter, die Gauleiter, die Oberpräsidenten, die Ministerpräsidenten und Minister der Länder, die höheren SS-Führer, die Regierungspräsidenten, die Reichstreuhänder der Arbeit, die Landesarbeitsamtspräsidenten und andere Männer an, die als Mitglieder berufen werden können. Die Funktion dieser Ausschüsse ist rein beratender Natur.

Der Krieg hat mithin den totalitären Staat zu seiner vollen Entwicklung gebracht. Die politische Macht liegt ausschließlich beim Ministerrat für die Reichsverteidigung.

Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges wurden die durch Verwaltungsgerichte auferlegten Beschränkungen weitgehend aufgehoben. Durch Führererlaß vom 28. August 1939 wurde die Vereinfachung der Verwaltung zum Tagesordnungspunkt Nummer 1 erhoben. Unter dieser irreführenden Bezeichnung wurden die Einschränkungen der autoritären Macht der Verwaltungsbehörden weitgehend beseitigt. In Verwaltungsverfahren des Reiches, der Länder, der Gemeinden und der öffentlichen Körperschaften wurde das Recht der »weiteren Beschwerde« beseitigt. An die Stelle der Anfechtung einer Verfügung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren trat die bloße Beschwerde bei der vorgesetzten Verwaltungs- oder Aufsichtsbehörde. Nur dann, wenn die untere Beschwerdebehörde eine Anrufung des höheren Verwaltungsgerichts zuläßt, kann ein verwaltungsgerichtliches Verfahren erfolgen.

Die am 6. November 1939 erlassene zweite Verordnung über die Vereinfachung der Verwaltung hob einfach alle unteren Verwaltungsgerichte auf, und eine weitere Verordnung vom 26. September 1939 beseitigte die untersten Verwaltungsbehörden in den Verwaltungsbezirken. Gemäß dem Führererlaß wurden die öffentlichen Körperschaften schlicht zu Organen des Staates. Sie werden nun nicht nur vom Staat beaufsichtigt, sondern sind zum untrennbaren Bestandteil des Verwaltungsapparates geworden. Die Reichsbehörden können sie nach freiem Ermessen auflösen. Nur die Partei und die ihr angeschlossenen Verbände sind von dieser Möglichkeit ausgenommen.

Ein Erlaß vom 3. April 1941 begründete ein neues Reichsverwaltungsgericht. In ihm sind das preußische Verwaltungsgericht, das frühere österreichische Verwaltungsgericht, der frühere Reichsdienststrafhof und andere zusammengefaßt. Seine Mitglieder werden vom Führer ernannt, können aber am Ende jeden Jahres in andere Ämter versetzt werden. Außerordentliche Mitglieder, deren Aufgabe die Behandlung von Sonderproblemen ist, können für befristete Zeiträume vom Reichsinnenminister bestellt und selbst Außenseiter dürfen ernannt werden. Das neue Reichsverwaltungsgericht ist folglich keine unabhängige Instanz, und die Richter genießen keine garantierte Unabhängigkeit. In Wirklichkeit ist also die Macht des Ministerrates für die Reichsverteidigung und der ihm nachgeordneten Behörden, der 18 Reichsverteidigungskommissionen, völlig unbeschränkt und unbegrenzt. Sie unterliegt keiner institutionellen Kontrolle. Die tatsächliche Realisierung des totalitären Staates ist mithin im gegenwärtigen Krieg so weit gediehen, daß für eine weitere Entfaltung kaum noch Raum sein dürfte.

Doch diese Realität stimmt nicht mit der Ideologie überein. In dem Maße, wie die politische Macht des Staates gewachsen ist, ist die Idee des totalitären Staates verworfen worden.

Behemoth

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