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Alfons Söllner

Vom Reformismus zur Resignation?

Franz L. Neumann als „political scholar“

Im Frühjahr 1952 veranstaltete die University of Pennsylvania in Philadelphia, also abseits von den akademischen Zentren der USA, eine Vorlesungsreihe, aus der weit mehr hervorging als ein zufälliges Gelegenheitsprodukt aus der Nachgeschichte des Exils. Zusammen mit anderen „big shots“ der Emigration, wie Erwin Panofsky und Paul Tillich, lieferte der amerikanische Politikwissenschaftler Franz L. Neumann, der den trockenen Gestus des deutschen Juristen nie ganz abgelegt hatte, ein wahres Feuerwerk von historischen, soziologischen und kulturtheoretischen Einfällen, die ganz unvermutet zu einem existentiellen Bekenntnis zusammenschossen.1 Was gleichzeitig eine wissenschaftsgeschichtliche Standortbestimmung und eine politische Selbstreflexion war, wurde dadurch so beredt, dass Neumann seine eigene Lebensgeschichte als Anschauungsbeispiel verwendete, um einen ganz bestimmten Typus von Wissenschaftler zu charakterisieren.

Neumann nennt diesen Typus den „political scholar“ und erläutert seine Gestalt zunächst an einer historischen Skizze des politischen Exils von Ovid über Dante und Marsilius von Padua bis zu Spinoza und Karl Marx, um dann auf seinen eigenen akademischen Werdegang zu sprechen zu kommen. Er erinnert sich, wie er als Student der Rechtswissenschaft die Erfahrung machen musste, dass die in der Tradition Humboldts stehenden deutschen Professoren mehrheitlich politisch „reaktionär“ und antisemitisch waren, somit aktiv an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie beteiligt. Dieses Erlebnis hatte ihn während des Regimewechsels vom Kaiserreich zur Weimarer Republik sozusagen „politisch erweckt“. Dennoch blieb er während des Studiums primär den deutschen Traditionen des Idealismus und Historismus ausgesetzt und war somit auf eine Mischung aus Theoriegläubigkeit und historischem Relativismus fixiert, die auch der Reformismus der Arbeiterbewegung bei aller Orientierung am Marxismus nicht überwinden konnte. Diese Haltung kam erst in die Krise, als die deutschen Emigranten sich in das ganz andere amerikanische Wissenschaftssystem einpassen mussten.

Um mit dem bedrängenden Kulturschock fertig zu werden, boten sich drei prinzipielle Möglichkeiten an, die Neumann typologisch ausbuchstabiert2: Der emigrierte Wissenschaftler kann sich der neuen Welt entweder umstandslos anpassen und seine Herkunftswelt verleugnen; oder er kann an seiner Herkunft starr festhalten und sich der neuen Welt verweigern; am produktivsten aber findet Neumann eine dritte Haltung, die er deswegen auch normativ auszeichnet: Sie besteht im Versuch der Synthese zwischen der alten und der neuen Welt, die freilich auch eine besondere Herausforderung bleibt. Dieser Wissenschaftler, wie ihn Neumann fordert, kann sich weder aus der Theorie noch aus der Politik davonstehlen, er darf weder von der Realität der Macht noch von der Macht der Ideen absehen, er wird den Dämon, von dem Max Weber die Politik beherrscht sah, in seine Seele einlassen, um ihn mit den Mitteln der Wahrheit zu besiegen.

Das aber birgt ein hohes Risiko: Weil der „political scholar“ vom theoretischen Denken ebenso wenig lassen kann wie vom politischen Handeln, ist seine Existenz bis ins Innerste geprägt durch den Konflikt mit den Herrschenden der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Sein Lebensnerv ebenso wie seine soziale Funktion besteht in der Kritik der bestehenden Verhältnisse, und das kann im Zeitalter der totalitären Diktaturen auf seine Verfolgung, im Extremfall auf die physische Auslöschung hinauslaufen. Und auch wenn die aktuelle Erfahrungslage sich aufgehellt hat und die Weltverhältnisse wenigstens zu einem „kalten Krieg“ stabilisiert scheinen – hintergründig spielt Neumann mit dem Umkehrschluss: Ein Intellektueller, der in Frieden mit den Herrschenden leben will, hat sich seiner wahren Mission bereits begeben. Und das gilt eben nicht nur für die Diktatur, sondern auch für die Demokratie.3

Der folgende Essay skizziert den Lebensweg von Franz Neumann in politik- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive und will gleichzeitig exemplarisch herausarbeiten, welche Faktoren an der Herausbildung des „political scholar“ im 20. Jahrhundert mitgewirkt haben. Der Aufriss der vier Stationen – Arbeitsrechtler in der Weimarer Republik; politischer Exilant in London und New York; Kampf gegen Hitler während und nach dem Zweiten Weltkrieg; Politikprofessor in New York und Berlin – muss vor allem eines vermeiden: die finalistische Glättung einer ebenso rasanten wie kurvenreichen Lebensgeschichte, die durch große Erfolge, aber auch durch Enttäuschungen und Widersprüche geprägt war. Wenn sich dennoch unverwechselbar herauskristallisieren wird, was man Neumanns „Identität“ nennen kann, so sagt dies ebenso viel über einen starken, den widrigen Verhältnissen trotzenden Charakter wie über die Gründe und Abgründe, von denen das 20. Jahrhundert, die deutsche Zeitgeschichte zumal, geprägt war.

I. Arbeitsrecht und Wirtschaftsdemokratie – reformistische Politik in der Weimarer Republik

Eine exponierte Karriere war Franz Neumann nicht in die Wiege gelegt und zeichnete sich doch bald ab: Im Jahr 1900 im schlesischen Kattowitz geboren und in einer jüdischen Handwerkerfamilie aufgewachsen, entfernte er sich rasch von seinem Herkunftsmilieu und nahm mit 18 Jahren das Studium der Jurisprudenz auf, zuerst in Breslau und dann in Leipzig. Im Revolutionswinter beteiligte er sich dort am Barrikadenkampf der revolutionären Soldaten und Arbeiter, schlug sich dann aber nicht auf die Seite der Rätedemokratie, sondern sah seine politische Zukunft bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Damit wurde auch die berufliche Ausrichtung seines juristischen Studiums erkennbar, das er in Rostock fortsetzte und 1923 in Frankfurt am Main mit einer Promotion abschloss.4

Die Schnelligkeit, mit der Franz Neumann sich in der keineswegs schon gefestigten Berufswelt nach dem Ersten Weltkrieg zurechtfand, mag mit seinem Aufstiegswillen zu tun gehabt haben, erstaunlich bleibt die Zielsicherheit, die einen jungen Mann aus der östlichen Provinz genau dort andocken ließ, wo eines der interessantesten Reformprojekte der Weimarer Republik Gestalt annahm: die Entwicklung eines modernen Arbeitsrechts und dessen Ausgestaltung zur Wirtschaftsdemokratie. Noch während er seine Referendarzeit absolvierte, wurde Neumann Assistent bei Hugo Sinzheimer, der bereits 1919 im Verfassungsausschuss bei der Neuregelung der Arbeitsverhältnisse Pate gestanden hatte und jetzt an der Frankfurter Universität Arbeitsrecht lehrte. Hier und in der benachbarten „Akademie der Arbeit“ tat sich ein Wirkungsfeld auf, das gleichzeitig eine politische Gesinnungsgemeinschaft und ein höchst produktiver Arbeitszusammenhang war, aus dem später so kantige Männer hervorgingen wie Ernst Fraenkel und Otto Kahn-Freund.

In diesem Kreis erwies sich Franz Neumann rasch als einer der kreativsten und wendigsten Köpfe. Hat man Hugo Sinzheimer als den „Vater des Weimarer Arbeitsrechts“ bezeichnet, so erwies sich sein Schüler als der Jungpionier, der dieses juristische Fachgebiet nicht nur verfassungsrechtlich und rechtsdogmatisch präzisierte, sondern auch auf neue Detailfragen wie das Arbeitsvertrags- und Tarifrecht, die Stellung der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern, die Kartell- und Monopolkontrolle und die normsetzende Rolle der Rechtsprechung ausdehnte. Maßgeblich für Neumanns frühe Sichtbarkeit war nicht zuletzt, dass seine Tätigkeit zu gleichen Stücken praktisch ambitioniert und theoretisch munitioniert war: Seit Mitte der 20er Jahre ist Neumann in den einschlägigen Fachzeitschriften präsent, im Jahr 1928 wird er Syndikus der Bauarbeitergewerkschaft in Berlin und eröffnet ein Anwaltsbüro zusammen mit Ernst Fraenkel, der seinerseits die Rechtsvertretung der Metallarbeitergewerkschaft übernimmt.

Vielleicht versteht man das enorme Selbstbewusstsein und den Zukunftselan dieser beiden Männer am besten, wenn man sich vorstellt, wie sie ab 1930 am Halleschen Ufer im hochmodernen Gewerkschaftshaus „residierten“, das der Bauhausarchitekt Erich Mendelsohn entworfen hatte. Von hier aus führte Neumann etliche Schlüsselprozesse bis hinauf zum 1927 eingerichteten Reichsarbeitsgericht in Leipzig, beteiligte sich also, immer an der Seite der Gewerkschaften, an der Rechtsfindung durch die Justiz oder formulierte sogar Vorlagen für Gesetzentwürfe. Gleichzeitig legte er eine geradezu explodierende Publikationstätigkeit an den Tag, die sich jetzt von den Spezialthemen löste und sowohl juristisch wie politisch ins Allgemeinere ausgriff: „Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung“ (1929); „Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung“ (1930); „Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung“ (1931); „Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung“ (1932) – so lauteten jetzt die Titel seiner Aufsätze und Broschüren, von denen die letztere Buchlänge hatte und u.a. im Seminar von Carl Schmitt diskutiert worden war.5

Die Öffnung des juristischen Diskurses hin zu Fragen der Sozialpolitik war natürlich keine Erfindung von Neumann und seinen Mitstreitern, sondern dem Arbeitsrecht von Anfang an inhärent. Wie Hugo Sinzheimer, der sich seinerseits auf die Studien des Österreichers Karl Renner berief, schon vor 1918 gefordert hatte, war die rechtliche Regulierung der Lohnarbeit ein zentrales Ziel der politischen Arbeiterbewegung gewesen und damit ein langfristiges Projekt, das der marxistischen Kritik am Kapitalismus entsprang und untrennbar mit dem Fernziel einer sozialistischen Gesellschaft verbunden war.6 Neu und vielversprechend war aber die Konstellation, die sich durch die vergleichsweise starke Stellung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ergeben hatte: Sie hatten, gestärkt auch durch die Niederschlagung der Novemberrevolution, bei der Aushandlung der Weimarer Verfassung weitreichende politische und soziale Grundrechte durchsetzen können.

Wenn man den Weimarer Reformismus insgesamt durch seine legalistische Strategie charakterisieren kann, d.h. durch den Glauben, dass die Rechtsform das geeignete Instrument zur Herbeiführung des Sozialismus sei, so steckte darin nichts weniger als eine geschichtsphilosophische Heilserwartung. Es ist von einiger Bedeutung, sowohl den Voraussetzungen wie den Folgen dieser Utopie im zeitgeschichtlichen Horizont nachzuspüren. Der Weimarer Reformismus setzte primär – und unterschied sich genau damit von der „permanenten Revolution“ der Kommunisten (Trotzki) – auf den progressiven Ausbau des Rechtsstaates, er sah in der Rechtsform die historische „Dialektik von politischer und sozialer Demokratie“ in Gang gesetzt und brach damit der marxistischen Geschichtsauffassung, die nach wie vor die Leitideologie auch der Sozialdemokratie war, gleichsam die Spitze ab. Sie war reformorientiert, blieb aber eben auch in den „historischen Block“ der bürgerlichen Klassengesellschaft eingebunden, wie Antonio Gramsci es genannt hat.

Neumanns wissenschaftliche und politische Anfänge in der Weimarer Republik passten sich in diese Konstellation ein, wobei man jedoch den ebenfalls von Gramsci geprägten Begriff des „organischen Intellektuellen“ nicht umstandslos auf ihn anwenden sollte: Der Aufbau des Arbeitsrechts ebenso wie die Idee der gewerkschaftsgebundenen Wirtschaftsdemokratie entsprachen sicherlich eher den zentristischen, wenn nicht den konservativen Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung7, doch stechen an Neumanns Beiträgen zu diesen Politikfeldern, die gewiss gesellschaftspolitisch hochsignifikant waren, vor allem zwei Eigenschaften hervor: Sie enthalten sich großenteils der ideologischen Begründung aus dem Fundus der marxistischen Weltanschauung, und sie sind dementsprechend über weite Strecken rein technisch-juristisch gehalten, was als ihre Stärke gemeint war, aber sich bald als Schwäche erweisen sollte.

So ist z.B. Neumanns Situationsanalyse im Krisenjahr 1929 immer noch in die nüchterne Formel gepackt, es sei „die rechtliche Formulierung für eine Situation zu finden, die nicht mehr rein kapitalistisch, aber auch nicht sozialistisch ist“.8 In diesem Zwischenreich, das mehr ein logischer Ermöglichungsraum als ein realpolitischer Handlungsraum war, sah er die Hoffnungen angesiedelt, die sich mit der Institutionalisierung und der rechtlichen Ausgestaltung der Wirtschaftsdemokratie verbanden. Als seine Grundpfeiler sollten die freien Gewerkschaften auf der einen Seite, die großen Wirtschaftsverbände auf der anderen Seite fungieren, die paritätisch, aber unter strenger Aufsicht des Staates die sozialen Machtverhältnisse zugunsten der Arbeiterschaft umgestalten sollten. Mehr oder weniger ausgespart war dabei, wie sehr die tatsächlichen Wirtschaftsstrukturen längst in Richtung auf Monopol- und Kartellbildung verändert, wie schwach also die Arbeiterorganisationen bereits waren, bevor sie von den dramatischen Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise erfasst wurden. Es war bekanntlich die Unlösbarkeit der wirtschaftspolitischen Konflikte, die den schon vorher bemerkbaren republikfeindlichen Tendenzen Oberwasser verschafften und ihnen dann ab 1930 zum Durchbruch im Staatsapparat selber verhalfen.

Man kann die politische Arglosigkeit, wenn nicht die Selbsttäuschung der Reformstrategen am Ende der Weimarer Republik recht gut durch eine Anekdote erläutern. Franz Neumann hatte 1930 auf die pessimistische Krisendiagnose der Weimarer Verfassung, die sein jungsozialistischer „Genosse“ Otto Kirchheimer vorgelegt hatte, negativ reagiert: Vordringlich sei nicht die marxistische Kritik des gegebenen Staates, vielmehr sei es „die zentrale Aufgabe der sozialistischen Staatstheorie, den positiven sozialen Gehalt des zweiten Teils der Weimarer Verfassung zu entwickeln und konkret darzustellen … Wenn Kirchheimer in seiner Überschrift, die sehr stark kommunistischen Gedankengängen nahekommt, ,Weimar – und was dann?‘ fragt, dann kann die Antwort nur lauten: ,Erst einmal Weimar‘!“9

Franz Neumann hat diese defensive Haltung in wirtschaftspolitischen Dingen lange beibehalten, während sich Kirchheimer bekanntlich seit 1930 daran machte, das ganze Ausmaß der antidemokratischen Reaktion zu dokumentieren: In der Justizpraxis ebenso wie im akademischen Staatsrecht, in der Verselbständigung der Bürokratie gegenüber dem Parlament ebenso wie im Notverordnungsregime des Reichspräsidenten sah er Kräfte am Werke, die das Legalitätsgerüst der Weimarer Republik unterminierten und auf einen autoritären Staat hinarbeiteten.10 Erst als Neumann 1932 neben seiner Gewerkschaftsarbeit zusätzlich als Syndikus der SPD tätig wurde, positionierte er sich in der größeren politischen Öffentlichkeit und ergriff Partei z.B. gegen die Einschränkungen der Pressefreiheit.11

II. Im Exil: Radikalisierung der Theorie und Analyse des Nationalsozialismus

Die Machtergreifung Hitlers erlebte Franz Neumann als Schock. Jetzt war er so exponiert, dass er sofort in den Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung geriet: Als am 2. Mai 1933 SA-Schergen sein Büro im Kreuzberger Gewerkschaftshaus stürmten, entging er nur knapp der Verhaftung und machte sich wenig später auf den Weg nach London. Wieder ist es erstaunlich, wie schnell er sich im englischen Exil zurechtfand: Neumann hielt sich nicht lange mit der schmerzlichen Zerstörung seines beruflichen Wirkungsfeldes auf, vielmehr nutzte er seine wohl schon vorher bestehenden Beziehungen zur englischen Labour-Party, um sich neu zu orientieren. Durch die Vermittlung von Harold Laski erhielt er ein Stipendium und begann ein Promotionsstudium an der London School of Economics, in dem sich seine bisherigen Erfahrungen in Deutschland im angelsächsischen Wissenschaftssystem sozusagen zu spiegeln begannen. Vorher Gegner jedes politischen Radikalismus, verwandelte sich der deutsche Gewerkschaftsjurist nicht nur in einen fulminanten Kritiker des Hitler-Regimes, sondern stürzte sich atemlos in die theoretische Arbeit. Er nutzte das Exil für eine grandiose Ausweitung der theoretischen Perspektive.

Bereits im Herbst 1933 war Neumann mit einem englischen Aufsatz hervorgetreten, der den „Decay of German Democracy“ mit dem Ausdruck der Verzweiflung konstatierte und dabei sowohl analytisch aufs Ganze ging als auch mit herber Selbstkritik nicht sparte. Es folgte eine Reihe von Interventionen und Pamphleten, die unter dem Pseudonym „Leopold Franz“ nach Deutschland eingeschmuggelt wurden, um den Widerstand gegen Hitler zu unterstützen. Das interessanteste von ihnen ist eine kleine, aber scharfgeschnittene Geschichte der deutschen und europäischen Gewerkschaftsbewegung, die mit einer knappen eigentumsrechtlichen Grundlegung beginnt und dann ihre Etappen – von der Entstehung über die rechtliche Anerkennung im Liberalismus bis zur Instrumentalisierung durch die fortschreitende Monopolisierung des Kapitals – im Einzelnen schildert. Am Ende dieser Entwicklung steht die schrittweise und schließlich die völlige Vernichtung der freien Gewerkschaften, die der totalitäre Staat und besonders seine extreme Ausformung im Nationalsozialismus durchgesetzt haben. Geradezu diabolisch stieß Neumann dabei die Tatsache auf, dass dieser Destruktionsprozess noch mit denselben theoretischen Mitteln analysiert werden konnte wie die Zukunftsversprechungen, die vorher damit verbunden gewesen waren.12

Es war also ein Selbstzerstörungsvorgang allergrößten Ausmaßes, der sich als der eigentliche Schock entpuppte, und er wirkte umso nachhaltiger, als die daraus entspringende Selbstreflexion die theoretische Anstrengung befeuerte. Vielleicht muss man einen krassen Widerspruch dieser Art ins Zentrum rücken, um die Ausrichtung und Reichweite, aber auch die Wucht und den inneren Widerstreit zu verstehen, die sich in Neumanns theoretischem Denken in den 1930er Jahren Ausdruck verschafften. Er folgerte daraus einerseits entschieden die notwendige Rückkehr zur marxistischen Gesellschaftstheorie, differenzierte diesen Schritt aber andererseits durch Annahmen aus der zeitgenössischen soziologischen und politischen Theorie, für die Harold Laski und Karl Mannheim Pate standen. Die Dissertation, mit der Neumann 1936 an der London School of Economics promoviert wurde, orientiert sich ganz an diesem zweifachen Methodenprogramm und entwirft eine großflächige Strukturgeschichte der Rule of Law bzw. des Rechtsstaates in der bürgerlichen Gesellschaft:

Beginnend mit einer pointierten Methodenkritik des Weimarer Staatsrechts, wird in einem weit ausgreifenden Exkurs die „Entzauberung des Rechts“ (Max Weber) an der Ideengeschichte des abendländischen Rechtsdenkens von Thomas von Aquin bis zu Hegel durchdekliniert – mit dem lapidaren Ergebnis, dass der Konflikt zwischen Recht und Macht, zwischen Freiheitssphäre und Staatsouveränität zwar jeweils verschieden artikuliert wurde, aber theoretisch durchgehend ungelöst blieb. Der zweite, der Hauptteil der Arbeit konzentriert sich auf die neuere Entwicklung seit dem Liberalismus und entwirft ein Theoriemodell, das speziell dem Gesetzesrecht drei Hauptfunktionen zuweist: Das Gesetz (definiert durch Allgemeinheit, Bestimmtheit und Nicht-Rückwirkung) ist staatlich gesetztes Recht (im Gegensatz zum Naturrecht) und garantiert erstens die Berechenbarkeit der Ökonomie, es sorgt zweitens politisch für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsordnung und verdeckt dies gleichzeitig, und es steht drittens für ein ethisches Minimum, das im individuellen Rechtsschutz kristallisiert ist.

Dieses Konstrukt aber, so wird unmissverständlich behauptet, ist selber nur ein Idealtypus, eine theoretische Abstraktion, die zwar im englischen Parlamentarismus und im deutschen Rechtsstaatsverständnis eine gewisse Realisierung erreichte, deren wirkliche Geschichte aber anders verlief und anders verlaufen musste – zum einen, weil schon der liberale Staat sich seines irrationalen Machtüberschusses niemals entledigt hatte, und zum andern, weil dieser Staat und sein Recht im Zuge der Industrialisierung zunehmend unter das Diktat des Kapitals und seines inneren wie äußeren Expansionsstrebens gerieten. Das Letztere wird besonders deutlich greifbar an der jüngsten Entwicklung in Weimar-Deutschland, in dem das Gesetzesrecht zunehmend nicht nur für die Aufrechterhaltung des Monopolkapitalismus instrumentalisiert, sondern damit auch seiner formalen Eigenschaften beraubt wurde, um schließlich, mit dem Übergang vom autoritären zum totalitären Staat, ganz kassiert zu werden.13 Diese Diagnose war sicherlich einigermaßen grobmaschig gewebt, aber sie hielt auch ein ganzes Arsenal scharfgeschliffener analytischer Instrumente bereit, um zu verstehen, was die politische Stunde geschlagen hatte.

Jedes politische Exil ist per se oder zumindest in den meisten historischen Fällen eine schwierige, wenn nicht ruinöse Konstellation, was erfolgreiches politisches Handeln betrifft, ebenso oft erweist es sich für viele intellektuelle Leistungen, für künstlerische oder wissenschaftliche Ideen zumal als eine Wüste der Sprach- und Wirkungslosigkeit. Für Franz Neumann trifft das nur teilweise zu: Da er in England keine Perspektive mehr für sich sah, wanderte er 1937 in die USA weiter und erhielt in New York, vermittelt durch Harold Laski, eine Anstellung in Max Horkheimers Institute of Social Research. Zwar ist es von einiger Aussagekraft, dass Neumann seine Londoner Dissertation weder in den 1930er Jahren noch später publiziert hat, als er selbst Professor an der Columbia University geworden war – immerhin hat er in gekürzter Form einige ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert, auch wenn dabei der aufreizende Theorieimpuls und seine methodischen Folgerungen deutlich abgeschwächt wurden.14 Das aber hinderte Neumann nicht daran, sein ureigenes Projekt weiterzutreiben. Obwohl er hauptsächlich für die Finanzangelegenheiten engagiert worden war, verstand er es, die Kontaktmöglichkeiten des Instituts zu nutzen und in eine lebhafte Forschungs- und Diskussionsgemeinschaft vor allem mit Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse einzutreten, die schon vorher zum Institut gestoßen waren.

Trotzdem ist es nach wie vor ein Geheimnis, wie es für Neumann in so kurzer Zeit möglich war, das Werk zu schreiben, das die erste große Publikation des Instituts für Sozialforschung in den USA werden und sein eigenes „magnum opus“ bleiben sollte: Das Buch trug, in gleichzeitiger Anspielung auf das Alte Testament und auf Thomas Hobbes, den Titel „Behemoth“ und erschien 1942 bei Oxford University Press.15 Es versprach eine kompakte Darstellung von Politik und Gesellschaft des Nationalsozialismus, löste diesen Anspruch auch voluminös ein und wurde daher in der amerikanischen Öffentlichkeit sofort als Standardwerk über die neueste Entwicklung in Deutschland begrüßt. Und da die USA gerade der Anti-Hitler-Koalition beigetreten waren, stand das Buch eines bislang unbekannten Exilanten aus Deutschland auch für eine politische Botschaft, die ebenso klar war, wie sie mit bemerkenswerten Ambivalenzen aufwartete: Neumann gab sich wenig Mühe, seine marxistische Grundorientierung zu verbergen, modifizierte diese lediglich durch neuere Theorien aus Soziologie, Rechtswissenschaft und Ideengeschichte und behauptete mit großer Verve, dass nur so das politische Ungeheuer, als das der Nationalsozialismus von vielen Zeitgenossen empfunden wurde, historisch zu verstehen, analytisch zu bewältigen und moralisch zu bändigen sei. Zu besiegen aber sei es nur, wenn die Westmächte mit ihrer Kriegserklärung gegen Hitler Ernst machen würden.16

Die folgenden Zeilen können keine inhaltliche Würdigung eines mehr als 600 Seiten umfassenden Buches sein, sondern wollen lediglich die Leitbegriffe herausstellen, die Neumanns Analyse den Weg weisen und die am Ende zu einem Gesamturteil verknüpft werden.17 Vielfältig in der Tat, ja überbordend ist, was da an historischen Zusammenhängen, an neuesten Gesetzestexten und Verwaltungsverordnungen, an ökonomischen und sozialen Daten, schließlich an kriegerischen Machenschaften referiert wird, um „Germany’s New Order“ anschaulich zu machen.18 Aber erst aus der Zusammenschau der politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen ergibt sich das ganze Bild: Nur so wird greifbar, wie die nationalsozialistische Bewegung historisch auf den Weg kam, die politische Macht eroberte und dann die deutsche Gesellschaft, so rasch wie folgenreich, zu einem Regime aus Ideologie und Terror verschmelzen konnte, das die innere Opposition beseitigen, Europa mit Krieg überziehen und nichts weniger als ein rassistisches und genozidales Imperium errichten konnte. Neumanns Analyse gliedert sich in drei große Abschnitte: das politische System des Nationalsozialismus, die Organisation der Wirtschaft und die Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft.

Einleitend schildert Neumann noch einmal die Ausgangslage der Weimarer Republik und hebt die Faktoren hervor, die von Anfang an Verunsicherung und Instabilität mit sich brachten. Was die Rolle der reformistischen Arbeiterbewegung betrifft, so erscheint ihm das Ende der ersten deutschen Demokratie sowohl selbstverschuldet als auch das logische Ergebnis der Aufkündigung des Klassenkompromisses durch Junkertum und Großindustrie, auch wenn die „nationale Revolution“ ihre eigenen Wege einschlug und dann von der völkisch-antisemitischen Bewegung überholt wurde.

Die Analyse des politischen Systems des Nationalsozialismus im engeren Sinn setzt auf eine These, die bereits die Exposition von Neumanns Gesamtinterpretation ist: Zwar sei die Feindschaft gegenüber Liberalismus und Demokratie in die Rhetorik des „totalen Staates“ gehüllt worden, doch bedeute das nicht, dass der Anspruch der NS-Bewegung auf die Subordination der staatlichen Gewalt umstandslos verwirklicht worden sei. Vielmehr gehen Staat und Partei eine schwer definierbare Symbiose ein, die in heftig umkämpften Kompromissen schließlich zur erfolgreichen Gleichschaltung des politischen wie des sozialen Lebens führt. Noch am ehesten wird für Neumann dieses neuartige Gebilde aus alltäglicher Gewalt und bürokratischer Rationalität beschreibbar, wenn man sich an den Weber’schen Begriff der charismatischen Führerherrschaft hält und diesen durch eine ausführliche Bestandsaufnahme der ideologischen Formierung und der praktischen Anwendung der NS-Weltanschauung anreichert. In diesem Sinne rekonstruiert Neumann die Ursprünge der Begriffe Volk und Rasse im deutschen 19. Jahrhundert sowie ihre „Modernisierung“ zum politischen Antisemitismus, vor allem aber interessiert er sich für ihre Benützung zur rechtlichen und ökonomischen Diskriminierung der Juden. Der Feinderklärung nach innen entsprechen nach außen die Theorien vom deutschen „Lebensraum“ und von der Überlegenheit der germanischen Rasse, die nicht nur das Völkerrecht zerstörten, sondern im Zweiten Weltkrieg schreckliche Wirklichkeit wurden.

Die Analyse des Wirtschaftssystems ist Neumann ein besonderes Anliegen. Das marxistische Plädoyer für den methodischen Primat der Ökonomie und die Annahme vom fortgesetzt kapitalistischen Charakter des Wirtschaftens unterm Nationalsozialismus führen indes nicht dazu, die großen Umbrüche der 30er und frühen 40er Jahre zu verkennen. Detailliert wird ausgeführt und an der Reorganisation der Wirtschaft im Kraftfeld zwischen Staat und Großindustrie demonstriert, dass sich die machtvoll erstarkende Konjunktur im Nebeneinander und Ineinander von zwei großen Regelkreisen bewegt: Während der privatkapitalistische Sektor vor allem durch rapide Monopolisierung charakterisiert ist, die exakt dadurch eine ungeahnte Dynamik entfalten konnte, dass die dirigistischen Eingriffe des Staates (mittels Zwangskartellen, Preiskontrollen und nicht zuletzt der Regulierung des Arbeitsmarktes) für die Steigerung des Profitstrebens eingesetzt wurden, funktionierte der ebenfalls wachsende staatliche Sektor zwar direkt als Befehlswirtschaft, ohne jedoch die gesamte Ökonomie planwirtschaftlich zu transformieren. Im Gegenteil, die Pointe von Neumanns empirienaher Argumentation geht darauf, dass der aus der Logik der Rassenideologie folgende staatliche Eigentumsraub, konkret die „Arisierung“ der jüdischen Vermögen und die „Germanisierung“ der fremdländischen Industrien, vor allem den privaten Wirtschaftsgiganten zugute kam. In der zweiten Auflage des Buches von 1944, angesichts der fortgeschrittenen Kriegswirtschaft, wird dann nicht so sehr die Umkehrung dieses Gedankens erwogen, sondern die Verschmelzung von Politik und Wirtschaft im kollektiven Verbrechen konstatiert: „Die Praktiker der Gewalt werden mehr und mehr Unternehmer und die Unternehmer Praktiker der Gewalt“.19

Der dritte Teil des „Behemoth“ buchstabiert aus, was das soziologisch bedeutet, und entfaltet zu diesem Zweck eine kombinierte Klassen- und Elitentheorie, die später als „Polykratie-Theorie“ bekannt wurde: Neumann sieht in Deutschland eine neue und scharfgeschnittene Herrschaftsstruktur entstanden, die mit direkter Gewalt und ideologischem Terror durchgesetzt wurde und nur mit denselben Mitteln aufrechterhalten werden kann. Trotzdem erscheint die herrschende Klasse weniger als eine einheitliche Formation, sondern als ein wüstes Konglomerat von politischen, sozialen und ökonomischen Machtklumpen, deren Interessenkonkurrenz nur mühsam durch die in sich selber gestaltlose Volkstumsideologie überdeckt wird – einig sind sie sich lediglich in der rücksichtslosen Gewaltanwendung nach innen und außen. Den vier zentralen Säulen des Regimes – Partei, Staatsbürokratie, Armee und Wirtschaftsführung – steht die Masse der Bevölkerung macht- und hilflos gegenüber: Wie die Zerschlagung der demokratischen Institutionen zur Zerstörung der autonomen sozialen Milieus geführt hat, so ist die Arbeiterklasse dem direkten Diktat des Kapitals und der Ministerialbürokratie ausgeliefert – Zwangsorganisationen wie die „Deutsche Arbeitsfront“ sind nur gleißende Fassade, hinter der Lohndumping und Sklavenarbeit stattfinden.

Dass Neumanns Analyse der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung schließlich einmündet in einen rechts- und staatstheoretischen Traktat, war natürlich seiner Vorbildung als deutscher Jurist geschuldet – und ebenso wenig war es ein Zufall, wie dieser Traktat theoretisch munitioniert war und worauf er am Ende abzielte: Er kulminiert in der ebenso erschreckten wie erschreckenden These, dass die raison d’être des Regimes in der gezielten Zerstörung rechtlich garantierter Freiheiten greifbar und das dadurch entstehende Vakuum gefüllt wird durch den blanken Einsatz von Propaganda und Terror. Dementsprechend entsetzt lautet die Schlusspointe, die Neumann mit großem Gestus ausführt, dass der Nationalsozialismus ein organisiertes Chaos, ein „Non-State“ und damit ein so neuartiges wie monströses Gebilde sei, das im Kontrast zur gesamten europäischen Ideengeschichte stehe. Wenn also das Wesen des Nationalsozialismus vor allem in seiner unerhörten Destruktivität nach innen und in der kriegerischen Aggression nach außen besteht, was bedeutet das für seine Gegner und wie lässt sich der Kampf gegen einen solchen Aggressor überhaupt führen?

III. Krieg und Nach-Krieg: Politikberatung und Deutschlandpolitik

In der Tat muss man die nun folgende Strecke in Neumanns Lebensgeschichte insgesamt als Antwort auf diese Frage verstehen: Sie führte ihn ab 1942 nach Washington und in die Institutionen des amerikanischen war-effort, zuerst in den Board of Economic Warfare und dann in den neugegründeten Geheimdienst, das Office of Strategic Services (OSS), wo er sich rasch als die leitende Figur in der Research and Analysis Branch etablierte. Zwar war dieser Schritt auch durch die finanziellen Engpässe des Instituts für Sozialforschung mitbedingt, aber maßgeblicher dafür wurden die politischen Zielvorstellungen, die Neumann mitbrachte und die sich am Ende des „Behemoth“ in aller Deutlichkeit formuliert finden: Neumann stellte sich unmissverständlich hinter die Politik der Alliierten, verband diese Parteinahme aber nicht nur mit der Forderung nach der militärischen Niederwerfung des Hitler-Regimes, sondern erklärte, dass ein nachhaltiger Sieg nur erreichbar sei, wenn er den demokratischen Wiederaufbau in Deutschland zum Hauptziel erhebe, dieser aber seinerseits einen veränderten sozio-ökonomischen Unterbau erhalte. In dieser Verklammerung steckte nichts weniger als ein Konflikt, der sich in dem Maße dramatisieren sollte, wie der Krieg gegen Hitler eskalierte und sich die Nachkriegsziele der amerikanischen Politik konkretisierten.

Das halbe Jahrzehnt, das Franz Neumann im amerikanischen Staatsdienst verbrachte, war lange Zeit skandalumwittert. Heute gehört es zu den am besten erforschten Episoden nicht nur einer speziellen Fraktion der sog. Frankfurter Schule, sondern der Ideengeschichte der sozialwissenschaftlichen Emigration nach 1933 insgesamt20: Wie Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer in den Geheimdienst überwechselten, wie sich eine ganze Truppe weiterer Emigranten zu ihnen gesellte, in welche Richtung die hochkompetenten Deutschlandexperten die Direktiven ihrer Auftraggeber zu lenken verstanden und wie weit sie mit der Verfolgung eigener politischer Ziele kamen – mit dergleichen Fragen lässt sich die gigantische Masse an Stoffsammlungen, Strategiepapieren und politischen Expertisen aufschlüsseln, die einerseits als wissenschaftliche „Feindanalysen“ gedacht waren und andererseits Handlungsanweisungen dafür geben sollten, was zunächst militärisch und dann politisch gegen Hitler-Deutschland zu tun sei. Hier können nur zwei der brisantesten Themenkreise erwähnt werden, die im Laufe des Krieges und besonders gegen sein Ende im Frühjahr 1945 ins Zentrum der Aufmerksamkeit getreten sind:

Während die Neumann-Gruppe anfangs davon ausgegangen war, dass die innere Opposition gegen Hitler noch über einen gewissen Handlungsraum verfügte und die deutsche Bevölkerung durch die Kriegsverluste vielleicht auf Distanz zum Regime gehen könnte, verflüchtigte sich diese Hoffnung rasch. Ein markanter Anhaltspunkt ist der 100-seitige Anhang, den Neumann 1944 der zweiten Auflage des „Behemoth“ hinzufügte, auch weil hier die neuesten Lageberichte des OSS bereits Eingang gefunden hatten, die ein weit negativeres Bild ergaben: Im Zuge der Kriegswirtschaft und besonders der Expansion nach Osten sah Neumann eine progressive Verschmelzung der vier Herrschaftseliten am Werke, wobei der Einfluss von Parteiführung und Wirtschaftsmonopolisten auf Kosten der Staatsbürokratie gesteigert erschien und der direkte Befehl und die Ausweitung des Terrors zu unwiderstehlichen Herrschaftsinstrumenten geworden waren. Die Schlusspointe lautete jetzt, dass die anarchische Struktur des „Behemoth“ zur Vollendung gebracht, die perverse Pluralität der Herrschaftseliten im kollektiven Verbrechen zusammengeschweißt war, und zwar mittels eines hochsignifikanten Vorgangs, den Neumann mit der „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“ zu verstehen versuchte.21

Schon ab 1943 war, in Naherwartung der deutschen Niederlage, die Planung der Nachkriegsordnung ins Zentrum der Forschungsarbeit getreten, ein Riesenkomplex, für dessen Kennzeichnung sich die Kurzformel von den „four D’s“ eingebürgert hat22: Dem Primat der Kriegsführung entsprechend, stand zunächst das Ziel der „Demilitarization“ im Vordergrund, und zwar in der radikalen Form der „unconditional surrender“. Zweifelsfrei konsentiert von den militärischen und den zivilen Behörden, zwischen denen der Geheimdienst positioniert war, war auch die „Denazification“, d.h. die Entmachtung der Nazi-Partei und aller ihr angeschlossenen Organisationen, was angesichts der fast vollständigen Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft einer Herkulesaufgabe gleichkam. Differenzen zu den amerikanischen Zielen hingegen taten sich, zumindest bei Franz Neumann und den ehemaligen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung, darin auf, dass sie die Grundstruktur des Nationalsozialismus als „totalitären Monopolkapitalismus“ verstanden. Daher musste die „Decartelization“, d.h. die Zerschlagung der Monopole für sie einen hohen Stellenwert einnehmen, ebenso wie sie sich den Wiederaufbau der Verwaltung und die zukünftige Gestaltung der demokratischen Ordnung („Democratization“) nur unter bevorzugter Beteiligung von Kräften der einheimischen Arbeiterbewegung vorstellen konnten.

Hatte diese spezifische Ausrichtung von Deutschlands Zukunft schon vor 1945 wenig Rückhalt bei den amerikanischen Entscheidungsträgern gefunden, so spielte sie bekanntlich in der späteren Ausgestaltung der Militärregierung keine Rolle mehr, sondern fiel der internationalen Neuausrichtung auf die Fronten des Kalten Krieges zum Opfer. Einen Zwischenschritt dahin kann man in den sog. Nürnberger Prozessen erblicken, für deren Organisation die USA die Hauptrolle spielten: Man weiß heute, dass Franz Neumann an der juristischen Vorbereitung dieses Prozesses beteiligt und bei der maßgeblichen Londoner Konferenz auch anwesend war.23 Und in der berühmten Anklagerede von Robert Jackson wurden nicht nur einzelne Formulierungen aus den Papieren des OSS übernommen wie z.B. die erwähnte „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“, sondern auch der prinzipielle Aufbau der Anklage, in der die Kriegsverbrechen der Nazis als Ausfluss eines verschwörerischen „Masterplans“ und der Angriffskrieg im Osten sowie die Drangsalierung der eigenen Bevölkerung einschließlich des Massenmords an den Juden als „organisiertes Verbrechen“ bezeichnet wurden, wodurch der Schuldbegriff nicht auf Einzelpersonen beschränkt, sondern auf Institutionen und Organisationen ausgedehnt war. Diese soziologische Ausweitung der Anklage war durch die Leitkategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ nicht gedeckt und hat sich bekanntlich bei der Urteilsverkündung auch nicht durchgesetzt.

Das Office of Strategic Services wurde im Sommer 1945 aufgelöst und die Forschungsabteilung ins State Departement transferiert, wo ihre Mitarbeiter zunehmend ins politische Abseits gerieten. Frustriert von der Wirkungslosigkeit ihrer Analysen in der amerikanischen Politik und gleichzeitig tief ernüchtert von den deutschen Entwicklungen unter der Militärregierung, verließ Franz Neumann 1947 den amerikanischen Staatsdienst und etablierte sich, als Erster aus dem Kreis der engagierten Emigranten, an der Columbia University in New York. Aber auch in diesem neuen Kontext beschränkte er sich nicht auf die akademische Tätigkeit, sondern nutzte jetzt die Chance, seine politische Stimme in aller Öffentlichkeit zu erheben. Der Satz, mit dem seine erste Publikation nach dem Krieg anhebt, ist gleichzeitig ein Aufruf und eine Warnung: „Erziehen ist schwierig; Umerziehen ist noch schwieriger; eine andere Nation umzuerziehen, ist nahezu unmöglich. Zu versuchen, die Deutschen mittels einer Militärregierung umzuerziehen, heißt, das Unmögliche zu versuchen.“24

Mit dieser Mischung aus Skepsis und engagierter Analyse ist der Grundtenor angeschlagen, der Neumanns Interventionen zur Nachkriegsentwicklung charakterisiert, jetzt hat der „political scholar“ die für ihn typische Stimmlage gefunden und kündigt gleichzeitig eine gewisse Transformation des Zielpunktes für sein Engagement an. Es ging ihm jetzt nicht mehr primär um die Brechung der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, sondern um die Chancen für den demokratischen Wiederaufbau, aber natürlich ebenso sehr um die fortdauernden Hindernisse dafür. Geschickt positionierte er sich dabei zwischen der amerikanischen Deutschlandpolitik einerseits und den sich allmählich herausbildenden Akteuren der westdeutschen Gesellschaft andererseits. Während er sich in Kommentaren und kritischen Analysen in erster Linie an die amerikanische Öffentlichkeit wandte, scheute er sich nicht, den Finger in die Wunden der Kontinuitäten aus der Nazi-Gesellschaft zu legen, die durch die Versäumnisse der amerikanischen Besatzungspolitik mitbedingt seien. Dies galt für die Frage der immer weiter verwässerten Entnazifizierungsmaßnahmen ebenso wie für den mangelnden Umbau des überkommenen Bildungssystems, insgesamt sah er Nachkriegsdeutschland von einem Klima der politischen Apathie überzogen, die ihm als die schlimmste Hinterlassenschaft der totalitären „Kultur“ erschien.

Viele dieser Kritikpunkte finden sich in einer Broschüre zusammengestellt, die Neumann 1950 unter dem lapidaren Titel „German Democracy“ publiziert hat und die hier als Anschauungsbeispiel für sein Bild von der noch ganz jungen Bundesrepublik referiert wird25: Fünf Jahre sind seit der Niederlage des Nationalsozialismus vergangen, seit einem Jahr tagt im provinziellen Bonn ein frei gewähltes Parlament. Aber was sich als das neue demokratische System herauskristallisiert, betrachtet Neumann mit großer Skepsis. Dahinter steht die bohrende Frage, wie, sozusagen über Nacht, aus einer erkennbar pro-nazistischen Mehrheit ein genuin pro-demokratisches Volk hervorgegangen sein soll. Waren es nicht eher die außenpolitisch determinierten, von den Besatzungsmächten diktierten Prämissen, die den Deutschen die demokratischen Institutionen mehr oder weniger verordnet haben? Konsequenterweise sieht er im Grundgesetz und besonders in seinem exzessiven Grundrechtsteil so etwas wie einen „Verfassungsfetischismus“26 am Werke, eine Haltung, die juristische Garantien mit einer lebendigen Demokratiekultur zu verwechseln droht, ebenso wie er in der starken Stellung des Kanzlers und in der aus der NS-Zeit übernommenen Ministerialbürokratie eine strukturelle Beeinträchtigung des parlamentarischen „Souveräns“ vermutet. Auch den aus den Parteien entspringenden Willensbekundungen begegnet er mit Misstrauen, nicht nur, weil die SPD sich weitgehend nach dem Weimarer Modell reorganisiert hat, sondern mehr noch, weil die CDU/CSU sich als diffuses Mitte-Rechts-Bündnis darstellt, dessen Profil hauptsächlich von einer autoritären Großvater-Figur geprägt ist. Über Konrad Adenauer heißt es: „Er ist ein äußerst intelligenter und geschickter Politiker, ganz sicher antinazistisch, aber mit ausgeprägten autoritären Charakterzügen.“27

Nimmt man die Restaurationstendenzen in den erklärten Rechtsparteien sowie die Reaktionsbildungen in der Industrie und im großen Heer der Heimatvertriebenen hinzu, so ergibt sich keine rosige Perspektive: „So ist es durchaus möglich, dass sich ein substantieller Teil der Bevölkerung tatsächlich einer neo-nazistischen Lösung zuwenden wird, obschon der Aufstieg eines zweiten Hitler innerhalb einer Generation unrealistisch scheint.“28 Und da das natürlich verhindert werden muss, lautet der kategorische Imperativ: strikte Ablehnung einer deutschen Wiederbewaffnung und weitere, ja verstärkte Kontrollen durch die amerikanische Besatzungsmacht, die vor allem den Schutz der Freiheitsrechte, die reaktionären Tendenzen in der Industrie und in den kleinen Rechtsparteien sowie die Einrichtung einer demokratischen Erziehung und eine gerechte Umverteilungspolitik im Auge behalten soll. Die westdeutsche Demokratie erscheint Neumann offenbar als ein schwaches, hauptsächlich von den Besatzungsmächten gestütztes Pflänzchen, das noch nicht autochthon eingewurzelt ist.

Dass damit jedoch kein abschließendes Urteil gefällt, der engagierte Beobachter vielmehr bereit war, seine skeptische Grundhaltung zu überprüfen und neue Tatsachen der Nachkriegsentwicklung zur Kenntnis zu nehmen, zeigt ein späterer, eher beiläufiger Aufsatz aus dem Jahr 1954. Unter dem Titel „Germany and World Politics“ nahm Neumann seine vorherige kategorische Ablehnung der deutschen Wiederaufrüstung zurück, allerdings nur unter der Bedingung, dass der deutsche Wehrbeitrag in eine europäische Verteidigungsgemeinschaft eingebaut werde. Auch der Regierungsstil Adenauers erschien ihm jetzt eher als ein Stabilitätsfaktor, während er in aller Nüchternheit darauf hinwies, dass der von Regierung wie SPD-Opposition je verschieden intonierte Wiedervereinigungswunsch nichts als Augenwischerei sei: Seine Unerfüllbarkeit sei der Preis, den man für die wirtschaftliche und militärische Westintegration zu zahlen habe. Dessen mögliche Kompensation durch die in Gang gesetzten Planungen für ein Vereintes Europa aber konnte er nicht mehr erleben.29

IV. Politikprofessor in New York und Berlin

Franz Neumanns Wirken an der New Yorker Columbia University erscheint aus der ideengeschichtlichen Distanz wie ein Blitzlicht: Kurz und grell leuchtet es auf, ebenso rasch ist es erloschen. Zum Political Science Department hatte er schon seit Anfang der 1940er Jahre Kontakt gehalten, 1948 wurde er dort zum Visiting Professor und 1950 zum Full Professor berufen. Zwar war Neumann damit im intellektuellen Establishment der amerikanischen Ostküste angekommen, doch entsprach er weder als Person dem „normalen“ Bild eines amerikanischen Professors, noch erschöpfte sich seine Tätigkeit in der Ausfüllung eines Lehrstuhls, dessen Denomination auf „Government“ lautete. Vielleicht kommt man der Realität am nächsten, wenn man annimmt, dass sich Neumann in den 1950er Jahren tatsächlich dem Idealtypus des „political scholar“ annäherte, sozusagen zu seinem Realtypus wurde, freilich nur, wenn man sofort hinzufügt, wie viel an Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen zu bewältigen war, sobald das Ideal der Wirklichkeit ausgesetzt wurde. Es sind das Changieren zwischen weit auseinanderliegenden Welten, das Überschreiten der geographischen wie der theoretischen Grenzen und nicht zuletzt die Erfahrung neuer Behinderungen und Bedrohungen, die Neumanns letzte Lebensphase auszeichnen.

In der Tat trat jetzt eine geradezu abenteuerliche Rastlosigkeit in den Vordergrund: Neumann pendelte periodisch zwischen New York und Berlin hin und her, er nutzte alte Kontakte zur amerikanischen Politik und stiftete neue nach Deutschland, er organisierte Fachkonferenzen mit Kollegen, hielt eine Vielzahl von Vorträgen und scheute sich nicht, sie auch gleich, in skizzenhafter oder thesenartiger Form, zu publizieren. Seine Aufsätze umfassten ein breites Spektrum an Themen und Fragestellungen, hielten sich dabei nicht an die akademischen Fächergrenzen, sondern reagierten auf aktuelle Anlässe oder bewegten sich souverän zwischen verschiedenen Methoden und Theorien. So rigoros der deutsche Emigrant im Gewande des amerikanischen Professors das Doppelpostulat von wissenschaftlicher Wahrheitssuche und politischem Engagement auch verstanden hat und so sehr er dafür von seinen amerikanischen Studenten und Kollegen bewundert wurde – das ändert nichts daran, dass diese Lebensgeschichte in persönlicher Hinsicht als ein Torso dasteht, ebenso wie fragmentarisch und vieldeutig geblieben ist, was man Neumanns wissenschaftliches Spätwerk nennen kann.

Ob es in den verstreuten Publikationen aus den 1950er Jahren dennoch so etwas gibt wie ein methodisches Programm, aus dem sich eine Theoriekonzeption oder gar eine geschlossene Gesellschaftstheorie hätte entwickeln können – darüber ist einiges gesagt und noch mehr spekuliert worden.30 Die hier vorgelegte Skizze fragt nicht primär nach der Solidität von Neumanns theoretischer Ausrichtung, sondern möchte die kontextbedingten Veränderungen freilegen, die sich im Verhältnis von Theorie und Praxis, von wissenschaftlicher Anstrengung und politischem Engagement ergeben haben. Wenn es einen verallgemeinerbaren Trend in der Wirkungsgeschichte von Franz Neumann gab, der in der letzten Phase deutlich kulminierte, dann lag er im eigentümlichen Vorgang einer Abstraktifizierung, d.h. in einer Entwicklung, die sowohl das politische Engagement als auch das wissenschaftliche Fragen auf ein allgemeineres, aber auch mehr selektives Niveau verwies. Interessant werden diese unvollendeten Orientierungsversuche, wenn man sie geschichtsphilosophisch ausdeutet, z.B. auf die Alternative zwischen einer eher optimistischen oder einer eher pessimistischen Zukunftsperspektive bezieht.

Blickt man zurück auf die Weimarer Republik und nimmt als Maßstab die Intensität der Beziehungen zu den Gewerkschaften, dann fällt sofort ins Auge, wie dünn sich Neumanns Verhältnis zur wiedererstandenen Arbeiterbewegung im Nachkriegsdeutschland gestaltet hat. Dokumentiert ist nur ein einziger Vortrag, den Neumann 1950 vor dem Sozialpolitischen Ausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Düsseldorf gehalten hat.31 Aber auch umgekehrt gab es offenbar kein ernstgemeintes Rückkehrangebot von welcher Gewerkschaft auch immer, ganz zu schweigen von der peinlichen Frage, warum die westdeutschen Gewerkschaftsführer, als es 1954 den Posten des Arbeitsgerichtspräsidenten zu vergeben galt, nicht einen „Ehemaligen“ aus den eigenen Reihen (wie eben Franz Neumann oder seinen Socius Ernst Fraenkel) ins Spiel brachten, sondern mit Hans Carl Nipperdey einen ehemaligen nationalsozialistischen Arbeitsrechtsprofessor unterstützt haben.32 Hier nur von gegenseitiger „Entfremdung“ zu sprechen wäre offensichtlich eine zu harmlose Formulierung.

Aber auch Neumann hielt mit handfesten Differenzen nicht hinterm Berg, sondern artikulierte gegenüber der sich formierenden Gewerkschaftsbewegung massive Kritikpunkte, und dies, obwohl er in den frühen Nachkriegsjahren noch von einem positiven Zusammenspiel zwischen Arbeiterbewegung und demokratischer Politik ausgegangen war und z.B. gegenüber der Militärregierung immer wieder darauf insistiert hatte, dass – neben den ausgewiesenen „Widerständlern“ und manchen Geistlichen – bei den Arbeiterfunktionären noch am ehesten Reste eines demokratischen Geistes zu erwarten seien, weswegen man ihnen gegenüber den weitgehend korrumpierten Beamten beim Wiederaufbau der deutschen Verwaltung den Vorzug geben solle. Dieser Betonung eines konstruktiven Zusammenspiels zwischen sozialer und politischer Demokratie lief jetzt eine andere Einschätzung zuwider, die besonders seit dem Regierungsantritt Adenauers und mit der schrittweisen Etablierung der sozialen Marktwirtschaft in den Vordergrund trat.33 Hinter ihr stand die Beobachtung von zwei längerfristigen historischen Tendenzen, die sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu einer grundsätzlichen Bedrohung für den Aktionsradius der Arbeiterbewegung zusammenzubrauen schienen:

Einmal stellt Neumann fest, dass die Macht der Arbeiterbewegung, bedingt durch die Verbreiterung der Mittelschichten zwischen Kapital und Arbeit, in ganz Europa im Schwinden begriffen ist34; zum andern bemängelt er an Gewerkschaften wie SPD eine gefährliche Neigung zur Verselbständigung der bürokratischen Führungskader gegenüber der Basis, wodurch sich fortsetze, was schon 1933 an der Kapitulation der Gewerkschaften vor Hitler mitgewirkt habe: Die Isolation der Mitglieder lähmt die Aktivität und die politische Kampfbereitschaft an der Basis, die dazugehörige legalistische Einstellung führt zur Identifikation der Funktionäre mit den gegebenen Verhältnissen und schwächt umgekehrt die Orientierung an weiterreichenden sozialpolitischen Zielen.35 Die wiedererstandene Arbeiterbewegung operiert auch nach 1945 wieder zwischen diesen beiden Scherenmessern und ist zusätzlich bedroht von der prokapitalistischen Besatzungspolitik der Westmächte sowie vom Neutralitätszwang, der aus dem Konzept der Einheitsgewerkschaft resultiert. Wie richtig diese Diagnose war, hatte sich schon an den liberalkapitalistischen Tendenzen des Grundgesetzes gezeigt und war durch den Sieg der konservativen Christdemokraten in der ersten Bundestagswahl 1949 bestätigt worden.

Die deutsche Arbeiterbewegung, resümiert Neumann, hat ihre eigentliche historische Mission, nämlich die Durchsetzung eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus, nicht erfüllt, teils weil die weltpolitische Stellung der Supermächte dies verhinderte, teils weil die Arbeiterbewegung diese weltpolitische Lage zu phantasielos zur Grundlage der eigenen Politik gemacht habe. Hier, im vorläufigen Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber ihren eigenen Zielen, dürfte einer der tiefsitzenden Gründe für die bei Neumann festzustellende Tendenz zum politischen Skeptizismus, wenn nicht zum psychischen Pessimismus liegen, wobei beides nicht gleichzusetzen ist mit einem grundsätzlichen Umschwenken des ehemaligen Sozialdemokraten zu einer neoliberalen Auffassung von Politik und Gesellschaft. Wohl aber wird aus dieser Tendenz heraus verständlich, weshalb Neumann im Hinblick auf die von ihm in der Weimarer Republik mitbegründete und noch in den 1940er Jahren festgehaltene Konzeption der Wirtschaftsdemokratie einen bemerkenswerten Positionswechsel vollzog.

Neumann hatte sich, worauf sein Freund Herbert Marcuse hingewiesen hat36, in den frühen 1950er Jahren an Ort und Stelle über die in der Montanindustrie installierten Versuche einer expansiven Mitbestimmung informiert – und er war entsetzt über die sich ausbreitende Apathie der Arbeiterfunktionäre und ihre mehr oder weniger reibungslose Integration in kapitalistische Interessensmuster. Aber wieder ist die daraus abgeleitete Ablehnung der Wirtschaftsdemokratie, die er doppelt – sowohl als Strategie der Arbeiterbewegung als auch unter demokratietheoretischem Gesichtspunkt – diskutiert37, nicht so sehr als ein Zurückgehen hinter früher vertretene Ziele zu verstehen, sondern als ein skeptisches Vorantasten: Die Wirtschaftsdemokratie erscheint ihm, gemessen an der Forderung einer aktivistischen Überwindung der politischen Entfremdung, als eine zu partikulare, zu konservative Form von politischer Beteiligung, auch wenn der heutige Begriff der Zivilgesellschaft noch nicht fällt.

Die in diesen Überlegungen sichtbar werdende Aufwertung der politischen gegenüber der Wirtschaftsdemokratie verweist auf das zweite Handlungsfeld, das Neumann in der Nachkriegszeit sicherlich am positivsten besetzt hatte, in das, sozusagen kompensatorisch, sein wissenschaftspolitisches Herzblut floss. Es ist gleichzeitig dasjenige, auf dem er seinen größten Erfolg, ja sogar eine erkennbare Langzeitwirkung erlangen konnte: Neumann hat als eine der prägenden Figuren in der Gründergeneration der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft zu gelten, er hat direkten und maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der Berliner Wissenschaftslandschaft genommen und sich hervorgetan sowohl bei der finanziellen Ausstattung der Freien Universität im Allgemeinen als auch bei der konzeptuellen Ausrichtung der Politikwissenschaft im Besonderen. Und weil davon auszugehen ist, dass die Berliner Gründung sowohl quantitativ wie qualitativ Vorbildcharakter für die gesamte Bundesrepublik hatte, wird man den Einfluss Franz Neumanns noch multiplizieren können.38 Dies umso mehr, als es am Anfang buchstäblich um die Frage von Sein oder Nichtsein einer politischen Wissenschaft in Deutschland überhaupt ging, wurde die Politikwissenschaft doch als ein der deutschen Universitätstradition „fremder“ Importartikel, als Diktat der Besatzungsmächte diffamiert, gegen den sich der Widerstand der konservativen Professorenschaft mit besonderer Vehemenz artikulierte.

In der geschickten Überwindung dieser Widerstände zeigte sich einmal mehr das politikpraktische Genie, das Franz Neumann aus der Gruppe der anderen Wissenschaftsemigranten heraushebt. Er war es nämlich, der die Existenzfrage für die Politikwissenschaft von Anfang an mit der Forderung nach ihrer institutionellen Selbständigkeit verknüpfte und dafür alle verfügbaren finanziellen und konzeptuellen Ressourcen mobilisierte.39 Dazu gehörte zwar auch, die Autorität der amerikanischen Besatzungsmacht für sich geltend zu machen, aber mehr noch stand Neumann für eine Haltung, die aus der negativen Erfahrung der Emigration positive Schlussfolgerungen zog, in ihm verkörperte sich eine kollektive Kraftleistung, die für die politikwissenschaftlichen Emigranten zu verallgemeinern ist: Sie alle waren erst im Verlauf der Emigration selber „gestandene“ Vertreter der „political science“ geworden und repräsentierten daher in persona eine alternative Wissenschaftstradition, die sie gegenüber ihren deutschen Kollegen mit fachlicher Autorität und politischem Selbstbewusstsein, aber auch mit Feingefühl und Geschick zu vertreten verstanden.40

Die Gründung der Politikwissenschaft in Westdeutschland war in theoretischer wie institutioneller Hinsicht ein komplexer und langwieriger Prozess, doch wurde die „Demokratiewissenschaft“ in West-Berlin rasch zum Vorbild dafür, wie Wissenschaft und Demokratie auch in Deutschland in ein konstruktives Verhältnis zueinander kommen konnten.41 Für diese wissenschaftspolitische Wende kam Franz Neumann nichts weniger als eine Schlüsselrolle zu: Der eigentliche „Clou“ seines Vorgehens in Berlin war eine Art von Doppelstrategie und bestand darin, auf der einen Seite der wiedererrichteten „Hochschule für Politik“ durch verstärkte Forschungsaktivitäten eine solide wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen, auf der andern Seite aber die Freie Universität dazu zu zwingen, der Politikwissenschaft eine institutionelle Bleibe zu geben, und zwar als selbständige Disziplin. Diese Strategie ist alles in allem erfolgreich gewesen, wenn man von internen Turbulenzen personeller wie konzeptueller Art einmal absieht und eine gewisse zeitliche Verzögerung abrechnet: Das „Institut für Politische Wissenschaft“ wurde 1958 und die „Hochschule für Politik“ 1959 regulärer Bestandteil der Freien Universität, und zwar als gut ausgestattete, selbständige und miteinander kooperierende wissenschaftliche Einrichtungen.42

Versteht man die Ablehnung der Wirtschaftsdemokratie als die negative Seite des „political scholar“ und die Gründungsimpulse für die bundesrepublikanische Politikwissenschaft als seine positive Seite, so ergibt sich daraus gleichwohl keine ausgewogene Gesamtbilanz. Diesen Eindruck erhält man jedenfalls, wenn man den Versuch unternimmt, aus Neumanns Publikationen selber, aus den anlassbezogenen Vorträgen und den theoretischen Entwürfen so etwas wie den roten Faden herauszupräparieren. Das ist keineswegs einfach zu bewerkstelligen, haben doch auch die ausführlicheren Aufsätze erkennbar fragmentarischen und skizzenhaften Charakter und lassen sich nur schwer zu einem konsistenten Gesamtbild oder gar einer geschlossenen Theorie zusammenfügen. Dennoch ist es möglich, eine durchgehende Tendenz auszumachen, die freilich als eine in sich widersprüchliche Konstellation erscheint. Wenn Neumann zeit seines Lebens eine eher technizistische Auffassung von Theorie und Methode hatte, so verstärkte sich in den 1950er Jahren der Gegenpol: Der späte Neumann zeigt ein intensives Interesse an der politischen Theorie und besonders an ihrer Geschichte, was sich vor allem in seiner kontinuierlichen Lehrtätigkeit an der Columbia University niedergeschlagen hat.

Stellt man all diese Faktoren in Rechnung, so lassen sich die Leitmotive identifizieren, die Neumann gegen Ende seines Lebens umgetrieben haben müssen. Und verknüpft man sie angesichts seines plötzlichen und tragischen Unfalltodes im Herbst 1954 zu einem Denkfaden, dann kann man daran vielleicht sein eigentliches Vermächtnis festmachen. Dieser Denkfaden ist brüchig und reißt so abrupt ab wie der Lebensfaden seines Autors, aber er lässt am Ende doch erkennen, dass hier ein theoretisch hochambitionierter Kopf alles andere als optimistisch auf seine Zeit, jedenfalls nicht erwartungsfroh in die Zukunft blickte. Was sich vielmehr in den Vordergrund drängte, waren bedrohliche Tatsachen, in denen sich persönliche Erinnerungen mit aktuellen Beobachtungen wissenschaftlicher Art überlagerten und zu einem pessimistischen Geschichtsbild zu verdichten schienen. Dem entspricht beim späten Neumann eine Art von hintergründigem Denkzwang, der von einem apriorischen Gegensatz zwischen Macht und Freiheit ausgeht und – auf dem Umweg einer wenig ermutigenden Empirie – schließlich in die Akzentuierung von Entfremdung und Angst mündet. Und genau so lauten auch die Titel der Schriften aus den letzten beiden Jahren: „Zum Begriff der politischen Freiheit“ (1953) sowie „Angst und Politik“ (1954).

Der erste dieser Aufsätze ist explizit theoretisch angelegt und greift ein grundsätzliches Problem des politischen Denkens auf, das seinen Platz im Kanon der modernen Fächer noch zu finden hat. Einleitend konstatiert Neumann daher: „Die Soziologie befasst sich vielfach nur mit der Beschreibung des Faktischen; die politische Theorie mit der Wahrheit. Die Wahrheit der politischen Theorie ist die Freiheit. Daraus ergibt sich ein grundsätzliches Postulat: Da keine politische Ordnung die politische Freiheit vollkommen verwirklichen kann, muss die politische Theorie immer kritisch sein. Eine konformistische politische Theorie ist keine Theorie.“43 Was aus der Geschichte des politischen Denkens altbekannt klingen mag, ist für Neumann ein nach wie vor ungelöster Konflikt, wenn nicht sogar ein unlösbarer Widerspruch: „Das Problem der politischen Philosophie und ihr Dilemma ist die Aussöhnung von Freiheit und Zwang … Die Geschichte der modernen politischen Theorie seit Machiavelli ist die Geschichte dieses Versuchs, Recht und Macht, Gesetz und Gewalt in Einklang zu bringen. Es gibt keine politische Theorie, die nicht beides unternimmt.“44

Solche Sätze klingen nicht nur schroff, sondern sie sind von geradezu dezisionistischer Schärfe und mögen manchem seiner Studierenden noch lange in den Ohren geklungen haben. Um sie zu verstehen, kann man sich an den formalen Argumentationsgang halten, der die überlangen Ausführungen zu gliedern versucht und dabei den ehemaligen Juristen entschieden hinter sich lässt; er demonstriert nämlich unmissverständlich, dass Neumann sich weder mit einem neoliberalen Freiheitspathos à la „freedom and democracy“ (Bertolt Brecht) noch mit dem negativen Freiheitsverständnis der Jurisprudenz begnügt, die in Rechtstiteln eine hinreichende Garantie für eine gute Ordnung erblickt. Wirkliche Substanz erhält der Freiheitsbegriff nach Neumann nur, wenn den Individuen und den gesellschaftlichen Gruppen tatsächliche, extensive und positive Handlungsmacht zur Verfügung steht. Neumann spricht hier vom kognitiven und vom Willenselement der Freiheit und meint damit die rationale Durchdringung der gesellschaftlichen Prozesse einerseits, die Möglichkeit ihrer aktiven und effektiven Mitgestaltung andererseits – oder genauer, da diese Mitgestaltung in der modernen Gesellschaft offenbar immer begrenzter wird, wenigstens die demokratische Kontrolle der politischen Macht.

Aber genau hier treten die geschichtsgestaltenden Tatsachen penetrant in den Vordergrund, sie beherrschen sowohl die Wirtschaftsentwicklung wie die staatliche Organisation und laufen auf den einen neuralgischen Punkt zu: auf die offenbar unumkehrbare Zentralisierung der politischen und sozialen Macht sowie auf ihre fortschreitende bürokratische Ausformung, was, zusammen mit der generellen Technisierung aller anderen Lebensprozesse (einschließlich der Kultur), einen Zustand heraufführt, der zur hochgehängten Freiheitsidee in einen destruktiven Gegensatz tritt. So mündet die Dreierfolge der genannten Freiheitstypen am Ende des Aufsatzes folgerichtig in die Darstellung der „gegenwärtigen Krise der politischen Freiheit“45, wobei interessant ist, dass zunächst das maßgebliche Signalwort, das Neumann wenig später für die Ausmalung dieser Krise benützt, noch nicht fällt, während der Tatbestand selber schon ganz präsent ist: „Entfremdung“, d.h. die Gefährdung der politischen Freiheit durch die Isolierung der Bürger von der und durch die Politik.

Dieser Schritt bleibt dem Vortrag vorbehalten, den Neumann im Frühjahr 1954 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Freie Universität in Berlin hält. Dieser, sein letzter Auftritt geht ohne Umschweife in die existentielle Dimension und buchstabiert aus, was in der Entfremdung steckt und sie so bedrohlich macht: „Das Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Angst nicht aus der Welt verschwinden lassen. Sie ist, im Gegenteil, noch größer und furchtbarer geworden und beginnt, Nationen zu paralysieren und Menschen unfähig zu machen, sich frei zu entscheiden.“46 Was als Wiederaufnahme der bekannten marxistischen Metapher erscheint, erfährt jetzt eine absichtsvolle, ja programmatische Transformation.47 Neumann nimmt nämlich nichts weniger als einen methodischen Positionswechsel vor, der angesichts all dessen, was er vorher publiziert hatte, für einen qualitativen Gedankensprung steht: Hatte Neumann in seiner Interpretation des Nationalsozialismus jeden psychologischen Ansatz abgelehnt und war damit auf riskanten Abstand vom Kreis um Max Horkheimer gegangen, so holt er genau diesen Schritt jetzt nach: Er vertieft sich nicht nur in eine intensive Freud-Lektüre und findet von hier aus zur psychoanalytischen Grundlegung der Angst, sondern liefert gleich noch ein ganzes Tableau von Argumenten hinzu, auf welche Weise die genannten Gesellschaftsprozesse, also vor allem die Zentralisierung und Bürokratisierung der politischen Macht, zu Faktoren werden, die Angst und Entfremdung zum Schicksal des modernen Menschen machen.

Zwar versucht er an dieser deprimierenden Diagnose noch gewisse Differenzierungen anzubringen: „Man kann vielleicht sagen, dass das total repressive System depressive und Verfolgungsangst, das halbwegs freiheitliche Realangst institutionalisiert“48, heißt es in „Angst und Politik“, und in den posthum publizierten „Notizen zur Theorie der Diktatur“49 findet sich der Versuch, den Unterschied zwischen diktatorischen und demokratischen Systemen stärker zu machen und selber noch einmal sozialpsychologisch zu erklären. Doch hellt sich das Gesamtbild, zumindest was die politische Gegenwartsdiagnose betrifft, dadurch nur wenig auf: Neumanns Weltbild schien sich zuletzt einer düsteren Geschichtsphilosophie anzunähern, die gewisse Ähnlichkeiten mit den apokalyptischen Befürchtungen aufwies, wie sie von Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ ausformuliert und zum Wendepunkt der eigenen Theorietradition erklärt worden waren.50 Hatte Neumann in den 1940er Jahren gegenüber solchen Generalisierungen offensichtlich noch Distanz gehalten, so wurde sein plötzlicher Unfalltod mit nur 54 Jahren für seine ganze Generation zum Fanal. Was lebensgeschichtlich absolut sinnlos erscheintder Autounfall auf einer schnurgeraden Schweizer Landstraße –, setzte auch dem „political scholar“ einen tragischen Endpunkt.

V. Nachwort: Der „Behemoth“ als wirkungsgeschichtliches Stiefkind

Dennoch: Blickt man aus der Mitte der 1950er Jahre auf die wechselvolle politisch-intellektuelle Biographie Franz Neumanns zurück, so tritt über alle Brüche hinweg ein Kontinuum hervor, das man in der stets erneuerten Verknüpfung von kritischer Theorie und politischem Engagement erblicken kann. Der Idealtypus des „political scholar“, könnte man resümieren, war das Ergebnis eines realtypischen Prozesses, der von der eher rechtstechnischen Praxis des Gewerkschaftsfunktionärs über das theoretisch ambitionierte Exil der 1930er Jahre in eine angestrengte Phase der Politikberatung führte, um schließlich in das spektakuläre Format des amerikanisch-deutschen Politikprofessors zu münden. Dennoch wird man Neumanns Stellung in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts nicht aus seinen späten Fragmenten begründen wollen, sondern aus dem Buch, das aus der breiten Masse der Emigrantenliteratur allein deswegen herausragt, weil es die erste Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus, seiner „Struktur und Praxis“ war.

Wie also stand der Autor Neumann zu seinem „Behemoth“, wie ist er selbst mit seinem Vermächtnis umgegangen? Hat er für sein „magnum opus“ eine nachhaltige Wirkung erwartet oder zumindest eine längerfristige Perspektive gesehen?

Ich werde in den abschließenden Überlegungen einen Fauxpas begehen, den sich ein seriöser Historiker eigentlich nicht leisten darf: Ich werde nach etwas fragen, das Neumann nach 1945 nicht getan hat, und ich werde weiter über die Gründe spekulieren, die dieses Nicht-Tun bewirkt oder sogar erzwungen haben könnten. Die Freiheit dafür glaube ich mir nehmen zu können unter Berufung auf eine schmerzgeplagte Selbstreflexion, die Neumann sich offenbar nur privat gestattete und die dafür umso radikaler ausfiel. Die Formulierungen stammen aus seinen letzten Lebensmonaten und sind bekannt, auch beziehen sie sich weder direkt auf den „Behemoth“ noch auf seine theoretische Lebensleistung. Dennoch lohnt es sich, sie noch einmal ausführlich zu zitieren, nicht nur weil ihr Pathos zur Verallgemeinerung einlädt, sondern weil sich Neumann hier zu einer seltsamen Umkehrung der gewohnten Kausalität von Handlungsmotivation und Schuldzuschreibung bekennt, die man einem rationalistischen Charakter, der er lebenslang gewiss war, eigentlich nicht zutrauen möchte:

„Warum ich das Land so liebe und doch so verabscheue“, schreibt er an Helge Pross, die junge Soziologin aus Deutschland, zu der er sich nach der Trennung von seiner zweiten Frau offenbar hingezogen fühlte. „Vielleicht ist es ein Schuldgefühl, das ganz tief sitzt: Wie oft habe ich mir nach 1933 die Frage vorgelegt, wo meine Verantwortlichkeit für den Nationalsozialismus eigentlich steckt. Denn ich glaube an kollektive Schuld – aber dann kann ich mich ja davon nicht ausnehmen ...Wir, die wir in Opposition zu der Reaktion standen, waren alle zu feige. Wir haben alle kompromittiert. Ich habe ja mit eigenen Augen gesehen, wie verlogen die SPD in den Monaten Juli 1932 bis Mai 1933 war (und nicht nur damals) und habe nichts gesagt. Wie feige die Gewerkschaftsbosse waren – und ich habe ihnen weiter gedient. Wie verlogen die Intellektuellen waren – und ich habe geschwiegen. Natürlich kann ich das rational rechtfertigen mit der Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus, aber im Grunde genommen war Angst vor der Isolierung dabei. Dabei hatte ich große Beispiele: Karl Kraus, Kurt Tucholsky. Und ich habe immer in der Theorie den sokratischen Standpunkt für richtig gehalten, dass der wahre Intellektuelle immer und gegenüber jedem politischen System ein Metöke, ein Fremder sein muss. So habe ich also mitgemacht beim Ausverkauf der Ideen der sogenannten deutschen Linken ...“51

Eine tiefenhermeneutische Interpretation dieser so singulären wie schmerzlichen Selbstoffenbarung ist sicherlich riskant, aber angesichts der zeitgleich vollzogenen Hinwendung zu Freud doch auch naheliegend. Plausibel könnte die folgende Gedankenreihe sein: Dominant in Neumanns Worten ist erstens ein selbstquälerisches, vor allem aber ein überzogenes Schuldgefühl, das sein tatsächliches Verhalten in den Jahren 1932/3, seinen Mut und seine offensichtliche Risikobereitschaft seltsam herunterspielt oder sogar unterschlägt – die Quittung war doch Anfang Mai 1933 auf dem Fuß gefolgt, als Neumanns Büro von den SA-Schergen besetzt wurde und er mit Sicherheit verhaftet worden wäre, hätte er sich nicht bereits auf der Flucht befunden. Das führt zweitens zu der Vermutung, dass hinter dem Objekt dieser Schuldgefühle – der angeblichen politischen Feigheit, die als moralisches Versagen interpretiert wird – ein ganz anderes, allerdings hochtabuisiertes Objekt steht, aus dem sich das (übertriebene) Schuldgefühl speist. Damit stößt man drittens auf jene psychologische Grundkonstante, die für die erste Generation der Emigranten verallgemeinert werden kann, aber bei den jüdischen Emigranten eine ganz besondere Schärfe aufweisen musste. Gemeint ist der sog. Überlebenskomplex, d.h. das quälende Schuldgefühl derer, die dem Holocaust entronnen sind. Daraus schließlich könnte viertens verständlich werden, warum Neumann die ihm eigentlich fremde Denkfigur der kollektiven Schuld überhaupt für sich reklamieren kann: Die Kollektivität, die er „eigentlich“ meinte und die er gleichzeitig vor sich selber versteckte, war die der jüdischen Opfergemeinschaft.

Transponiert man diese psychologische Spekulation auf die objektivere Ebene der Wissenschaftsgeschichte, dann stellen sich nicht weniger dringliche Fragen, sie betreffen die Geistesverfassung der westdeutschen Nachkriegsepoche und lassen sich für Neumanns Stellung zu ihr vielleicht so ausbuchstabieren: Warum hat er gerade seinen „Behemoth“, dieses in den USA außerordentlich geschätzte Standardwerk, über den Nationalsozialismus so seltsam unter Verschluss gehalten? Warum hat er, wenn er doch so maßgeblichen Einfluss auf die Gründung der Politikwissenschaft genommen hat und dafür über große Finanzmittel verfügte, nicht für seine rasche Übersetzung ins Deutsche gesorgt? Warum hat er seine ehemaligen Landsleute nicht direkt mit seinem wissenschaftlichen Vermächtnis konfrontiert, was bedeutet hätte, vor allem die Eliten des neuen Deutschland zur Auseinandersetzung mit ihren erheblichen NS-Kontinuitäten zu zwingen? Bekanntlich hat es bis zum Jahr 1977 gedauert, bis der „Behemoth“ in der äußerst verdienstvollen Übersetzung von Gert Schäfer und Hedda Wagner herauskam, während z.B. Hannah Arendts „The Origins of Totalitarianism“ bereits 1955 auf Deutsch vorlag.52

Da man schwerlich annehmen kann, dass Neumann nicht wusste, welch hochexplosives Gemisch sowohl für die deutsche Öffentlichkeit als auch für die wissenschaftliche Forschung in seiner Nationalsozialismus-Analyse steckte, bieten sich als Antwort auf diese Fragen vor allem zwei Überlegungen an: Vergleichsweise einfach stellt sich die Vermutung dar, dass Neumann, wie u.a. dem kurzen Essay über „Ökonomie und Politik im 20. Jahrhundert“53 zu entnehmen ist, mit der marxistischen Grundierung des „Behemoth“ nicht mehr umstandslos übereinstimmte, und vielleicht wollte er dem in der Nachkriegszeit grassierenden Antikommunismus auch deswegen ausweichen, weil er die in ihm steckenden antisemitischen Reste spürte. In den dunklen Kern einer verwickelten Wirkungsgeschichte aber stößt man erst durch, wenn man sich – Marxismus hin oder her – die unbeirrte Strukturanalyse vor Augen hält, die mit ihr zusammenhängende Polykratie-Theorie von den vier Säulen des Nationalsozialismus und die höchst provozierende These, dass die Verbrechen der totalitären NS-Diktatur das Resultat eines Prozesses waren, an dem die ganze deutsche Gesellschaft mitgewirkt hat.

Nimmt man also umgekehrt an, dass Neumann nur zu genau wusste, welche Hypothek darin für die Zukunft der neuen deutschen Demokratie steckte, so kann man in seiner auffällig defensiven Haltung bezüglich der deutschen Publikation des „Behemoth“ ein tiefes Misstrauen gegen seine ehemaligen Landsleute, aber auch eine ebenso tiefe Resignation gegenüber seinem eigenen Werk und Wirken sehen. Dieser Gedanke gewinnt an Schärfe, wenn man sich fragt, ob Neumanns Zurückhaltung gegenüber der Übersetzung des „Behemoth“ ins Deutsche, d.h. in die Sprache der Täter, vielleicht mit dem Gefühl zu tun gehabt haben könnte, dass er dem dunkelsten Kapitel der Nazi-Diktatur, dem (erst später so genannten) „Holocaust“ mit seiner Analyse letztlich nicht gerecht geworden ist. Dieses Gefühl könnte umso bedrängender geworden sein, als Neumann die Vorstellung einer historischen Kollektivschuld nach dem Krieg offenbar nicht mehr fremd war, die aber natürlich für ihn selber, wie vorne vermutet, nur als Identifikation mit dem jüdischen Opferkollektiv Sinn gemacht haben kann.

Wo und wie also taucht der Holocaust in Franz Neumanns „Behemoth“ auf? Dass er nicht sofort als Genozid, d.h. als organisierter Massenmord an den Juden, in Erscheinung tritt, hängt natürlich mit dem frühen Erscheinungsdatum des Buches zusammen: Der Erarbeitungszeitraum der ersten Auflage liegt vor den maßgeblichen Entscheidungen des NS-Regimes im Laufe des Jahres 1941. Dennoch gibt es im (ersten) Teil über das politische System des Nationalsozialismus ein eigenes und ausführliches Kapitel54 über die Vorgeschichte des Antisemitismus und seinen hohen Stellenwert im deutschen 19. Jahrhundert, auch erkennt Neumann zweifelsfrei, dass der Antisemitismus zentraler Bestandteil der NS-Ideologie wurde und dass er nach 1933 als direktes Instrument für die schrittweise Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung gedient hat. Im (zweiten) Ökonomieteil wird dann die sog. „Arisierung“ der jüdischen Betriebe, sowohl im Reichsgebiet wie später in den eroberten Gebieten, dargestellt und mit großer Bitterkeit als Teil der staatlich gelenkten Monopolbildung verurteilt.55 Dominant für all diese Passagen ist jedoch eine stark funktionalistische Auffassung, die sich nicht damit auseinandersetzt, ob sich die antijüdische Politik rein instrumentell überhaupt verstehen lasse. Folglich taucht die Judenverfolgung auch dort nicht mehr eigens auf, wo – im dritten Teil des „Behemoth“ – die Arbeiterbewegung als der prädestinierte „Feind“ des Nationalsozialismus dargestellt wird.

Dieses Bild verändert sich auf dem Weg zur zweiten Auflage des „Behemoth“, wobei man vorausschicken muss, dass Neumann mittlerweile für den amerikanischen Geheimdienst tätig geworden war und offenbar nur mehr die Zeit fand, einen ergänzenden, aber immerhin 100-seitigen Anhang zu schreiben. Die Veränderungen sind gravierend und halten doch am genannten funktionalistischen Bias fest: Während 1942 als der eigentliche Gegner des Nationalsozialismus die politische Arbeiterbewegung erscheint, die zwar zerschlagen und atomisiert, aber dennoch noch nicht völlig demoralisiert ist, sieht Neumann 1944, zumal nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler, die Chancen für einen erfolgreichen Widerstand so gut wie verschwunden. Umso mehr setzt er jetzt auf den militärischen Angriff von außen, dessen Erfolg für ihn u.a. davon abhängen wird, dass die Westmächte und vor allem die USA sich nicht nur als demokratische Alternative darstellen, sondern auch die Voraussetzungen für eine sozial gerechtere Gesellschaftsordnung schaffen. Überlegungen, ob die militärischen Operationen auch dazu dienen könnten oder sollten, die in Osteuropa bereits voll in Gang befindliche und den alliierten Entscheidungsträgern durchaus bekannte Vernichtungsmaschinerie gegen die Juden zu stoppen, werden dabei nicht angestellt.

Was sich im ausführlichen Anhang von 1944 jedoch findet, ist eine bemerkenswerte Verschärfung des Blickes, die keinen Zweifel mehr daran lässt, dass die physische Ausrottung der Juden integraler Bestandteil des imperialistischen Expansionskrieges im Osten ist, ja dass die Vernichtungswut regelmäßig mit besonderer Schärfe gegen die jeweiligen jüdischen Bevölkerungsteile gerichtet ist. Neumann übernimmt hier, wie bereits erwähnt, aus seinem eigenen OSS-Papier vom Mai 1943 wortwörtlich die „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“, bezeichnet den seit 1942 vor allem im Osten zentrierten Massenmord als „planvolle Ausrottung der Juden“, aber kehrt dann doch wieder zur funktionalistischen Interpretation zurück: Der Holocaust wird in den größeren Zusammenhang eingebettet und ist für ihn das „Testfeld universaler terroristischer Methoden, die sich gegen alle jene Gruppen und Institutionen richten, die sich dem Nazisystem nicht voll und ganz unterworfen haben“.56

Es ist eine der schwierigen, aber auch interessanten Interpretationsfragen, ob mit dieser Zuspitzung der ganzen Wahrheit des Holocaust tatsächlich ins Auge gesehen oder ob ihr letztlich doch wieder funktionalistisch, d.h. rationalisierend ausgewichen wurde. Eine Überlegung könnte z.B. so lauten: Bezieht man die Schlusspointe, mit der Neumanns Anhang von 1944 endet, nämlich dass die Wirtschafts- und Parteieliten immer mehr miteinander verschmelzen, zurück auf die vorher formulierte These, dass die wichtigste Funktion des offiziellen Antisemitismus darin bestehe, das Täterkollektiv im organisierten Verbrechen zusammenzuschweißen57, dann kann von einer Verharmlosung des Judenmords schwerlich die Rede sein. Gerade die funktionale Analyse, besonders wenn sie sozialpsychologisch ausformuliert wäre, könnte sich dann als ein gangbarer Weg erweisen, um dem Holocaust den adäquaten Platz im Verständnis des NS-Herrschaftssystems zuzuweisen: Seine generalisierende Interpretation würde dann nicht mehr in apriorischen Widerspruch zu seiner „historischen Singularität“ treten, um die Kurzformel aus dem sog. Historikerstreit zu verwenden, vielmehr erschiene der Holocaust als singulärer Teil einer allerdings universellen Vernichtungslogik!

Wenn Franz Neumann Überlegungen dieser Art nicht angestellt, sich ihnen jedenfalls öffentlich nicht gestellt hat, wie ist bezüglich des Genozids an den Juden die Wirkungsgeschichte des „Behemoth“ in der längeren Perspektive verlaufen? Der beredteste Zeuge dafür ist Raul Hilberg, der Anfang der 1950er Jahre an der Columbia University bei Franz Neumann studiert hat und heute als einer der Pioniere der historischen Holocaust-Forschung gilt.58 In den Erinnerungen an seinen Lehrer verweist Hilberg zunächst auf die starke psychische Abwehr, mit der Franz Neumann auf sein Vorhaben reagierte, die „Vernichtung der europäischen Juden“, wie der spätere Titel von Hilbergs Standardwerk heißt, als Thema einer Master- und dann einer Doktorarbeit zu akzeptieren. Die Abwehr konzentrierte sich besonders auf den Aspekt der erzwungenen jüdischen Mitwirkung an der Durchführung des Holocaust, also auf genau das, was später bei Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ zum Skandalon wurde, und führte sogar zu der Forderung, die entsprechenden Kapitel aus der Doktorarbeit zu streichen. „Ich glaube, in diesem Punkt verhielt sich Neumann wie jeder andere dem Judentum tief verpflichtete Mensch, als der er auf den ersten Blick ja gar nicht erschien, der er aber doch war“59, erinnert sich sein ehemaliger Schüler. Aber wieder war das nur die eine Seite. Die andere, die positive Seite der verwickelten Wirkungsgeschichte des „Behemoth“ hat sich, wenn man so will, gegen die Verzagtheit seines Autors durchgesetzt. Nicht nur, dass Neumann seinem Doktoranden dann doch schon ganz früh Zugang zu den maßgeblichen Originaldokumenten des Nürnberger Prozesses verschaffte, vielmehr orientierte sich Hilberg für den Fortgang seiner Forschungen ganz direkt an den theoretischen Prämissen seines Lehrers: „Ich übernahm seine Vorstellung, dass im Nationalsozialismus ein Nicht-Staat, wie er es nannte, vorlag, dass die vier Herrschaftseliten, die traditionellen, Heer und Staatsdienst und die neueren, Wirtschaft und Partei, nicht auf einer einheitlichen, rationalen Grundlage operierten, wie wir es mit einem Gesetzgeber oder einer Verfassung verbinden ...“60 Es war also nichts anderes als die lapidare Grundstruktur des „Behemoth“ selber sowie der unerbittliche Realismus des gesellschaftstheoretischen Zugriffs, die, weit über Neumanns Tod hinaus, den Grundstein für die heute etablierte und international ausgerichtete Holocaust-Forschung gelegt haben.61

Behemoth

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