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Оглавление1 Einleitung
1.1 Zum Einstieg
„Die heutige klinische Psychiatrie versucht, die Religiosität des Patienten in ihrer existentiellen Bedeutung zu beachten“, so Rainer Tölle und Klaus Windgassen (2014, S. 12).4 Vier Jahre davor schrieb Peter Kaiser: „Das Erstarken der Psychiatrie als eigenständiges Fach, die historisch bedingte naturwissenschaftliche Abwendung von allem Spekulativen, die Psychoanalyse und schließlich die stürmische Entwicklung der Psychopharmakologie führten zu einer weitestgehenden Verdrängung religiöser Thematik aus der Psychiatrie.“ (Kaiser 2010, S. 92) Hat sich in diesen vier Jahren die Lage grundlegend verändert? Zweifel sind berechtigt …
Nicht nur in der Psychiatrie und Psychotherapie, bereits in der Psychologie scheinen – zumindest im deutschsprachigen Raum – Religiosität oder Spiritualität keine große Rolle zu spielen.5 Michael Utsch konstatiert für die Religionspsychologie in einem Forschungsüberblick:
Es ist erstaunlich, dass die Religiosität von der deutschsprachigen Psychologie so wenig wahrgenommen wird, drückt sich darin doch eine grundlegende kulturelle und individuelle Dimension des Menschen aus. Während die psychologischen Aspekte des Sports, der Werbung, der Musik oder des ökologischen Bewusstseins mittlerweile intensiv erforscht werden, wird die Religion von vielen Psychologen immer noch ignoriert. (Utsch 2008, S. 309)6
Dabei definiert ein klassisches Einführungswerk zur Psychologie von Philip G. Zimbardo und Richard J. Gerrig „Psychologie formal als die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihren mentalen Prozessen.“ (Gerrig u. Zimbardo 2013, S. 2) Darf man Religiosität bzw. Spiritualität dabei von vornherein ausklammern? Der namhafte Sozialpsychologe Roy F. Baumeister urteilt: „Like television, money, sex, and aggression, religion is an important fact of life, and psychology cannot pretend to be complete unless it understands religion alongside these other phenomena.” (Baumeister 2002, S. 165) Ähnlich betont ein offizielles Handbuch der American Psychological Association (APA): „In fact, we would argue that a mainstream psychology that overlooks the religious and spiritual dimension of human functioning remains incomplete.” (Pargament et al. 2013a, S. 10)7
Im Bereich von Gesundheit und Krankheit wird ähnlicher Bedarf angemeldet. Für die Gesundheitswissenschaft allgemein kommt Florian Jeserich in einem Literaturüberblick zu dem Schluss: „Die systematische Erforschung von Religion(en) und Spiritualität(en) als potentiell gesundheitsrelevante Faktoren ist ein Desiderat in der deutschen Gesundheitswissenschaft.“ (Jeserich 2011, S. 143) Spezifisch für unser Thema formuliert die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in einem aktuellen Positionspapier:
Forschung über die Bedeutung von Weltanschauungen und Sinngebungsmodellen als Belastung und Ressource im deutschsprachigen Bereich ist sinnvoll und notwendig. Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist erwünscht und notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u. a. wichtig: (1) Wahrnehmen von religiösen/spirituellen Bedürfnissen der Patienten, (2) Religiosität und Spiritualität als Behandlungshindernis und (3) Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorge-Angeboten. (DGPPN 2016, S. 7)
Das Handbuch Religion and Psychiatry der World Psychiatric Association (WPA) beschreibt im Vorwort Psychiatrie und Religion als zusammengehörig: „Religiosity can be considered a normal personality trait and cannot be disregarded by psychiatrists, whatever their own ideas on religiosity might be. The entire soul/psyche, after all, belongs to their sphere of work.“ (Verhagen et al. 2010, S. xvii) Das Handbuch möchte Neugier wecken für die Schnittstelle zwischen „psychiatry and man’s tendency to provide life with a vertical transcendental dimension.“ (ebd.)
Die Bewältigung von schweren psychischen Störungen ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung ersetzt dabei nicht das, was eine Person selbst zum Umgang mit ihrem Problem beitragen kann und muss. Allgemein spricht man hier von der persönlichen Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, die Fritz A. Muthny und Jürgen Bengel im Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie so definieren:
Die Belastungen setzen einen komplexen Verarbeitungsprozess in Gang (Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, Coping). Der Betroffene bewertet die Bedrohung durch die Krankheit und prüft, welche personalen und sozialen Ressourcen helfen, die Belastung zu mindern. Krankheitsverarbeitung ist nach Heim (1986) ‚das Bemühen, bereits bestehende oder erwartete Belastungen durch die Krankheit innerpsychisch (emotional/kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln aufzufangen, auszugleichen, zu meistern oder zu verarbeiten‘. (Muthny u. Bengel 2009, S. 359)
Nach Erfahrung der Autoren stoße dieses Thema „bei Ärzten wie Pflegepersonal gleichermaßen auf großes Interesse“ und trage „viel zum Verständnis von Patienten bei.“ (vgl. ebd., S. 366) Zum Erleben und Verhalten gehört bei schweren Erkrankungen zumindest für einen Teil der Patienten auch die religiöse bzw. spirituelle Ebene mit vielerlei Aspekten, die in der Bewältigung eine Rolle spielen können: Fragen, Ringen, Suchen, Handeln und evtl. Erfahrungen von Beziehung mit anderen und dem Größeren (Transzendenten), von Halt oder Sinn.
Das Ziel einer Behandlung ist in der Regel die Wiederherstellung der Gesundheit, oft aber auch eine Genesung, die mit evtl. bleibenden Einschränkungen möglichst gesund umgehen kann. Heutige Definitionen von Gesundheit tragen dem Rechnung:
Im Anschluss an den französischen Medizintheoretiker Georges Canguilhem wird Gesundheit heute von Philosophen, Theologen und Medizinern als die Fähigkeit verstanden, auch Einbußen und Störungen der Gesundheit zu ertragen und durch ihre Integration in das eigene Lebenskonzept zu einer neuen »Norm des Lebens« im Sinne eines neuen Gleichgewichtes zu finden. (Schockenhoff 2009, S. 310) f.)8
Genesung im Sinne von „gut leben können“ mit bleibenden psychischen Problemen wird z. B. auch im Recovery-Ansatz ausdrücklich beschrieben (vgl. dazu Abschn. 3.2.6). Dazu bedarf es neben dem Abbau von Problemen auch der Aufmerksamkeit für vorhandene Ressourcen, welche sich für eine positive Bewältigung aktivieren oder verstärken lassen. Die persönliche Religiosität bzw. Spiritualität können dazu gehören – ohne sie deshalb für die Gesundheit komplett verzwecken zu wollen.9
1.2 Psychologische und therapeutische Interessen
Psychologie wie auch Psychiatrie haben ein Interesse, mit ihrem Tun positiv für menschliches Leben zu wirken: für Humanität, Heilung, die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten. Mit dieser Option treffen sie sich mit der Caritas wie auch der Praktischen Theologie (dazu mehr in Abschn. 1.4). Nach Jacob A. Belzen ist Psychologie nicht wertneutral, sondern sie engagiere sich für die Förderung menschlichen Wohlergehens (human welfare) – wobei es freilich keinen Konsens gebe, worin dieses bestehe (vgl. Belzen 2009a, S. 207). Bernhard Grom versteht Religionspsychologie als „engagierte Wissenschaft“:
Aufgrund ihrer psychohygienisch-therapeutischen Grundausrichtung muss sich die Psychologie für das psychische Wohlbefinden und eine günstige Persönlichkeitsentwicklung der Menschen verantwortlich fühlen; darum soll die Religionspsychologie auch ermitteln, welche religiösen Einstellungen das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen oder fördern. (Grom 2007, S. 14)
In diesem Sinne will auch das bereits genannte APA-Handbuch mit einer größeren Beachtung der religiösen bzw. spirituellen Dimension dazu beitragen, die conditio humana zu verbessern: „Greater attention to the religious and spiritual dimension, we firmly believe, can enrich and vitalize our efforts to understand and enhance the human condition.“ (Pargament et al. 2013b, S. 18)
Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell (vormals Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich) gibt dem Zusammenwirken psychiatrisch-psychotherapeutischer Konzepte und spirituell-religiöser Konzeptionen die Überschrift „Differenzierung statt Spaltung“ (Hell 2013, S. 18). Im Blick auf Not und „Unheilsein des Menschen“ sagt er: „Psychotherapie und Seelsorge gehen nicht ineinander auf und sollten meines Erachtens nicht vermischt werden; sie lassen sich in der Praxis aber auch nicht völlig trennen.“ (ebd., S. 19) Unvermischt und ungetrennt – ein in der Theologie langbewährtes Prinzip! Hell sieht in solcher Rückbesinnung keinen „Gegensatz zur neurowissenschaftlichen Forschung“:
Je mehr wir über das Gehirn lernen, desto mehr erkennen wir auch den Einfluss von Lebensumständen und Erziehung auf Gehirnfunktionen und Gehirnstruktur. Wir werden von unserem Gehirn nicht nur gesteuert, sondern wir verändern unser Gehirn ebenso durch gezieltes Üben und durch bewusste Lebensführung. Offenbar ist die Zeit reif, menschliche Grundhaltungen und kulturelle wie individuelle Wertvorstellungen wieder ernster zu nehmen. Dazu gehören auch spirituelle und religiöse Fragen, die in Psychiatrie und Psychotherapie lange tabuisiert wurden. (ebd., S. 20)
Seiner Folgerung für die Psychiatrie und Psychotherapie kann man gut zustimmen: „Es gilt, die spirituelle Dimension ernst zu nehmen, ohne gleichzeitig die kritisch-wissenschaftliche Haltung aufzugeben.“ (ebd.) Ähnlich plädiert Peter J. Verhagen dafür, dass Wissenschaft und Religion nicht von vornherein als Gegner und Todfeinde zu betrachten seien, sondern Verbündete sein könnten gegen Nonsens und Aberglaube (vgl. Verhagen 2012, S. 356), es brauche dafür vernünftige Qualitätskriterien für die Reflexion und Haltung zu Psychiatrie und Religion – zugunsten der seelischen Gesundheit und zum Wohle aller (vgl. ebd., S. 357).
Zwei prominente Stimmen zur Psychotherapie sollen noch zu Wort kommen. Jacob A. Belzen sieht eine Analogie im therapeutischen Umgang zwischen dem Bereich Religiosität/Spiritualität und dem Bereich Sexualität: Psychologen wüssten, wie wichtig und schwierig es sein könne, in professioneller Weise über diesen Lebensbereich zu sprechen. Sie sollten sensibel sein für die jeweilige Relevanz, empathisch zuhören, sich Urteilen und Bewertungen enthalten, Fachwissen besitzen … Psychotherapeuten dürften hier so wenig ihre Klienten anleiten wie darin, wie sie ihr Geld ausgeben oder wohin sie in Urlaub fahren sollten. Aber während Therapeuten ausgebildet seien, über solch profane Themen wie finanzielles, sexuelles oder Ess-Verhalten zu reden, sei kaum jemand ausgebildet, mit moralischen, ethischen, religiösen und spirituellen Themen professionell umzugehen – eine analoge Qualität an Ausbildung für den Umgang mit diesen Themen lege sich darum nahe (vgl. Belzen 2004, S. 296).10
Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser hat 27 Jahre nach seinem sehr bekannt gewordenen Buch Gottesvergiftung (1976) eine aktualisierte Sicht vorgelegt: Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott (2003). Darin legt er Psychotherapeuten nahe, „nach zwei Richtungen wachsam“ zu sein: einerseits für „ den düsteren Gott hinter einer Depression oder einer Angstneurose“, andererseits für die „Entdeckung einer religiösen »Substanz«, in welcher Form auch immer, die einen tragenden Grund bedeuten kann“. Deshalb sollten sie in ihren „Deutungen eher sehr zurückhaltend sein, um nicht ungewollt zerstörerisch zu wirken.“ (ebd., S. 11) Er sieht in „Gottesvergiftungen“ eine „sehr primitive Theologie am Werk“, „die Gott als Instrument der Erziehung und der Einschüchterung benutzt hat.“ (ebd., S. 23) Andererseits entdeckte er ein positives menschliches Grundgefühl, das er „Fähigkeit zur Andacht“ nennt (vgl. ebd.). Ihr komme in der kindlichen Entwicklung „eine wichtige Bedeutung für den Aufbau ihrer seelischen Welt“ zu. Es sei dann „entscheidend, wie diese Fähigkeit zur Andacht aufgenommen wird und welche Inhalte die Erwachsenen in dieses kostbare Gefäß hineingießen.“ (ebd., S. 24) Moser sieht die Ursachenzusammenhänge deshalb differenzierter als 1976 und verweist auf zirkuläre Prozesse, vorgegebene Dispositionen und destruktive Schleifen mit evtl. pathologischen Folgen (ebd., S. 71) f.). In der therapeutischen Arbeit mit Patienten, die scheinbar alles Religiöse weit hinter sich gelassen hätten, die widerwillig oder „höhnisch auf Fragen nach einer religiösen Vorgeschichte“ antworteten, entdecke er zum Teil, dass „die Abkehr von Religion […] keine wirkliche Erledigung oder Trennung“ war, sondern eher „einer Verschüttung“ gleiche, einer „Unterbringung Gottes oder der eigenen Frömmigkeit in einer schwer zugänglichen seelischen Deponie“, wobei er als Therapeut die Ahnung habe, „dass unter den wackelig gewordenen Fundamenten der Hilfe suchenden Person Gottesteile modern“ – dann gehe es „um eine Begegnung und Aussöhnung mit einer Gottes- oder Kirchenbeziehung“ (ebd., S. 72) f.).
Das Einleitungskapitel des Handbuchs Spirituality in psychiatry des Royal College of Psychiatrists meint ganz anschaulich und mit britischem Charme: Spiritualität samt ihren psychologischen Aspekten sei für alle Psychiater relevant, nicht als Zusatz in einem ohnehin überfüllten Curriculum, sondern als Gedanke im Hinterkopf, der manchmal auch weiter nach vorne komme (vgl. Sims u. Cook 2009, S. 1). Psychiater und andere Profis im Dienst der seelischen Gesundheit müssten „zweisprachig“ sein, die Sprache von Psychiatrie und Psychologie wie auch die „Sprache“ von Spiritualität fließend beherrschen, die mit Themen wie Sinn, Hoffnung, Werten, Verbundenheit und Transzendenz zu tun habe – und wie jede Sprache brauche diese ebenfalls Übung (vgl. ebd., S. 14).
1.3 Menschen gerecht werden
Der Psychiater Thomas Reuster spricht vom therapeutischen Bemühen, Patienten als individuellen Personen gerecht zu werden:
Psychotherapeuten haben den Ehrgeiz, ihren Patienten gerecht zu werden. […] Die Psychotherapeuten (vor allem tiefenpsychologischer Provenienz) glauben […], dem Patienten als Person und als psychische Einheit gerecht werden zu sollen. Sie wollen nicht ein bißchen verstehen, sondern möglichst ganz verstehen. Sie möchten weniger einem Problem, sondern einem Problem dieses Menschen gerecht werden. Dabei zeigen sie Teilnahme, Empathie, Solidarität. (Reuster 1999, S. 69)
Diesem Anspruch könne man natürlich auch bei bestem Bemühen nie ganz entsprechen, es gebe viele Möglichkeiten, falsch zu liegen oder sonst etwas schuldig zu bleiben (vgl. ebd., S. 70).
Für die DGPPN beinhaltet Gerechtigkeit u. a. „die faire Berücksichtigung sämtlicher individueller Besonderheiten in der Behandlung“ (vgl. DGPPN 2012b, S. 2).11 Mathias Berger spricht von der „Kunst der komplementären Beziehungsgestaltung“ und der hohen Relevanz einer idiographischen, „auf den einzelnen Patienten zugeschnittene[n] Vorgehensweise des Therapeuten“ (Berger 2013, S. 64).12 Giovanni Maio betrachtet in medizinethischer Sicht Krankenbehandlung als Dienst „für einen ganzen Menschen in all den vielfältigen Facetten seiner einzigartigen Lebensgeschichte.“ (Maio 2012, S. 395)13 Speziell für unser Thema zieht Klaus Baumann die Schlussfolgerung: Spirituelle Bedürfnisse und religiösen Glauben von Patienten in Psychiatrie und Psychotherapie zu respektieren und wertzuschätzen sei ein wichtiger Schritt, um den Patienten selbst, ihrer menschlichen Würde und ihrem inneren Leben gerechter zu werden (vgl. Baumann 2012, S. 114).14
Warum kümmert sich eine caritaswissenschaftliche Studie um dieses Themenfeld? Menschen mehr gerecht werden lautet der Titel dieser Arbeit: Einsatz für Gerechtigkeit ist ein zentrales Anliegen der Bergpredigt und für das Christsein von höchster Priorität (vgl. Schockenhoff 2014, S. 193). Christliche Ethik ist dabei „keine religiöse Sondermoral“, sondern lehrt
eine vernunftbegründete Moral des vollen, unverkürzten Menschseins, in deren Zentrum die Sorge um das Wohlergehen der Person und die Entfaltung ihrer Existenzmöglichkeiten steht. Der Einsatz der Christen für die größere Gerechtigkeit im Sinne Jesu führt nicht zu einer anderen oder besseren Moral, sondern dazu, dass Christen sich durch ein besonderes Engagement für alles auszeichnen, was nach menschlichen Maßstäben erstrebenswert und gut ist. (ebd., S. 193 f.)
Das biblische Verständnis von Gerechtigkeit meint nach Dietrich Ritschl gleichwohl mehr als nur Symmetrie, Ausgleich und Balance,15 sondern „gelingendes Leben“, „das Gesamt der lebensfördernden, heilenden Beziehungen“ (vgl. Ritschl 1991, S. 88). „Diese ‚neue Gerechtigkeit‘ verknüpft den symmetrischen Ausgleich mit Barmherzigkeit für den Bedürftigen und Zuspätgekommenen.“ (ebd., S. 89) Solch eine Option als tragender Beweg- und Hintergrund dürfte mit den oben genannten psychiatrischen und psychotherapeutischen Anliegen durchaus konvergieren. Benedikt XVI. beschreibt in seiner Enzyklika Caritas in veritate eine zentrale Verbindung von Caritas und Gerechtigkeit:
Wer den anderen mit Nächstenliebe begegnet, ist vor allem gerecht zu ihnen. Die Gerechtigkeit ist der Liebe nicht nur in keiner Weise fremd, sie ist nicht nur kein alternativer oder paralleler Weg zur ihr: Die Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden, sie ist ein ihr innewohnendes Element. Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder – wie Paul VI. sagte – ihr „Mindestmaß“ […]. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert. (Benedikt XVI. 2009, Nr. 6)
Demnach dürfte es – zumindest „anonym“ oder unbewusst – mit Gott zu tun haben und in seinem Sinne sein, wenn man danach sucht, Patientinnen und Patienten noch besser gerecht zu werden.
1.4 Caritaswissenschaft als praktische Theologie
Caritaswissenschaft darf und will keine ungebührliche Einmischung auf fremdem Terrain betreiben. Psychiatrie und Psychotherapie sind ein eigener und autonomer Bereich, den die Theologie selbstverständlich achtet und respektiert.16 Sie will auch niemand vereinnahmen.17 Sie hat jedoch mit ihrer wissenschaftlich begründeten Perspektive Wichtiges in die Diskussion einzubringen. Der Bedarf an solch interdisziplinärem Dialog mit den Geisteswissenschaften wird da und dort auch von psychiatrischer Seite angemeldet.18
Die Caritaswissenschaft hat einen sehr komplexen wissenschaftlichen Gegenstand: Dieser schließe u. a. „den leidenden und den helfenden Menschen sowie die Art und Qualität ihrer Beziehung ein“.19 Ihre Arbeit erfolge in drei Schritten: Sie möchte „Theorie und Praxis von Caritas und Christlicher Sozialarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven und Fragestellungen heraus“ 1. beschreiben, 2. erklären und 3. fördern bzw. konstruktiv verändern, wofür eine reflektierte Interdisziplinarität notwendig sei (vgl. Baumann 2015, S. 143).
Sie ist darin der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (Gaudium et spes, Nr. 1) In dieser Solidarität ist ein umfassender Horizont gefordert: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“ (ebd., Nr. 3) Die Brücke zum Thema und Anliegen unserer Studie ist leicht zu schlagen. Die Ausführungen des Konzils zum karitativen Tun in Apostolicam actuositatem Nr. 8 mit dem Blick auf Menschen, die „von Drangsal und Krankheit gequält werden“, der Rücksicht „auf die personale Freiheit und Würde“, den vorausgehenden „Forderungen der Gerechtigkeit“, der Förderung der Selbsthilfe und Eigenständigkeit20 und der Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ (vgl. Apostolicam actuositatem, Nr. 8) sind eine weitere Orientierung. In dieser Richtung formuliert die Deutsche Bischofskonferenz: „Die Caritas meint den ganzen Menschen einschließlich seiner existentiellen Ängste und Sehnsüchte und Fragen und reduziert ihn nicht auf materielle Bedürfnisse.“ (Die deutschen Bischöfe 1999, S. 16)
Warum aber Caritas, also Nächstenliebe? Reicht nicht kompetente soziale oder therapeutische Hilfe? Benedikt XVI. betont in seiner Enzyklika Deus caritas est, es sei das Wesentliche, „das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.“ (Benedikt XVI. 2005, Nr. 28) Deshalb sei für den Dienst an den Leidenden berufliche Kompetenz grundlegend notwendig, darüber hinaus aber geht es ja „um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens.“ (ebd., Nr. 31) Mathias Berger, vormals Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Freiburg, spricht im Kontext einer therapeutisch individuell angepassten Beziehungsgestaltung von der Forderung, „dass ein Therapeut seine Patienten mit so viel Engagement und Empathie behandeln sollte wie er es bei einem Familienangehörigen täte“ oder – auf ein Zitat Friedrichs II. zurückgreifend – „ex amore“ (vgl. Berger 2013, S. 64).
Praktische Theologie (PT) will dem Menschen dienen. Ihr Ziel ist, wie das Handbuch praktische Theologie sagt, „der Mensch in seinem Menschsein-Können, d. h. in einem individuellen und sozialen Leben, das der Würde des Menschen vor Gott entspricht.“ (Haslinger et al. 1999b, S. 395) Sie hat dabei „eine vorrangige Option für benachteiligte, arme, unterdrückte, in die Bedeutungslosigkeit abgedrängte Menschen […] eine vorrangige Ausrichtung an den Menschen, bei denen dieses menschenwürdige Leben-Können am meisten verletzt ist.“ (ebd., S. 396) PT möchte durch ihre Arbeit dazu beitragen, die Zuwendung Gottes und „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) in konkreten Lebenskontexten erfahrbare Wirklichkeit werden zu lassen (vgl. ebd., S. 395). Dafür muss die PT von den Erfahrungen der Menschen und ihren wirklichen Fragen ausgehen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 28) f.).21 Die Beachtung der Betroffenenperspektive ist eine konstitutive Komponente von PT (vgl. Fuchs u. Haslinger 1999, S. 220)22: „Deshalb ist es für eine diakonisch ausgerichtete Praktische Theologie wichtig, nicht nur die Notsituation, sondern auch die Art der Bedürftigkeit von den Betroffenen selbst definieren zu lassen.“ (ebd., S. 223)23
Stephanie Klein erinnert daran, dass Menschen, die zu den „Armen“ gehören, oft wenig Möglichkeit haben, „sich in der Gesellschaft, der Kirche und der Theologie sichtbar zu machen. Empirische Forschung kann dazu beitragen, deren eigene Deutungen, Hoffnungen, Definitionen und Perspektiven zur Sprache zu bringen und ihnen in theologischen wie auch in anderen Diskursen Relevanz zu verleihen.“ (Klein 2005, S. 103) Heinz Schott und Rainer Tölle sind überzeugt, dass „viele chronisch Kranke nolens volens Erfahrungen in der Psychiatrie gewonnen“ haben: „Sie können mitreden“ – Psychiater könnten viel gewinnen, indem sie auf diese hörten (vgl. Schott u. Tölle 2006, S. 503). Solche Anliegen teilt auch unsere Studie, indem sie Patienten selber befragt und versucht, die Relevanz ihrer Aussagen für die fachliche Diskussion deutlich zu machen.
PT möchte zu einer „angemesseneren, unverfälschteren Wahrnehmung“ der Lebenswirklichkeiten beitragen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 27) und erkundet dazu empirisch gerade auch solche Bereiche, die in der humanwissenschaftlichen Forschung sonst zu kurz kommen, wie etwa „Fragen nach der gelebten Religiosität […]: nach den religiösen Vorstellungen und Gottesbildern von Menschen in verschiedenen biographischen und sozialen Lagen, nach ihren Hoffnungen, Suchbewegungen und Zweifeln, ihrer religiösen Sozialisation und Praxis usw.“ (Klein 2005, S. 102). Die in unserem empirischen Teil angewandten Methoden quantitativer Sozialforschung „sind geeignet, um die Verbreitung von Phänomenen zu erforschen“ (vgl. Klein 2015, S. 63) und betreiben in diesem Teil PT als Sozialwissenschaft (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 173). Nach Heinrich Pompey bedient sich Caritaswissenschaft „der Methoden der Sozialempirie. Sie fragt: 1. Was bedeutet der Glaube für leidende und suchende Menschen?“ (Pompey 2001, S. 189). Zu ihren Forschungsfragen gehöre: „Erweist sich der Glaube als Lebensquelle für notleidende, kranke, konfliktbeladene und suchende Menschen, und liefert er lebensförderliche Lebens-Wertoptionen bzw. Lebens-Sinnperspektiven?“ (ebd., S. 192) In unserem Fall ist das nicht etwa auf christlichen Glauben begrenzt, sondern fragt nach Werten, Sinn und möglichem Benefit in allen möglichen Weltanschauungen.
Damit wird auf der Basis kompatibler bzw. konvergierender Optionen24 zwischen Humanwissenschaften und Theologie in „interdisziplinären Suchbewegungen […] vor allem problembezogenes und Problemlösungs-Wissen“ produziert (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 170) f.).25 Nach Stephanie Klein erarbeite PT „nicht primär Lösungen für die Praxis“, sondern stelle „Wissen und Analysen für die Erarbeitung von Lösungen zur Verfügung“ (vgl. Klein 1999a, S. 263). In diesem Sinne wollen unsere Ausführungen niemandem eine „Lösung“ vorschreiben, sondern zum informierten Nachdenken über die aufgezeigten Phänomene und Aspekte anregen und einige Vorschläge zu Lösungsansätzen machen.
Was für Menschen wirklich hilfreich ist, lässt sich oft nicht leicht bestimmen. Jürgen Werbick sieht in seiner Theologischen Methodenlehre eine Aufgabe der „Diakonik“ (hier: Caritaswissenschaft) darin, in einen „produktiv ausgetragenen Konflikt der Hermeneutiken des Hilfreichen“ einzutreten und dafür empirisch zu erheben, „was der Lebens-Not von Menschen wirksam abhilft und von den Betroffenen wie den diakonisch Tätigen so empfunden wird, dass sie sich mit solcher Hilfe identifizieren können“ (Werbick 2015, S. 567). PT mische sich als „empirisch forschende Wissenschaft“ ein „in den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs um die soziale Wirklichkeit“: „Sie macht die Theologie dort präsent und trägt aus theologischer Sicht zur Benennung der Probleme, zur Methodendiskussion, zur Theoriebildung, zur Findung von Lösungen und zum Streit um die Wirklichkeit bei.“ (Klein 2015, S. 64) Ihre Dokumentationen und Analysen seien „oft ein Politikum“, weil sie evtl. Missstände und Ungerechtigkeiten sichtbar machten (vgl. Klein 1999a, S. 264). Anwaltschaft für Benachteiligte gehört zu den Prinzipien von Caritas: Caritaswissenschaft müsse theologisch und sozialwissenschaftlich begründen, warum diese geboten und möglich ist (vgl. Haslinger 2004, S. 159). Anwaltschaft zielt nicht auf Gegnerschaft, sondern eher auf einen fruchtbaren Dialog und die Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ für das „Werk sozialer Nächstenliebe“ und Anliegen wie Gerechtigkeit und Frieden (vgl. Benedikt XVI. 2009, Nr. 57).26
Zwischen Empirie und Theorie besteht auf mehreren Ebenen ein – im besten Falle konstruktives – Spannungsverhältnis. Zunächst sind empirische Daten nicht einfach „neutrale“ Fakten: Gegen ein positivistisches Verständnis sind sie „nicht die Wirklichkeit selbst“, sondern voraussetzungsreiche Ergebnisse, die „auf die Prämissen, die zugrundeliegende Anthropologie und die methodischen Implikationen hin reflektiert werden“ müssen (Klein 2015, S. 62) f.).27 Des weiteren besteht in unserem Kontext die Frage, ob und wie in ethischen, therapeutischen oder theologischen Fragen Empirie auf die Theorie bzw. das übliche Denken einwirken kann. Die Medizinethiker Stella Reiter-Theil und Uwe Fahr betrachten (empirische) „Forschung über Ethik“, die Betroffene und ihre Anliegen mehr als nur anekdotisch einbezieht, als eine „notwendige Aufklärung und Selbstkritik.“ (vgl. Reiter-Theil u. Fahr 2005, S. 103) Reiter-Theil beschreibt in einem grundlegenden Artikel drei Muster der Beziehung zwischen dem Empirischen (bzw. empirisch beobachtbarer Praxis) und ethischen Normen: Diese könnten sich jeweils in eine Richtung oder auch gegenseitig infrage stellen (vgl. Reiter-Theil 2012, S. 426). So könnten z. B. empirische Studien, die eine überraschende oder bedenkliche Praxis nachweisen, Anlass sein für die kritische Bewertung einer bestimmten Norm, die dabei verteidigt, modifiziert oder zur weiteren Diskussion gestellt werden könnte. Für eine Modifikation brauche es aber robuste empirische Evidenz und möglichst interdisziplinäre ethische Argumentation (vgl. ebd., S. 432 f.). In diesem Sinne könnten empirische Ergebnisse unserer Studie zusammen mit den anthropologischen und ethischen Perspektiven durchaus ein Anstoß sein zur Weiterentwicklung sowohl von medizinethischen Richtlinien (die etwa im deutschsprachigen Raum im Blick auf Religion und Weltanschauung nur die Neutralität formulieren; vgl. Abschn. 3.3.1) wie auch von Standards der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung (die etwa in den einschlägigen Lehrbüchern Religiosität bzw. Spiritualität weitestgehend ausklammern; vgl. Abschn. 6.2.1). PT erweist sich damit „in ihrer für die Praxis generativen Kraft als gegenwarts- und zukunftsträchtig“ (vgl. Kießling 2005, S. 123). Theologie hat eine prophetische Aufgabe, es gibt in ihr „einen auf Zukunft hin orientierten Praxisbezug, der die gegenwärtig vorfindbare Praxis als Korrektur und Herausforderung trifft“ und im empirisch Erkennbaren nach Potentialen sucht, die – wie in Jesu Gleichnissen – für überraschende theologische Perspektiven offen sein können (vgl. Fuchs 2000, S. 208).
Umgekehrt kann und muss auch die Theologie selber aus der Empirie lernen. Empirische Wahrnehmungen können Anlass sein für theologisches Nachdenken, für das Neu-Beachten oder die Neu-Interpretation von Glaubensthemen. Gute Theologie braucht „theologische Orte“ (loci theologici): Quellen und Fundstellen für Erkenntnis und ihre Vermittlung ins Heute.
Die Loci unterscheiden zwischen konstituierenden und interpretierenden Orten der Offenbarung. Sie entwickeln also eine geordnete Rangordnung der Quellen der Theologie. Bei den interpretierenden wird zwischen eigenen und fremden, also zwischen innen und außen unterschieden. Dabei ist die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden nicht hierarchisch in dem Sinne zu verstehen, als ob die fremden nachträglich oder gar verzichtbar wären. (Siebenrock 2003, S. 126)
Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse können zu den sogenannten „fremden“ Orten (loci alieni)28 gezählt werden, die eine interpretierende Funktion bekommen. Nach Stephanie Klein hat die Reflexion des im Alltag gelebten Glaubens „eine unverzichtbare theologische Relevanz. Sie konfrontiert Exegese und systematische Disziplinen mit Glaubensdeutungen und -praxis der Menschen vor Ort und arbeitet an einer Kirchengeschichtsschreibung ‚von unten‘ mit.“ (Klein 1999b, S. 258)29
Jürgen Werbick spricht von Lernprozessen, bei denen PT mit ihren empirischen Untersuchungen im Dienst der „Kommunikation des Evangeliums“ eine „zu optimierende kritische Korrelation zwischen christlicher Zeugnisüberlieferung und gelebter, impliziter oder expliziter Religiosität“ im Blick hat, „wobei unter gelebter Religiosität hier alle Zeugnisse (»living documents«) einer »aufs Ganze gehenden« Lebensorientierung und Identitätsausrichtung verstanden werden dürfen.“ (Werbick 2015, S. 525) Entsprechend weit ist unsere Studie angelegt. Für die Theologie – und hier etwa auch eine verantwortete Klinikseelsorge – geht es um „Wege, auf denen man lernen kann, mit der gegebenen Situation »produktiv« umzugehen und so auch Möglichkeiten zu erschließen, das in den Zeugnissen der biblischchristlichen Überlieferung Bezeugte heute als schlechthin verheißungsvolle Lebens-Herausforderung zu bezeugen.“ (ebd.)
1.5 Erkenntnisinteresse und Objektivität? Declaration of interests
Im Lexikon der Geisteswissenschaften definiert Wolfgang Jordan Erkenntnisinteresse als „eine allgemeine Zwecksetzung im Erkenntnisvermögen des Menschen, die zu einer Strukturierung des erkannten Gegenstands führt.“ (Jordan 2011, S. 141) In diesem Kontext würden dann u. a. Fragen von Wahrheit und Ideologie erörtert (vgl. ebd.): Kann und will der Mensch wirklich Wahrheit erkennen? Jede Forschung hat primär mit Erkenntnisinteressen und möglicherweise mit weiteren, sekundären – im schlechtesten Fall egoistischen – Interessen zu tun. Das von Norbert Mette und Johannes Steinkamp beschriebene „Paradigma der konvergierenden Optionen“ (Mette u. Steinkamp 1983, S. 170)–172) in Bezug auf die „Interaktion zwischen Humanwissenschaften und Theologie“ trägt dem wissenschaftstheoretischen Grundsatz Rechnung, „daß jeder Erkenntnis- und Forschungsprozeß von Interessen bzw. Optionen geleitet ist (im Sinne der Dialektik von Erkenntnis und Interesse)“ (ebd., S. 170). Wir sprachen bereits oben von Interessen und Anliegen etwa der Psychiatrie, der Psychotherapie, der Praktischen Theologie und Caritaswissenschaft. Es ist berechtigt, diese kritisch zu überprüfen: „Wer heute den ›Menschen‹ (Menschlichkeit, Humanität) beschwört, steht deshalb noch nicht außerhalb aller weltanschaulichen Interessen. Auch hier gilt die ideologiekritische Frage: cui bono.“ (Arlt 2001, S. 11) f.)
Roy F. Baumeister hält es für wesentlich, religionspsychologische Forschung nicht Zeloten zu überlassen: „it is essential that religion be studied in a balanced, open-minded, objective fashion rather than being left to the pro-religious and antireligious zealots who are seeking to support predetermined conclusions.“ (Baumeister 2002, S. 165) Dem ist voll zuzustimmen. Das Einleitungskapitel des bereits genannten APA-Handbuchs sieht Religion und Spiritualität für viele Menschen mit großem Einfluss (power) verbunden, darum ließe das Thema die wenigsten kalt und löse auch bei Wissenschaftlern Emotionen aus – statt Dialog über solch wichtige und emotional aufgeladene Bereiche folgten darum leider oft entweder Schweigen oder vorgefasste Meinungen und Provokationen (vgl. Pargament et al. 2013a, S. 3). Jacob A. Belzen warnt die Religionspsychologie vor dem (evtl. unbewussten) Bedürfnis, bestimmte Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu präsentieren, die aus der Sympathie für eine bestimmte Weltsicht oder Religion resultierten (vgl. Belzen 2009a, S. 212). Man müsse lernen, der Subjektivität von Studienteilnehmern mit so viel Aufmerksamkeit zu begegnen und nach dem psychologisch Relevanten zu suchen, wie man es in der Psychotherapie tun würde – und bei alledem genauso sein privates Urteil zurückzustellen (vgl. ebd., S. 220).30 In der Tat, eine solche Klarheit und reflektierte Neutralität ist unabdingbar.
Die nötige Transparenz und eine berechtigte Vorsicht sind jedoch zu unterscheiden von unfairen Verdächtigungen. Der Weg von kritischer Sicht hin zu Verdacht oder gar Vorurteilen ist manchmal nicht weit. Matthias Richard vermutet, religionspsychologische Forschung sei in Deutschland unter anderem deshalb selten, weil „dem Forscher schnell unterstellt wird, den Inhalt einer religiösen Aussage belegen zu wollen und damit ‚weltanschaulich gebunden‘ zu sein.“ (Richard 2004, S. 131) Peter J. Verhagen sieht die im Bereich von Psychiatrie und Religion forschenden Wissenschaftler unter dem Verdikt stehend, religiös stark interessiert zu sein. Sie würden damit eines Interessenkonfliktes beschuldigt, und man fürchte eine Evangelisierung von Patienten und die Gefahr der Verletzung therapeutischer Grenzen (vgl. Verhagen 2012, S. 355). Prominent haben das etwa in Großbritannien die Psychiater Rob Poole und Robert Higgo vertreten, die bei einigen Forschern einen Interessenkonflikt in Form eines starken religiösen Glaubens oder einer formalen religiösen Rolle annehmen (vgl. Poole u. Higgo 2011, S. 26).31 Fiona Timmins et al. haben den Eindruck, Forscher zu Religion und Spiritualität würden bereits aufgrund ihres Themas höheren Standards und Erwartungen unterworfen als andere Forscher (vgl. Timmins et al. 2016, S. 4). Niedrigere Standards sollten es aber keinesfalls sein.
Benannt werden müsste in diesem Kontext auch eine gegenteilige Tendenz. Klaus Baumann verwies auf Tendenzen zu wissenschaftlichem (Neo-)Positivismus, Materialismus und Empirizismus, die in den Neurowissenschaften, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapien verbreitet seien. Professionelle Neutralität dürfe aber nicht als „wertfreie“ Wissenschaft konzipiert werden wie vom Empirizismus behauptet, der aber selber mit zumindest impliziten ideologischen Optionen und Wertentscheidungen geladen sei – gegen Metaphysik und Religion und zugunsten von materialistischem Reduktionismus (vgl. Baumann 2012, S. 107) f.).32 Weder ein unwissenschaftlicher generell negativer Bias noch eine unkritisch positive Haltung zu Religiosität bzw. Spiritualität seien wünschenswert (vgl. ebd., S. 112). Gleichwohl sei radikaler Reduktionismus generell eine Versuchung für die Psychologie – und Religion für reduktionistische „Nichtsals“-Erklärungen gefährdeter als andere menschliche Phänomene, meint K. I. Pargament unter Berufung auf den namhaften Religionspsychologen David M. Wulff (1996) (vgl. Pargament 2002a, S. 243).
Sowohl die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF 2010b) wie das Deutsche Netzwerk evidenzbasierte Medizin (2011) gaben Empfehlungen zum Umgang mit möglichen Interessenkonflikten und damit der Verringerung von Bias (dt.: einseitige Neigung, Voreingenommenheit, systematischer Fehler). Beide Organisationen stützen sich auf ein international rezipiertes Bias-Risiko-Konzept von Interessenkonflikt, das von Dennis F. Thompson und Ezekiel J. Emanuel entwickelt wurde und in die Konzeption des Institute of Medicine (US) eingeflossen ist: „Conflicts of interest are defined as circumstances that create a risk that professional judgments or actions regarding a primary interest will be unduly influenced by a secondary interest.“ (Lo u. Field 2009, S. 6).33 Interessenkonflikte sollten nicht „mit mangelnder Integrität einer Person gleichgesetzt werden“ – integer bezeichne als personale Eigenschaft Personen, die „nicht durch Fehlverhalten oder Korruption aufgefallen sind“ und dafür künftig keine hohe Wahrscheinlichkeit haben (vgl. Deutsches Netzwerk evidenzbasierte Medizin 2011, S. 7). Ein vorliegender Interessenkonflikt solle auch nicht „mit der Unterstellung einer verzerrten Entscheidung gleichgesetzt“ werden; angemessener sei das Bias-Konzept, welches das „Risiko für einen verzerrenden Einfluss auf professionelle Urteile einzuschätzen und explizit zu machen“ und präventiv zu minimieren suche (vgl. ebd., S. 8). Ein Interessenkonflikt sei also „bei Thompson und Emanuel nicht als ein Ereignis, sondern als ein Zustand mit einer Tendenz definiert“ und „die Wahrscheinlichkeit einer unangemessenen Beeinflussung durch Interessenkonflikte als ein Kontinuum (leichtgradig/schwergradig) zu verstehen“ (vgl. ebd., S. 9). „Die meisten Sekundärinteressen, inklusive finanzieller Vorteile, sind (innerhalb bestimmter) Grenzen absolut legitime Ziele. Sekundärinteressen werden dann problematisch, wenn sie einen unangemessenen Einfluss auf professionelle Entscheidungen haben.“ (ebd.) Eine wichtige Maßnahme, die Offenlegung (disclosure) von Interessenkonflikten hat als Ziel: „Personen, die durch professionelle Entscheidungen betroffen sind, sollen ausreichend über Interessenkonflikte der Entscheider informiert sein. Standardmäßig sollte die Offenlegung das beinhalten, was die Betroffenen wissen müssen, um den Schweregrad des Interessenkonflikts einschätzen zu können“ (ebd., S. 15). So verlangt die AWMF im Rahmen der Leitlinienentwicklung, Interessenkonflikte zu erklären, wobei „materielle und immaterielle Interessen“ erfasst werden sollen (vgl. AWMF 2010b, S. 4). Das entsprechende Formblatt erfragt neben etlichen finanziellen Aspekten etwa folgende Punkte: „Politische, akademische (z. B. Zugehörigkeit zu bestimmten ‚Schulen‘), wissenschaftliche oder persönliche Interessen, die mögliche Konflikte begründen könnten. Gegenwärtiger Arbeitgeber, relevante frühere Arbeitgeber der letzten 3 Jahre“ (AWMF 2010a, Nr. 8 f.).
Alan C. Tjeltveit stellt in einem Überblicksartikel die Rolle von Werten in psychologischen wissenschaftlichen Untersuchungen und vorgeschlagene Lösungen für eine unberechtigte Präsenz von Werten aufseiten der Untersucher vor (vgl. Tjeltveit 2015, S. 35). Die eigenen Werte und Annahmen offen zu legen helfe Lesern, die Aussagen von Autoren zu interpretieren und verstehen – allerdings könnten statt Konsens und Horizontverschmelzung auch schädliche Folgen resultieren: Ablehnung oder Bestrafung von jenen, die eine bestimmte Sicht vertreten, nichtideale Gesprächssituationen usw. (vgl. ebd., S. 44) f.). In konkreten Forschungsprojekten gelte es, im Blick auf eigene Werte und möglichen Bias Expertise und praktische Weisheit zu kombinieren, etwa in angemessenen prozeduralen und statistischen Methoden – eine einfache allgemeingültige Lösung dafür gebe es nicht (vgl. ebd., S. 47) f.). Fiona Timmins et al. meinen, die meiste Forschung überhaupt würde angesichts der damit verbundenen Anstrengungen ohne den „Glauben“ und die Hingabe von Forschern an ihre Forschungsfragen nicht stattfinden – nötig sei jedoch ein Forschungsdesign, durch das die Resultate objektiv und nicht von persönlichen Neigungen beeinflusst würden (Timmins et al. 2016, S. 4).
Stephanie Klein weist darauf hin, dass alle Forschenden ihr eigenes „Relevanzsystem“ hätten, auf das ihre Erkenntnisse bezogen seien, sie müssten daher „ihren eigenen Referenzrahmen, d. h. ihre eigene biographische, soziokulturelle, geschlechtsrollenspezifische, kirchliche etc. Situiertheit“ reflektieren und benennen: „Dadurch wird den Erkenntnissen der Schein einer falschen Objektivität genommen und vielmehr die Reichweite der Gültigkeit der Aussagen benannt. [orig. mit Fußnote: Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse] Die Reflexion auf eigene Prämissen und Interessen und ihre offene Darlegung sind deshalb als Kriterien von Wissenschaftlichkeit anzusehen.“ (Klein 1999b, S. 251)34
Zusammen mit den oben genannten Empfehlungen heißt das für mich als Autor im Sinne einer ausführlichen Offenlegung von Interessen (Declaration of interests): Ich verfasse diese Studie als katholischer Christ und Priester, universitär qualifiziert mit Lizentiaten der Theologie sowie der Psychologie, tätig sowohl in der Seelsorge wie auch als Psychologischer Psychotherapeut.35 Insofern durch die Doppelausbildung zumindest mit einer gewissen interdisziplinären Qualifikation ausgestattet.36 Inwieweit kann ich als kirchlicher Amtsträger wissenschaftlich neutral sein?
„Die Wahrheit wird euch frei machen“ steht in großen Lettern am Kollegiengebäude I der Universität Freiburg im Breisgau (vgl. Joh 8,32), und es ist meine tiefe Überzeugung: Die Wahrheit, ob angenehm oder unangenehm, befreit – nicht Beschönigung noch Verdrängung noch Illusionen. Dem fühle ich mich verpflichtet, in aller Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt meiner (auch wissenschaftlichen) Arbeit. Das gilt sowohl für die sozialwissenschaftlich strikte Methodik in der Erhebung und statistischen Auswertung der Daten im empirischen Teil, wie auch für die geisteswissenschaftlichen Teile. Die Überprüfung meiner Arbeit durch wissenschaftliche Autoritäten wie den Betreuern der Dissertation und eine Fachfrau für Biometrik tragen dazu bei. Gab es eine „Erwartung positiver Ergebnisse“ für das Interesse an Religiosität bzw. Spiritualität, wie gelegentlich als Verdacht geäußert wird? Zumindest gab es eine Vermutung, dass eine solche Dimension für etliche eine Rolle spielen wird (aufgrund des explorativen Charakters jedoch keine genaue Hypothese) – aber kein Interesse, dabei möglichst hohe Werte zu bekommen (Wem sollten die helfen?). Bei der Interpretation von Daten kommen freilich Perspektiv- und Geschmacksfragen ins Spiel: Was ist „viel“, was „wenig“? Bekanntlich kann man das berühmte Glas als „halb voll“ oder „halb leer“ betrachten. Ich habe aber versucht, wissenschaftliche Konventionen von viel/wenig oder stark/schwach nicht auf „statistisches Signifikanztesten“ zu begrenzen, sondern jeweils weitere Maße wie z. B. Effektgrößen oder die Teststärke zu berechnen und entsprechend zu bewerten (vgl. dazu Abschnitt 5.1.4).
Ich respektiere und achte andere weltanschauliche, religiöse oder spirituelle Einstellungen und Formen als meine eigenen. Ich habe auch Erfahrung mit Glaubensnöten und problematischen Glaubensformen und weiß um den ambivalenten Einfluss von Religiosität oder Spiritualität. Skeptisch bin ich deshalb bezüglich einer naiv positiven Sicht oder einer „Glaubensmedizin“ (Verwendung von „Glaube“ für Gesundheitsinteressen). Das Ernstnehmen der einzelnen Person in ihrem Dasein und Sosein dagegen ist mir wichtig. Mein Arbeitgeber ist die Erzdiözese Freiburg: Es wurde keinerlei Auftrag zur Wahl des Forschungsthemas erteilt. Ich weiß um keine Erwartungen in Bezug auf meine Forschungsergebnisse – aber eine entsprechende wissenschaftliche Qualität als Promotionsprojekt wird erwartet. Ob es irgendwo ein verborgenes (Macht-)Interesse geben kann, kirchliche Einflussbereiche zu sichern, z. B. durch die Präsenz von Klinikseelsorge? Das wäre zumindest zu bedenken, wenn man sich als Kirche für das Wohl von Menschen im Krankenhaus einsetzen möchte (zur Ausrichtung von Klinikseelsorge vgl. Abschn. 6.1.3). Zuletzt: Finanzielle Interessenkonflikte bestehen für diese Studie sicher keine. Zu verdienen ist hier nichts, und die Finanzierung der geringen direkten Kosten (Vervielfältigung der Fragebogen in der Uni-Druckerei) erfolgte durch Eigenmittel des Arbeitsbereichs Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit.
1.6 Interdisziplinarität
Ein von Michael Jungert et al. (2010) herausgegebener Sammelband Interdisziplinarität beleuchtet grundlegend Fragen und Probleme des Themas in Theorie und Praxis. Der Philosoph und Physiker Gerhard Vollmer etwa stellt fest: „Interdisziplinarität ist unerlässlich, weil die meisten Systeme unserer Welt komplex sind.“ (Vollmer 2010, S. 48) „Wenn nun aber fast alle Systeme Gegenstand mehrerer Wissenschaften sein können, dann sind für eine vollständige Beschreibung oder gar Erklärung auch mehrere Wissenschaften nötig.“ (ebd., S. 51) Bei manchen Problemen seien viele Disziplinen nötig, es komme dann darauf an, „zu erkennen, was alles eine Rolle spielen kann“ und an geeigneten Stellen Informationen zu sammeln (vgl. ebd., S. 59). Interdisziplinäre Verständigung kann problembehaftet sein: „Um einer fachfremden Person etwas aus dem eigenen Fach zu erklären, muss man vereinfachen. Vereinfachen heißt aber verfälschen. Und je stärker man vereinfacht, desto größer ist der mögliche Fehler.“ (ebd., S. 64) So auch in dieser Studie hier: Ich versuche, für Personen aus verschiedenen Fachgebieten verständlich zu sein – ohne Dinge ungebührlich zu verfälschen –, deshalb sind auch manche Ausführungen oder Zitate etwas länger und nicht nur kurz angedeutet.
Der Philosoph Michael Jungert beschreibt verschiedene Arten von Interdisziplinarität:37 Der vierte Typus (Composite Interdisciplinarity) gleiche „einem Puzzle. Drängende praktische Probleme motivieren eine Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen […] Dabei überlappen weder die Gegenstandsbereiche der jeweiligen Fächer ernsthaft noch deren Methoden oder theoretische Integrationsniveaus.“ Der komplexe Problembereich mache „die Einbeziehung aller Perspektiven erforderlich“ (vgl. Jungert 2010, S. 5) f.). Ganz ähnlich sprechen Eike Bohlken und Christian Thies von einer integrativen Anthropologie mit einer interdisziplinär problemorientierten Integration: „Wenn beispielsweise nach den Ursachen und Bedingungen menschlicher Gewalttätigkeit gefragt wird, ist es angesichts der Komplexität menschlichen Handelns notwendig, möglichst alle anthropologischen Ansätze und humanwissenschaftlichen Disziplinen in die Suche nach einer Antwort einzubeziehen.“ (Bohlken u. Thies 2009, S. 5) Diese Modelle scheinen für unsere Studie gut zu passen (wie auch für lösungsorientierte Praktische Theologie insgesamt; s. oben S. 10). Darüber hinaus meint der Biologe und Philosoph Bertold Schweitzer,38 bei interdisziplinärem Arbeiten sei „die Erstellung eines integrierten Modells gefordert, das die von den verschiedenen Disziplinen untersuchten Komponenten eines Phänomens in einen geordneten Zusammenhang bringt, aus deren Zusammenspiel resultierende emergente Effekte berücksichtigt und Vorhersagen und Problemlösungen ermöglicht“ (Schweitzer 2010, S. 123). Es ist anzunehmen, dass gerade aus dem Zusammenspiel anthropologischer, ethischer, psychotherapeutischer, versorgungs- und sozialwissenschaftlicher sowie theologischer Perspektiven Effekte und mögliche Lösungen unseres Themas aufscheinen können.
Interdisziplinäre Öffnungen Richtung Geisteswissenschaften gibt es auch von psychiatrischer Seite. Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs sieht die Psychiatrie im „Spannungsfeld zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen subjekt-orientierter Erlebenswissenschaft einerseits und objektivierender Neurowissenschaft andererseits.“ (Fuchs 2010, S. 235) Arthur Kleinman bewertet biologisch orientierte psychiatrische Forschung als notwendig, aber nicht hinreichend für eine verlässliche akademische Psychiatrie und ihr Verständnis und die Behandlung schwerer seelischer Störungen – sie brauche u. a. auch psychosoziale, kulturelle, klinische und versorgungswissenschaftliche Studien und dafür den Kontakt zu Sozial- und Verhaltenswissenschaften (vgl. Kleinman 2012, S. 421 f.) James K. Boehnlein unterstreicht ebenso den kulturellen Aspekt (cultural psychiatry): Um die volle Spanne menschlichen – ggf. pathologischen – Erlebens und Verhaltens zu verstehen, habe die Psychiatrie oft über den naturwissenschaftlichen Bereich hinausgehen müssen in philosophische Gefilde, auch religiöse und spirituelle Bezugsrahmen seien als komplementär zu integrieren (vgl. Boehnlein 2006, S. 634 f.). Es gebe eine Konvergenz von Biowissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften zum vollen Verstehen menschlicher Identität und Bezüge in ihrer Komplexität, über alle Kulturen und Glaubensrichtungen hinweg (vgl. ebd., S. 646).39
Was heißt Interdisziplinarität für die Theologie? Nach Norbert Mette betreibt die Theologie interdisziplinäres Denken „dort, wo sie – um einer zeitgemäßen Darlegung des chr. Glaubens willen – ihre hergebrachten Voraussetzungen im Gespräch mit anderen Wiss. befragen läßt u. überdenkt sowie umgekehrt – um des Wohls u. Heils der Menschen willen –, die v. ihr aufbewahrten unabgegoltenen, krit. u. frei machenden Erinnerungen in den wiss. Diskurs einzubringen versucht.“ (Mette 1996, Sp. 557 f.) Dies zu tun bemüht sich diese Studie an einem konkreten Thema und möchte damit im doppelten Sinne „gute Theologie“ bieten. Eine Theologie, die etwas einbringt, das allen nützt: „Johannes XXIII. hat die Kirche mit einem alten Brunnen im Dorf verglichen, der gutes Wasser spendet. Dieses Bild scheint mir auch für eine gute Theologie passend zu sein.“ (Siebenrock 2003, S. 126) Und eine Theologie, die einen vitalen Kontextbezug aufweist: „Wer mithin sachgemäß Theologie treiben möchte, kommt nicht umhin, sich in Zeitgenossenschaft den Fragen und Impulsen der jeweiligen Situation zu stellen. Nur eine solche Theologie ist sachgemäß und damit zugleich zeitgemäß, ohne modischen Anpassungen zu verfallen.“ (Sievernich 2003, S. 227)
Klaus Kießling unterstreicht für das interdisziplinäre Gespräch den Bedarf sowohl des Eigenstands der beteiligten Disziplinen als auch von Kriterien für ihren Austausch (vgl. Kießling 2005, S. 124). Im Blick darauf benennt er grundlegende theologische Prinzipien: Schöpfungstheologisch kann „die Autonomie empirischer Erkenntnisse“ gewürdigt werden (vgl. ebd.).40 Die „Zuordnung von ‚profanen‘ Wissenschaften und Theologie“ lasse sich analog zu den christologischen Prinzipien des Konzils von Chalcedon (unvermischt und ungetrennt) beschreiben – also weder „monophysitische“ Vermischung noch „nestorianische“ Aufspaltung ohne Interdisziplinarität (vgl. ebd., S. 125). In einem pneumatologischen Zugang schließlich könne man ausgehen „von einem Geist, der menschliche Erkenntnisse sowohl als solche anzunehmen als auch zu radikalisieren vermag auf ihr letztes Ziel und ihre Vollendung hin.“ (ebd.) In diesem Kontext ist für unsere theologischen Teile Max Secklers Hinweis bedeutsam, dass die Gottesfrage das umfassende und grundlegende Formalprinzip der Theologie sei – unter Verweis auf Thomas von Aquin, der betone, „daß in der Theologie alle Themen in Ansehung Gottes (sub ratione Dei) zu behandeln sind, sei es, daß diese Themen Gott selbst direkt betreffen, sei es, daß sie eine Beziehung zu Gott als der alles bestimmenden Macht aufweisen.“ (Seckler 1988, S. 181)41
Für interdisziplinäre Gesprächsfähigkeit wichtig ist der sogenannte methodische Atheismus, den Hans-Günter Heimbrock so beschreibt: Er zielt „nicht auf eine generelle Verneinung des Gottesglaubens, sondern nur auf die Suspendierung spezieller religiöser Voraussetzungen auf Seiten des Forschers für die wissenschaftliche Wirklichkeitserkenntnis. Mit dem Prinzip soll Wissenschaft gegen unüberprüfbar autoritäre Setzungen und irrationale Meinungen gesichert werden.“ (Heimbrock 2007, S. 48)42 Dem folgt unser empirischer Beitrag. Dabei sollte man aber nicht stehen bleiben – Heimbrock ergänzt: „Von der Theologie her geht es dabei heute aber nicht um eine heimliche oder offene Verwässerung empirischer Forschung, nicht um weniger, sondern um mehr als ‚harte‘ Empirie.“ (ebd., S. 51) Es bleibe nämlich „die Frage:
Wie verhalten sich wissenschaftlich erhobene Daten von empirischer Einzelforschung zum Gesamtverständnis von Wirklichkeit.“ (ebd.) Denn wie „über Wirklichkeit und Leben gedacht“ werde, beeinflusse „in hohem Maße auch den praktischen Umgang mit Menschen“ (vgl. ebd., S. 59). Solch ein Gesamtverständnis wird in unserer Studie v. a. anthropologisch bedacht.
Der Theologe Richard Schröder gibt zu bedenken, dass man naturwissenschaftlichen Methoden – d. h. auch empirischen – keine „Allerklärungskompetenz“ zuschreiben dürfe. Themen wie etwa Gerechtigkeit, Frieden oder Freiheit und „unser gelebtes Selbstverständnis mitsamt unseren lebensweltlichen Erfahrungen und lebensleitenden Überzeugungen“ bräuchten „andere Weisen des Wissens“ (vgl. Schröder 2011, S. 56) f.).43 Dabei erinnert er daran, „dass jenseits der naturwissenschaftlichen Forschung nicht das freie Feld des wilden Mutmaßens beginnt, sondern auch dort die Sorgfalt des Denkens, der Wahrnehmung und des Unterscheidens unerlässlich ist.“ (ebd., S. 9) Wolfgang Schoberth verweist auf den notwendigen methodischen Reduktionismus von Wissenschaften, der mit Erfolg komplexe Wirklichkeiten auf einzelne Phänomene und Faktoren reduziere – das Menschsein als mannigfaltiges Ganzes sei damit aber noch nicht hinreichend erfasst (vgl. Schoberth 2006, S. 15) u. 134).44 Thema der Anthropologie sei nun „nicht ‚der Mensch‘, sondern der Diskurs über den Menschen“, gerade weil die unterschiedlichen „Vorstellungen vom Menschsein“ unser Handeln mit bestimmten (vgl. ebd., S. 83). Christian Thies und Eike Bohlken stellen sich eine integrative Anthropologie vor, die Ansätze für disziplinübergreifende Projekte biete wie auch kritisch gegen übertriebene „Alleinvertretungs- oder Letztbegründungsansprüche“ einzelner Disziplinen stehe: „Als zentraler Richtpunkt dient ihr die in offenen Leitbegriffen anzudeutende Mehrschichtigkeit und Vieldimensionalität der Menschen, die Raum lässt für universale und partikulare Merkmale und Praktiken.“ (Bohlken u. Thies 2009, S. 6) f.) Und damit auch für die Dimension von Religiosität bzw. Spiritualität. Nach Thies kann (philosophische) Anthropologie Orientierungswissen bieten, d. h. „begründete und systematisierte Einsichten, die helfen können, sich in einer unübersichtlichen, vieldeutigen Welt zurechtzufinden. Das gilt vor allem für wichtige Handlungsbereiche wie Medizin, Pädagogik und Politik.“ (Thies 2004, S. 11)45
Der Psychologe Jürgen Kriz hält im Blick auf Psychotherapie die zugrunde liegenden Denkmodelle für sehr wichtig: „Die Fragen danach, wie wir leben wollen, was wir für wesentlich erachten, aus welchem Bild vom Menschen wir die Maximen unseres Handelns ableiten, etc. betreffen daher nicht nur das therapeutische Handeln selbst, sondern auch dessen Erforschung.“ (Kriz 2012, S. 29) Aus medizinethischer Sicht meint Ulrich H. J. Körtner, „Medizin, Pflege, Philosophie und Theologie“ müssten „stärker miteinander ins Gespräch kommen […], und zwar nicht nur auf dem Gebiet einer im wesentlichen auf Risikoabschätzung reduzierten medizinischen Ethik, sondern auch im Bereich anthropologischer Grundfragen.“ (Körtner 2014, S. 353) Zu solchem Gespräch möchte diese Studie einen qualifizierten Beitrag leisten.
1.7 Kontext Versorgungsforschung
Zur Einordnung der vorliegenden Studie in die medizinische Forschungslandschaft bietet sich besonders das Paradigma der Versorgungsforschung an.
Seit einigen Jahren ist die Versorgungsforschung ein innerhalb der Gesundheitsforschung etabliertes und anerkanntes eigenes Forschungsgebiet (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 606). Angesichts begrenzter Mittel eine hohe Qualität der Kranken- und Gesundheitsversorgung sicherzustellen, gleiche oft einer Quadratur des Kreises: Dafür bräuchten alle Beteiligten einschlägiges Wissen, was die Versorgungsforschung mit entsprechenden Darstellungen des Ist-Zustands fördern wolle (vgl. Pfaff et al. 2011, S. XIII). In den USA kann sie auf einen sehr viel längeren Forschungszeitraum zurückblicken, als „Geburtsjahr“ wird dort das Jahr 1952 betrachtet, die offizielle Bezeichnung Health Services Research entstand aber erst 1960. In Deutschland kam sie erst ab den 90er-Jahren verstärkt auf (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 606). Derzeit sei das Interesse an der Thematik Versorgungsforschung in Deutschland sehr groß, wie auch die zahlreichen Aktivitäten im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) zeigten (vgl. Schrappe u. Pfaff 2011, S. 384).46
In Deutschland hat sich folgende Definition der Versorgungsforschung allgemein durchgesetzt (vgl. ebd., S. 381):
Versorgungsforschung kann definiert werden als ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert. (Pfaff 2003, S. 13)47
Ihr Gegenstand sei die „letzte Meile“ des Gesundheitssystems, darunter sei „die konkrete Kranken- und Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern, Arztpraxen und sonstigen Gesundheitseinrichtungen zu verstehen, in deren Rahmen die entscheidenden Versorgungsleistungen zusammen mit dem Patienten erbracht werden.“ (ebd., S. 13) f.) Mit Krankenversorgung ist „die Betreuung, Pflege, Diagnose, Behandlung und Nachsorge eines kranken Menschen durch medizinische und nicht-medizinische Anbieter von Gesundheitsleistungen“ gemeint, sie umfasst also sowohl die medizinische wie auch die psychosoziale Versorgung der Patienten (vgl. ebd., S. 14). Eine entscheidende Perspektive ist dabei deren Betrachtung unter Alltagsbedingungen.
Was genauer sind die Ziele? Es geht um eine lernende Versorgung:
Das Ziel der Versorgungsforschung ist, die Kranken- und Gesundheitsversorgung als ein System zu entwickeln, das durch das Leitbild der „lernenden Versorgung“ gekennzeichnet ist und das dazu beiträgt, Optimierungsprozesse zu fördern und Risiken zu vermindern. Dabei ist die Versorgungsforschung den Zielen Humanität, Qualität, Patienten- und Mitarbeiterorientierung sowie Wirtschaftlichkeit gleichermaßen verpflichtet. (Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer 2004)
Um das mögliche Optimum an Versorgungsqualität zu erreichen, brauche es „ergebnisoffene Versorgungsforschung mit relevanter Fragestellung und valider Methodik. Wir erkennen zunehmend, dass Versorgung multiprofessionell analysiert werden muss, wenn die ganze Komplexität und Kontextabhängigkeit der Interaktion von Arzt und Kranken aufgedeckt und für Verbesserungen zugänglich werden sollen.“ (Scriba 2011, S. V)
Versorgungsforschung ist also keine eigene Wissenschaft, sondern ein Forschungsfeld, das sich methodisch mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen bedient (vgl. Schrappe u. Pfaff 2011, S. 381). Vorrangig zu nennen seien hier „die Epidemiologie, insbesondere die Klinische Epidemiologie (Evidenz-basierte Medizin), Organisationswissenschaften/Soziologie, Didaktik, Lernpsychologie und Kommunikationsforschung, Gesundheitsökonomie, Public Health, Rechtswissenschaften, Ethik, Qualitäts- und Patientensicherheitsforschung, Lebensqualitätsforschung, Pflegeforschung und natürlich die Klinischen Fachgebiete“ mit ihren jeweiligen methodischen Herangehensweisen (ebd., S. 383 f.).48 Nur „durch die Beteiligung aller Fachdisziplinen (Multidisziplinarität)“ und „die Beteiligung aller in der Versorgung tätigen Berufsgruppen (Multiprofessionalität)“ könnten die vielfältigen Einflussfaktoren umfassend untersucht und verbessert werden (vgl. Pfaff u. Schrappe 2011, S. 5). Bedenkenswert ist dabei, dass das Ergebnis der Versorgungsleistung eine „Resultante der Gesundheitsleistung und der Kontextleistung“ sei, d. h. aus spezifischen und sogenannten unspezifischen Wirkfaktoren:
Unter Gesundheitsleistung versteht man den spezifischen Wirkbestandteil, wie z. B. die OP-Methode oder das Medikament. Die Kontextleistung umschreibt den Beitrag der „weiteren Umstände“, also der beteiligten Personen (Ärzte und Pflegende), der Institutionen (z. B. Krankenhaus), des Finanzierungssystems. Jeder Arzt kennt die Bedeutung dieser unspezifischen Faktoren, häufig wird hier der Begriff des „Placebo-Effekts“ verwendet. (Schrappe u. Pfaff 2011, S. 382)49
Versorgungsforschung versuche deshalb auch zu analysieren, welcher Art „die relevanten Kontextfaktoren sind.“ (ebd.)
Viele Autoren unterstreichen, dass solche empirische Forschung unabhängig sein müsse, also nicht auftrags- und interessengebunden sein dürfe (vgl. z. B. Rabe-Menssen et al. 2011, S. 403). „Wenn man Versorgungsforschung nicht im engen Interesse der eigenen politischen, Wirtschafts- oder Berufsgruppe betreibt und fördert, dann erhofft man sich von ihr verlässliche Orientierung – durch neutrale, sachliche und wissenschaftlich belastbare Beschreibungen, Bewertungen, Analysen, Prognosen und Ratschläge.“ (Raspe 2011, S. IX) Allerdings sei sie als angewandte Forschung im Konflikt, dass sie bei Forschungsprojekten mit der Versorgungspraxis und möglichen Interessengruppen eng zusammenarbeiten müsse (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 610). Das vom DNVF herausgegebene Memorandum III: Methoden für die Versorgungsforschung (Teil 1) rät deshalb: „In der Regel verfolgen alle Studien bestimmte Interessen. In jeder Untersuchung sind Interessenskonflikte von allen Beteiligten vollständig zu offenbaren und transparent zu dokumentieren.“ (Pfaff et al. 2009, S. 507)50
Ein zentrales Grundkonzept der Versorgungsforschung ist (neben Ergebnisorientierung, Multidisziplinarität und Multiprofessionalität) die Patientenorientierung (vgl. Pfaff u. Schrappe 2011, S. 2).51 „Bereits im Jahr 1988 hatte Ellwood in der »Shattuck Lecture« darauf hingewiesen, dass es nicht ausreicht, sich der Patientenorientierung des ärztlichen oder pflegerischen Tuns gegenseitig zu vergewissern, sondern dass konkret in Erfahrung zu bringen ist, welche Interessen der Patient hat und wie er in die Entscheidungen einzubeziehen ist“ (ebd., S. 6). Das hat Bedeutung auch für den Bereich Psychiatrie und Psychotherapie: Patienten haben etwas zu sagen – sowohl was ihre Person wie auch ihre Erfahrungen betrifft (vgl. oben S. 10) H. Schott und R. Tölle). Reinhold Kilian und Thomas Becker beobachten bei psychiatrischen Versorgungsleistungen entsprechend dem Empowerment-Konzept (vgl. Abschn. 3.2.5) eine zunehmende Berücksichtigung der subjektiven Perspektive der Betroffenen bei der Erfassung des Bedarfs und der Beurteilung der Qualität gesundheitlicher Leistungen, sowie das Streben nach einer primär an den Ressourcen der Patienten orientierten Behandlung (vgl. Kilian u. Becker 2006, S. 332). Die Evaluation von Versorgung müsse sich auch daran messen lassen:
Der Grad, in dem Gesundheitsleistungen an den vorhandenen individuellen Fähigkeiten und Ressourcen ihrer Nutzer zu einer selbständigen Lebensweise orientiert sind und in dem sie die Erweiterung dieser Fähigkeiten und Ressourcen anstreben und erreichen, bildet nach der Empowerment-Perspektive ein zentrales Kriterium der Qualitäts- und Effektivitätsbeurteilung (ebd., S. 334).
Die vorliegende Studie möchte deshalb zu erhellen versuchen, inwieweit für psychiatrische Patienten ihre Religiosität bzw. Spiritualität persönliche Ressourcen darstellen.
Welche Themen sind in Zukunft für die Versorgungsforschung besonders wichtig? Bei einem Workshop im November 2010 sprachen 36 namhafte Experten (aus den Gruppen Ärzteschaft, Förderer, Wissenschaft und Kostenträger) in vier Fokusgruppen über die Top-Zukunftsthemen (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 605). Zu den Top-5-Themen gezählt wurden in der Gruppe der Ärzteschaft unter anderem „Versorgung von chronisch Kranken, Multimorbidität, Versorgung psychisch Kranker“, in einer Fokusgruppe Wissenschaft u. a. „Patienten- und Nutzerperspektive“, in der Fokusgruppe Kostenträger u. a. „Patientenpräferenz Aktivierung/Autonomie“ (vgl. ebd., S. 607 f.). Auch im Plenum wurde hinsichtlich der Indikationen die Versorgung von chronisch Kranken, psychisch Kranken und multimorbiden Patienten als künftig besondere Herausforderung gesehen, dem Themenbereich „Patientenpräferenz“ räumten die Experten insgesamt große Bedeutung ein (vgl. ebd., S. 609). Es scheint, dass die vorliegende Studie sich gut in diesen Rahmen einfügt.
Die Bedeutsamkeit psychischer Störungen wird auch in aktuellen großen Studien zur Epidemiologie eindrucksvoll erkennbar. Im Rahmen einer nationalen Gesundheitsberichterstattung wurde der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS; Robert Koch-Institut) bereits während der ersten Erhebungswelle der Hauptuntersuchung (DEGS1) ein Modul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH) zur Seite gestellt (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 77). Diesem „liegt eine bevölkerungsrepräsentative Erwachsenenstichprobe (18–79 Jahre, n = 5317) zugrunde, die überwiegend persönlich mit ausführlichen klinischen Interviews (Composite International Diagnostic Interview; CIDI) untersucht wurde.“ (ebd., S. 79) Die 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen – d. h. das Auftreten von klinisch relevanten, krankheitswertigen Störungen in der Bevölkerung innerhalb eines Jahres – beträgt insgesamt 27,7% (vgl. ebd.). Die größten Störungsgruppen sind Angststörungen (15,3%), unipolare Depressionen (7,7%) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7%) (vgl. ebd., S. 81).52 Diese Ergebnisse liegen im Bereich international vergleichbarer Studien, z. B. im ECNP/EBC Report 2011 (Wittchen et al. 2011): Die 12-Monats-Prävalenz in dieser EU-Studie (bzw. EU-27 plus Schweiz, Norwegen und Island) ist trotz anderer Methodik53 bei Beschränkung auf die in der DEGS1-MH einbezogenen Diagnosen mit 27% nahezu identisch (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 83). Die Höhe der Prävalenz mag nicht nur Laien, sondern auch Fachleute erstaunen. Die Diagnosen beruhten aber auf voll erfüllten klinischen Kriterien (zumeist gemäß DSM-IIIR und DSM-IV), auch bezüglich Dauer und Schweregrad (vgl. Wittchen et al. 2011, S. 670). Die große Mehrheit erfahre keine Behandlung (vgl. ebd., S. 671). Das ist auch in Deutschland so: Nur ein geringer Teil dieser Betroffenen „berichtet, im letzten Jahr aufgrund psychischer Probleme in Kontakt mit dem Gesundheitssystem gestanden zu haben (11% derjenigen mit nur einer Diagnose, bis zu 40% der Betroffenen mit mindestens vier Diagnosen).“ (Jacobi et al. 2014, S. 84) Nach Wittchen et al. erfordert diese Datenlage dringend, die geltenden Versorgungsstandards im Bereich mentaler Gesundheit neu zu durchdenken (vgl. Wittchen et al. 2011, S. 670).
Chronische Krankheitsverläufe sind eine besondere Herausforderung für das Gesundheitswesen: „Chronisch kranke Patienten stellen heute sowohl bei niedergelassenen Ärzten als auch in Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen die häufigste Behandlungsgruppe dar“ (Bengel et al. 2003, S. 84). Das betrifft auch psychische Störungen, bei denen ein erheblicher Anteil einen chronischen Verlauf nimmt: „Knapp 60% der psychisch erkrankten Patienten weisen einen chronischen Krankheitsverlauf auf. Diese Patienten sind – gerechnet ab dem Zeitpunkt der ersten Inanspruchnahme von Psychotherapie – länger als zwei Jahre krank.“ (ebd., S. 86) Damit stellt sich auf verschärfte Weise die Frage, wie die Krankheitsbewältigung unterstützt und Ressourcen aktiviert werden können. Ob die Beachtung und Betrachtung einer religiösen/spirituellen Dimension dazu etwas beizutragen vermag?
1.8 Zum Vorgehen dieser Studie
Religiosität bzw. Spiritualität (im Sinne von Offenheit für Transzendenz, Sinn, das Ganze, Werthaltungen, ein transzendentes Gegenüber …) werden in dieser Studie als ernst zu nehmende und relevante Dimension von Menschen erkundet und in den Fokus gerückt – und zwar sowohl von der Anthropologie wie von der Empirie her. Dazu möchte die Studie theoretisch wie empirisch ein differenziertes Bild vorlegen,54 die eigenen Erkenntnisse in weitere Perspektiven und Diskussionen einordnen und psychiatrisch-psychotherapeutische wie seelsorgliche praktische Umsetzungen anregen.
Zunächst wird in Kap. 2 die anthropologische Frage erörtert, inwiefern eine religiöse bzw. spirituelle Dimension zum Menschen gehört oder zumindest eine beachtenswerte Möglichkeit des Menschseins darstellt – und was mit Religiosität bzw. Spiritualität überhaupt gemeint sein kann. Erschöpfend abzuhandeln ist dies hier freilich nicht, das Thema soll jedoch von verschiedenen Seiten her betrachtet werden: Zunächst allgemein mit philosophischen Gesichtspunkten, theologischen Stimmen, unter religionspsychologischen und -soziologischen Aspekten, sodann speziell im Feld von Gesundheit und Krankheit. Insbesondere das Konzept Spiritualität erfährt verschiedentlich Kritik, diese wird in Abschn. 2.6 und 2.7 eigens dargestellt und diskutiert.
Der richtige Umgang mit einer religiösen bzw. spirituellen Dimension in unserem Kontext wirft medizin- und berufsethische Fragen auf, diese werden in Kap. 3 thematisiert. Zunächst werden in Abschn. 3.1 einige allgemeine Überlegungen zur Medizinethik angestellt. Abschn. 3.2 untersucht, inwieweit verschiedene grundlegende Konzepte der Behandlung zumindest implizit eine Beachtung der religiösen / spirituellen Dimension beinhalten könnten. Offizielle Leitlinien (s. Abschn. 3.3) zeigen im internationalen Vergleich ganz erstaunliche und zum Nachdenken anregende Unterschiede. Abschn. 3.4 schließlich referiert Expertenaussagen zum Umgang mit Religiosität bzw. Spiritualität im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie.
Kapitel 4 legt den empirischen Forschungsstand zu unserem Thema dar. Zunächst werden größere quantitative Studien vorgestellt, welche die subjektive Bedeutung von Religiosität bzw. Spiritualität für stationäre Psychiatrie-Patienten sowie in angrenzenden Bereichen untersuchten, sowohl international (Abschn. 4.2) wie auch im deutschsprachigen Raum (Abschn. 4.3), um so unsere Freiburger Erhebung besser einordnen zu können. Der folgende Abschn. 4.4 beschreibt empirische Studien zu Zusammenhängen von Religiosität/Spiritualität und Gesundheit, speziell auch für einige besonders häufige und gravierende psychische Probleme (Depression, Schizophrenie, Suizidalität). Erklärungsmodelle und Theorien zu diesen Zusammenhängen finden sich in Abschn. 4.5. Psychopathologie kann selbst Auswirkungen auf die religiöse bzw. spirituelle Ebene haben, das beschreibt Abschn. 4.6. Kritische Stimmen zu diesem Forschungsfeld werden schließlich in Abschn. 4.7 vorgestellt und diskutiert.
Unsere eigene Patientenbefragung an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg im Breisgau wird in Kap. 5 dokumentiert. Der Darstellung der Methode (Abschn. 5.1) folgen die detaillierten Ergebnisse (Abschn. 5.2). Die Diskussion schließlich (Abschn. 5.3) fragt nach der Repräsentativität der Studie, einem Überblick und Querschnitt der erfragten Dimensionen, speziellen Gruppen und Erwartungen, dem Vergleich mit anderen klinischen Populationen und erörtert ausgewählte religiöse bzw. spirituelle Themen.
Kapitel 6 bedenkt mögliche Konsequenzen aus dem Vorausgegangenen für die Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen auch hinsichtlich ihrer religiösen bzw. spirituellen Dimension. Die Modelle Spiritual Care und Klinikseelsorge werden in Abschn. 6.1 diskutiert und in Beziehung gesetzt. In Abschn. 6.1.4 findet sich ein eigener Vorschlag zu einer Vorgehensweise in der stationären Psychiatrie und Psychotherapie. Praktische Handlungsorientierungen bzgl. Kompetenzen, Aus- und Weiterbildung, zu Möglichkeiten einer religiös-spirituellen Anamnese, zur Begleitung im Leiden und bei der Sinnfrage finden sich in Abschn. 6.2. Der im engeren Sinne theologische Ertrag wird in Abschn. 6.3 gesichtet, bevor in Abschn. 6.4 ein Gesamt-Fazit folgt.
4 Vgl. ausführlicher zu deren Position unten S. 56) in Abschn. 2.4.3.
5 Zur Terminologie: Religiosität wie auch Spiritualität beziehen sich hier auf die subjektive, persönliche Ebene. Zur Reichweite und Abgrenzung der Begriffe vgl. die ausführliche Darstellung und Diskussion in Kap. 2. Ein Handbuch der American Psychological Association zum Thema empfiehlt als Sprachregelung den kombinierten Gebrauch beider Begriffe unter anderem dann, wenn es um säkulare Kontexte geht, wie etwa Forschung zu religiösem/spirituellem Coping im Gesundheitsbereich (vgl. Pargament et al. 2013a, S. 17). – Simon Peng-Keller mahnt dabei hinsichtlich der erforderlichen Interdisziplinarität: „Dass die gleichen Termini in den verschiedenen Disziplinen eine unterschiedliche Bedeutung tragen (‚Spiritualität‘, ‚Glaube‘ etc.), ist in einem solchen interdisziplinären Diskurs ebenso zu beachten wie die perspektivischen Differenzen, die nicht nochmals in einer Metaperspektive überschaut werden können.“ (Peng-Keller 2010, S. 21)
6 Christian Henning betrachtet die Religionspsychologie innerhalb der akademischen Psychologie in Deutschland und Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als randständig. Er nimmt an, dass dies mit dem NS-Erbe zu tun habe: Nach einem beachtlichen Aufschwung der Psychologie im Dritten Reich habe nach dem zweiten Weltkrieg eine Neuorientierung und wissenschaftliche Aufholjagd stattgefunden, die in der akademischen Psychologie für religiöse Themen kaum Zeit gelassen habe, dabei sei das Interesse daran verloren gegangen (vgl. Henning 2003, S. 52–55). – Zu den historischen Hintergründen, warum Religionspsychologie in Deutschland nur marginal vertreten ist, vgl. ausführlicher Jacob A. v. Belzen (2009b).
7 Ralph L. Piedmont nennt als ersten Faktor, warum Spiritualität in der Wissenschaft wichtiger geworden sei, „the tremendous amount of high-quality, interdisciplinary, empirical research conducted on the topics of spirituality and religiousness. Researchers and clinicians in medicine, psychology, counseling, psychiatry, sociology, and nursing, among others, have all come to the same conclusion: Spirituality is an essential element that needs to be addressed in any comprehensive model of human functioning.“ (Piedmont 2013, S. 1)
8 Ähnlich auch Ulrich Eibach (vgl. 2011, S. 131) f.) oder Josef N. Neumann (2009, S. 114) f.).
9 So macht z. B. der Religionspsychologe Bernhard Grom deutlich, dass lebendiger Glaube seinen Hauptsinn in einer spirituellen Beziehung hat, während der gesundheitsgünstige Ressourcenaspekt nur ein begrenzter Nebeneffekt ist (vgl. Grom 2008, S. 128). Christlicher Glaube garantiert jedenfalls ausdrücklich einen unbedingten persönlichen Wert: „Der Mensch behält auch als Kranker, Behinderter und Sterbender seinen unbedingten Wert und seine Würde als Partner und Freund Gottes. Damit relativiert der Glaube jede Art von ‚Gesundheitsreligion‘, die den gesundheitlich Schwachen so leicht abwertet.“ (ebd., S. 125)
10 Belzen geht gleichwohl nicht davon aus, dass jeder Mensch spirituell sei im Sinne eines mehr oder weniger bewussten Bezugs zu Transzendenz (vgl. Belzen 2004, S. 305), 308).Vgl. zu seiner Sicht S. 43) in Abschn. 2.3.
11 Vgl. dazu mehr auf S. 82) in Abschn. 3.2.1.
12 Vgl. dazu ausführlicher S. 55).
13 Vgl. dazu auch Abschn. 3.2.3. – Eberhard Schockenhoff erinnert jedoch gegen eine voreilige Medizinkritik zurecht daran, dass viele Erfolge der Medizin durch eine Ausblendung des Ganzen möglich wurden und eine Konzentration auf das Problem oft hilfreich sei – und nicht zuletzt, es scheint fast trivial: „Auch die Bekämpfung von Krankheiten dient in erster Linie dem kranken Menschen selbst!“ (Schockenhoff 2001, S. 12)
14 Die WHO spricht in ihrer Bangkok Charta sogar von Gesundheitsförderung als auf einem Menschenrecht basierend, das auch „mental and spiritual well-being“ umfasse (!) (vgl. WHO 2005, S. 1) (vgl. unten Abschn. 2.4.1).
15 Im Sinne einer zuteilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva commutativa), wie sie bereits Aristoteles beschrieben hat (vgl. Ritschl 1991, S. 87).
16 Wie etwa das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich betont, z. B. in Gaudium et spes Nr. 36: „Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muß.“ Ähnlich in Apostolicam actuositatem Nr. 7.
17 Jürgen Werbick bringt es in seiner methodologischen Reflexion über Diakonia und Diakonik so auf den Punkt: „Die schöpferische Präsenz der Liebe würde sich selbst dementieren, wenn sie es nicht auf das Wohl der Nächsten wie der Fernsten, sondern auf Vereinnahmung abgesehen hätte.“ (Werbick 2015, S. 563)
18 Vgl. dazu etwa S. 19) in Abschn. 1.6 zur Interdisziplinarität.
19 Vgl. die komplementäre Definition von Stephanie Klein: „Gegenstand der Praktischen Theologie sind die Praxis der Christinnen und Christen und das Leben all jener Geschöpfe, die ihnen in besonderer Weise aufgetragen sind.“ (Klein 2015, S. 60)
20 Vgl. dazu auch die Konzepte Empowerment und Ressourcenbeachtung in Abschn. 3.2.5.
21 Ein ähnliches Anliegen vertreten Stella Reiter-Theil und Uwe Fahr im Lehrbuch Klinische Psychologie – Psychotherapie: „Schließlich, und hier liegt wahrscheinlich das größte Defizit der (Klinischen) Psychologie wie auch der Medizin, ist es an der Zeit, sich in der Forschung den ethischen Fragen zuzuwenden, die aus der Sicht von Klienten und Patienten vorrangig sind.“ (Reiter-Theil u. Fahr 2005, S. 102)
22 Zur Präzisierung: „Betroffenheit meint demnach die Verfaßtheit eines Menschen, im Erleben, Sich-Verhalten und Handeln in einer Situation von dieser Situation bestimmt zu sein.“ (Fuchs u. Haslinger 1999, S. 220)
23 Jürgen Werbick führt zur „Diakonik“ ergänzend aus: „Was von dieser Not jeweils an Solidarität erfordert wird und hilfreich werden kann, das erschließt sich nur einer Hermeneutik des Hilfreichen, in der auch den Betroffenen als Not-erfahrenen Hermeneuten des Hilfreichen eine Stimme gegeben wird, freilich auch die »Experten« zu Wort kommen müssen, deren wissenschaftlich reflektierte Praxiserfahrungen das bestmöglich Hilfreiche angesichts einschlägiger Sachlogiken […] empfehlen können.“ (Werbick 2015, S. 568)
24 Als Beispiele nennen Mette und Steinkamp: Option für das „Subjekt“, „Befreiung“, „Friede als Gerechtigkeit“ (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 171). Für uns vielleicht: „Person“, „Heilung“, „Leben“, „Gerechtigkeit“? Siehe auch die therapeutischen Interessen in Abschn. 1.2.
25 Vgl. die problembezogene Integration verschiedener Perspektiven in der Anthropologie (s. u. S. 19).
26 Vgl. zur Zusammenarbeit die Konzilsdokumente Apostolicam actuositatem Nr. 8 und Gaudium et spes Nr. 91.
27 Ähnlich warnt Klaus Kießling vor positivistischen Gefahren bei fehlender Hermeneutik und rät, „mit empirischer Forschung hermeneutisch-kritisch umzugehen, ohne sie verteufeln oder vergöttern zu müssen.“ (Kießling 2005, S. 126)
28 Jürgen Werbick verdeutlicht: Diese „sollten mit ihrer je eigenen Perspektive den Blick weiten für den je größeren Gott, der sich auch dort bezeugte, wo Theologie und lehramtliche Wahrnehmung nicht immer schon »Zuhause« sind: menschliche Vernunft, die Philosophien und die Geschichte.“ (Werbick 2010, S. 325) Er verweist hier auf Peter Hünermann und dessen Dogmatische Prinzipienlehre (Münster 2003). Dieser habe „die besondere theologische Bedeutung der Loci alieni für die Gegenwart hervorgehoben und den herkömmlich genannten weitere zur Seite gestellt (die Philosophien in der Mehrzahl, der Kosmos der Wissenschaften, die Kultur, die Gesellschaft, die Religionen)“ (ebd., S. 325) Fn. 18).
29 Vgl. für die Caritaswissenschaft analog auch Haslinger 2004, S. 147) f..
30 Bereits 2007 äußerte er den Verdacht von Voreingenommenheit oder gar dem Verwischen professioneller Identitäten: Ein „Plädoyer für mehr Aufmerksamkeit für Religion in der geistigen Gesundheitsfürsorge“ scheine „häufig von religiös begeisterten Therapeuten selbst herzurühren: Sie wollen sich offenbar gerne dieser Dimension zuwenden.“ (vgl. Belzen 2007, S. 72)
31 In einer vorausgegangenen Leserbrief-Diskussion war außerdem der Vorwurf geäußert worden, die Forschung zu Religiosität sei oft mit verborgenen Interessen geladen („research is almost invariably carried out by groups of researchers that have a vested interest in showing positive results for religiosity”) (vgl. Hansen u. Maguire 2010, S. 258) und dass in einer declaration of interest keine Konflikte angegeben worden seien („I thought it meant anything about us that might make us less of a ‘disinterested’ observer, researcher, etc.“) (vgl. Bruggen 2010, S. 259). Die Antwort der angegriffenen Autoren begrenzte sich auf Korrektheit darin, dass keine zu deklarierenden finanziellen Interessen bestünden hätten, wie es die Zeitschrift fordere (vgl. Cook et al. 2010, S. 259) – während sie hier noch nicht einzusehen schienen, dass eine persönliche Weltanschauung (oder gar religiöser Amtsträger zu sein) ein persönliches, mehr als wissenschaftliches Interesse – oder zumindest den Verdacht – begründen können. Später waren sie darin expliziter.
32 In ähnliche Richtung mit Frank-Gerald Pajonk zu positivistischen u. mechanistischen Paradigmen (Baumann u. Pajonk 2014). Zur Überwindung zu enger, reduktionistischer Ansätze bzgl. Religion und Psychiatrie vgl. ferner P. J. Verhagen (2012).
33 Hervorhebungen im Original. „Primary interests include promoting and protecting the integrity of research, the quality of medical education, and the welfare of patients. Secondary interests include not only financial interests […] but also other interests, such as the pursuit of professional advancement and recognition and the desire to do favors for friends, family, students, or colleagues.“ (Lo u. Field 2009, S. 6)
34 Tatsächlich finden sich jedoch erst in jüngeren Jahren und nur da und dort in psychologischen Artikeln und Büchern über Religiosität bzw. Spiritualität und Gesundheit ausführlichere Erklärungen zur eigenen religiösen Ausrichtung der Autoren/-innen (vgl. Utsch 2005, S. 13–16, 261–296 pasim; Waller et al. 2010, S. 104); Griffith 2010, S. 13–15; Mohr 2013, S. 262 f.; Cook u. Powell 2013, S. 386; Rosmarin et al. 2015, S. 1149).
35 Mitgliedschaften: Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg, VPP (Verband Psychologischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten) im BDP (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen), DFT (Deutsche Fachgesellschaft für Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie), IGGS (Internationale Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität).
36 Gerhard Vollmer meint: „Am besten gelingt Interdisziplinarität noch bei einer einzigen Person.“ (Vollmer 2010, S. 53) Auch J. A. van der Ven spricht von einem möglichen „interdisziplinären Dialog zwischen Theologie und Sozialwissenschaften in ein und derselben Person. Diese führt eine Art ‚dialogue intérieur‘, einen internen Dialog, wofür sie theologische und sozialwissenschaftliche Kompetenz benötigt.“ (Ven 1999, S. 272) Genauso wichtig ist mir aber auch der Austausch mit Kollegen/-innen und Psychiatriepersonal.
37 Er folgt dabei Heinz Heckhausen, Discipline and Interdisciplinarity, 1972, S. 87–89 (vgl. Jungert 2010, S. 4).
38 Unter Rückgriff auf Newell, William H. (2001): A theory of interdisciplinary studies. In: Issues in Integrative Studies 19 (1), S. 1–25, hier S. 21).
39 Vgl. das Konzept der konvergierenden Optionen bei Mette und Steinkamp (s. oben S. 10).
40 Zur Anerkennung der Autonomie irdischer Wirklichkeiten vgl. oben S. 7), insbes. Fn. 16 .
41 Thomas von Aquin, S. th. I 1,7 c: „Omnia autem pertractantur in sacra doctrina sub ratione Dei, vel quia sunt ipse Deus, vel quia habent ordinem ad Deum ut ad principium et finem.“ (zit. nach: Seckler 1988, S. 181 Fn. 1)
42 Dem entspricht in der Religionspsychologe die von Théodore Flournoy eingeführte These vom Ausschluss der Transzendenz: „Sie besagt, dass ein Religionspsychologe die Existenz eines selbständigen religiösen Objekts (Gott, Engel, Geister usw.) weder zu bestätigen noch infrage zu stellen habe, denn beides läge außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches. Stattdessen habe er von den religiösen Erfahrungen der Menschen auszugehen und sie genau und unvoreingenommen zu untersuchen.“ (Henning 2003, S. 17) Ebenso Matthias Richard: „Die Erforschung von Religiosität zielt dabei explizit nicht auf den Beleg angenommener transzendenter Wirklichkeit, sondern auf die empirische Untersuchung der Gedanken, Gefühle und Handlungsweisen, die Individuen mit dieser transzendenten Wirklichkeit verbinden.“ (Richard 2004, S. 131)
Das ist allerdings schon schwer genug! Richard Sloan beschreibt (unter Verweis auf den schönen Titel von M. S. Lederberg und G. Fitchett (1999): Can you measure a sunbeam with a ruler? In: Psycho-Oncology 8 (5), S. 375–377) sehr anschaulich die Schwierigkeit, menschliche Erfahrung wissenschaftlich zu erfassen: Der Versuch, religiöse Erfahrung zu quantifizieren, indem man z. B. die Häufigkeit des Kirchenbesuchs zähle, sei wie der Versuch, einen Sonnenstrahl mit einem Lineal zu messen: Dies mag möglich sein, aber der wesentliche Charakter der Erfahrung gehe in diesem Prozess verloren. Ähnlich sei der Versuch, die ästhetische Erfahrung des Hörens einer Beethoven-Symphonie zu quantifizieren, indem man zähle, wie oft der Hörer lächle, oder indem man im Gehirnscanner neuronale Aktivitätsmuster beim Hören von weißem Rauschen damit vergleiche. Würde das irgendetwas über die ästhetische Erfahrung sagen? (vgl. Sloan 2006, S. 253)
43 Die Hochschul-Empfehlungen des Wissenschaftsrats denken ähnlich (vgl. 2010, S. 57) f.).
44 Thomas Pröpper bringt es gut auf den Punkt: Die Theologie sollte „daran interessiert sein, die Humanwissenschaften unbelastet ihren Weg gehen zu lassen. Andererseits bedürfen aber auch sie der Kritik: immer dann nämlich, wenn sie ihr jeweiliges Paradigma und die mit ihm erzielten Resultate zum gültigen Menschenbild totalisieren. Erfahrungswissenschaftliche Paradigmen haben heuristischen Wert: sie machen spürsinnig und findig und lassen vieles entdecken – nur eines nicht (wir sahen es zur Genüge): den Menschen selbst, eben das, was wesentlich sein Menschsein bestimmt.“ (Pröpper 2011, S. 110) Ähnlich mahnte bereits Karl Rahner (1972, S. 98) f.).
45 Hinsichtlich der Kritik an „naturalistischen Fehlschlüssen“ meint Schoberth, dass mögliche normative Implikationen offen diskutiert werden müssten: „Weil jede nichttriviale Aussage über den Menschen normative Implikationen hat, ist die ausdrückliche ethische Debatte dabei unverzichtbar.“ (Schoberth 2006, S. 89)
46 „Das DNVF ist ein Zusammenschluss von klinischen und gesundheitswissenschaftlichen Fachgesellschaften, die gemeinsam das Ziel verfolgen, die an der Versorgungsforschung im Gesundheitswesen beteiligten Wissenschaftler zu vernetzen, Wissenschaft und Versorgungspraxis zusammenzuführen sowie die Versorgungsforschung insgesamt zu fördern.“ (Pfaff et al. 2009, S. 506) Auch die DGPPN gehört zu den Mitgliedsgesellschaften.
47 Eine weitere maßgebende Definition ist diese: „Versorgungsforschung ist die wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen. Zu diesem Zwecke studiert die Versorgungsforschung, wie Finanzierungssysteme, soziale und individuelle Faktoren, Organisationsstrukturen und -prozesse und Gesundheitstechnologien den Zugang zur Kranken- und Gesundheitsversorgung sowie deren Qualität und Kosten und letztendlich unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden beeinflussen. Die Beobachtungseinheiten umfassen Individuen, Familien, Populationen, Organisationen, Institutionen, Kommunen etc.“ (Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer 2004).
48 Versorgungsforschung hat normwissenschaftliche und evaluative Anteile, sie bewertet auch nach ethischen Vorgaben und Grundwerten (vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft 2010, S. 27), 29 f., 40); vgl. dazu unten Kap. 3.
49 Vgl. ausführlich unten Abschn. 4.5.3.
50 Vgl. dazu oben Abschn. 1.5.
51 Vgl. dazu unten Abschn. 3.2.
52 Zu beachten ist, dass natürlich oft auch Mehrfachdiagnosen vorkommen.
53 Multi-methodischer Ansatz: Systematische Literaturdurchsicht, Neuanalyse bestehender Datensätze und nationaler Surveys, sowie Expertenbefragungen (vgl. Wittchen et al. 2011, S. 656).
54 Eingedenk der Mahnung von K. I. Pargament: „In fact, there is, perhaps, only one thing to avoid: simple conclusions. Stereotypic views of religion, be they positive or negative, do not stand up to empirical scrutiny.“ (Pargament 2002b, S. 178)