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2 Anthropologische Aspekte: Inwiefern gehört eine religiöse bzw. spirituelle Dimension zum Menschen?

Gehört eine solche Dimension zum „Wesen“ des Menschen, ist sie konstitutiv für das Menschsein? Oder ist sie zumindest möglich – und gegebenenfalls auch eine relevante und ernst zu nehmende Dimension? Ein völliger Konsens der unterschiedlichen Menschenbilder und Anthropologien wird sich nicht herstellen lassen.55 Anthropologische Reflexion stößt angesichts der Komplexität ihres „Gegenstandes“ Mensch an Grenzen, die keine alles übergreifende Meta-Synthese erlauben.56

Anschaulich wird das z. B. in der langen Liste von „Wesensbestimmungen“ des Menschen, die der Philosoph Gerhard Arlt zusammengestellt hat, ebenso beeindruckend seine Aufzählung von Namen einzelner Anthropologien: Es gibt mehr davon, „als Wörter auf eine Druckseite gehen.“ (vgl. Arlt 2001, S. 5) f.) Berühmt ist das Diktum von Karl Rahner zur Frage „Was ist der Mensch?“: „Ich meine: der Mensch ist die Frage, auf die es keine Antwort gibt.“ (Aus: Wagnis des Christen; zit. nach Rahner 1979, S. 23)57 Und doch ist die Frage wichtig, was zum Mensch-sein gehört – oder gehören kann.

In ihrer Einleitung zum Handbuch Anthropologie betonen Eike Bohlken und Christian Thies, man könne nur bedingt von einem Wesen des Menschen sprechen:

Der Begriff eines „Wesens“ darf allerdings nicht mehr „essenzialistisch“ als Substanz aufgefasst werden, sondern ist lediglich im Sinne einer inhaltsoffenen Strukturformel zu denken; er muss als dynamisch konzipiert werden, denn seine inhaltliche Füllung bleibt notwendig geschichtlich unabgeschlossen und damit Gegenstand fortwährender Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen, Epochen und Disziplinen. (Bohlken u. Thies 2009, S. 4)58

Klaus Hock, Professor für Religionsgeschichte an der Universität Rostock, beobachtet in der Philosophie und Theologie bisweilen apologetische Bemühungen, „in der Religiosität eine in der menschlichen Natur mitgegebene Größe jenseits aller konkreten Ausdrucksformen von Religion zu finden.“ (vgl. Hock 2009, S. 399 f.) Auch religionssoziologische wie -psychologische Untersuchungen könnten keine abschließende Antwort auf die fundamentale Frage geben, ob wir es bei Religiosität mit einer „anthropologischen Grundkonstante“ zu tun haben, „die substanziell zum Wesen des Menschen gehört“, oder eher mit einem „Akzidens, dessen Vorhandensein (oder Fehlen) durch ein Ensemble unterschiedlichster Faktoren zustandekommt“, also nicht essenzialistisch in der Grundstruktur des Menschen angelegt sei (ebd., S. 402).

Eine für alle überzeugende Antwort, inwieweit eine religiöse bzw. spirituelle Dimension zum Menschen gehöre, wird sich auch hier nicht darstellen lassen. Versucht werden soll aber ein Mosaik namhafter Stimmen (v. a. des 20. und 21. Jh.s) aus unterschiedlichen Fächern, die dieses komplexe Phänomen aus verschiedenen Richtungen beleuchten und so seine Relevanz und Vielfalt aufscheinen lassen. Denn selbst „eine“ religiös-spirituelle Dimension wäre keine eindimensionale Erscheinung.

2.1 Philosophische Gesichtspunkte

Vor der philosophischen Reflexion steht die Wahrnehmung, oft auch erst das Staunen, wie Aristoteles bemerkte. In der Vielfalt religiöser Phänomene versuchen die Religionswissenschaften, ordnende Kategorien zu finden. Eine sehr einflussreiche, auch religionspsychologisch brauchbare Definition von Religion hat 1966 der Ethnologe Clifford Geertz vorgelegt:

Eine Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen. (Geertz 1983, S. 48)59

Ein Symbolsystem hat mit der Deutung von Wirklichkeit zu tun, was auch für den Religionsphänomenologen Jacques Waardenburg zentral ist. Er zählt als die drei wesentlichen Merkmale von Religion auf: „religiös gedeutete Wirklichkeiten“, „religiös gedeutete Erfahrungen“ und „religiös gedeutete Normen“ (vgl. Waardenburg 1986, S. 18–23). Das könnte tautologisch klingen oder wie eine bloße Explikation des Begriffs Religion, verdeutlicht aber den – philosophisch wie theologisch sinnvollen – Ansatz, dass Religion und ihr intendiertes Gegenüber (wie etwa Gott selbst) nicht direkt greifbar sind, sondern eine Deutung des Gegebenen verlangen.

Der Philosoph Bernhard Irrgang vermerkt beim Eintrag „Mensch“ im Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie: „Als grundlegende Wesenszüge des M.en gelten seine Vernunft und seine Freiheit, seine Sprachfähigkeit, seine Moralität, seine Sozialität, sein Selbst- und Todesbewusstsein, aber auch der aufrechte Gang, Kultur, Technik, seine Weltoffenheit und sein Transzendenzbezug bzw. seine Religiosität.“ (Irrgang 2007, S. 263)

Ähnlich hält Holger Zaborowski im Neuen Handbuch philosophischer Grundbegriffe fest, Religion sei ein

Grundvollzug oder -phänomen des Menschseins. Religion ist ein Phänomen, das sich empirisch seit den Anfängen der Menschheit nachweisen lässt […] Der Mensch verfügt nicht nur über Vernunft, Selbstbewusstsein oder Sprache; es ist für ihn auch charakteristisch, ein religiöses Wesen zu sein. In diesem Zusammenhang wird seit der Zeit der Kirchenväter von der anima naturaliter religiosa des Menschen gesprochen. (Zaborowski 2011, S. 1892)

Freilich ist dies eine offene, freie Möglichkeit für den einzelnen Menschen: „Religion (im Sinne von Religiosität) ist keine naturwüchsige Tatsache, sondern eine natürliche Möglichkeit des Menschseins, die es in Freiheit anzueignen und kulturell zu bestimmen gilt.“ (ebd., S. 1893)60

Eine schöne Beschreibung grundlegender religiöser Erfahrung gibt ein Beitrag von Rüdiger Safranski:

Ich habe also weniger eine bestimmte Religion als System oder gar als Institution meinen Überlegungen zugrunde gelegt, sondern eine religiöse Erfahrung zu skizzieren versucht, die ich zusammenfassend so charakterisieren kann: es handelt sich dabei um jene Erfahrung, die im Leben und im Sein insgesamt ein letztlich unauflösbares Geheimnis und einen unerschöpflichen Reichtum sieht – und die von diesem Umgreifenden angerührt ist. Diese Erfahrung gibt es in unterschiedlichen Graden von Intensität. (Safranski 2002, S. 19) f.)

Auch er sieht sie als eine Möglichkeit: „Religiöse Erfahrung in diesem Sinne ist nicht etwas, woran man glauben müßte. Es gibt sie mit aller nötigen Selbstevidenz. Nur – nicht jeder macht sie.“ (ebd., S. 20) Sie ist grundgelegt im menschlichen Bewusstsein und damit in der Fähigkeit zur Transzendenz:

Der Mensch ist ein Wesen, das transzendieren, das heißt: über sich hinausgehen kann; […] Für dieses transzendierende Vermögen gibt es unendlich viele Formulierungen; die vielleicht schönste haben Goethe und Schelling gefunden, als sie erklärten: Der Mensch ist Natur; aber im Menschen schlägt die Natur ihre Augen auf und bemerkt, daß sie da ist. Im Menschen ist die Natur gesteigert zur Selbstsichtbarkeit und damit zur Selbsttranszendenz. Daraus erwächst das große Staunen darüber, daß es das Sein gibt und nicht das Nichts. (ebd., S. 25)

Das bleibt kein nur individuelles Phänomen, sondern bekommt gemeinschaftliche Gestalt: „Aus diesem Spielraum des Transzendierens sind auch die Religionen erwachsen. Sie sind Versuche, der Transzendenz, auf die hin wir transzendieren können, ein bestimmtes Gesicht zu geben.“ (ebd., S. 26)

Der Freiburger Religionsphilosoph Bernhard Welte hat auf seine ganz eigene phänomenologische Art menschliche Bedingtheit, Freiheit und Transzendenz aufgewiesen. Zu allem Gegebenen könne der Mensch sich verhalten und Stellung nehmen, da sei ein „ich selbst“, ein innerster Punkt, der nie Objekt werden könne (vgl. Welte 1969, S. 50–56). Alles menschliche Sich-Verhalten habe ein „Worumwillen“, ein im weitesten Sinne sinngebendes Element, das alles umfassend und auch alles überschreitend sei: Für den Menschen gebe es – anders als für Tiere – keine begrenzte Welt als einen „begrenzten Spielraum seines Verhaltens“, sondern für „ihn ist die alles umfassende und alles übersteigende Transzendenz eröffnet.“ (vgl. ebd., S. 61) f.) Daraus folgert er: Ist der Mensch

einerseits ein einzelnes und begrenztes Naturwesen, so ist er andererseits alle Natur umfassend und übergreifend und darum auch aller Natur gegenüber. Verlängern wir an diesem Punkte unsere Betrachtungen um ein Weniges, dann können wir es wagen zu sagen: Der Mensch ist in der Transzendenz seines Umwillen immer schon ausgerichtet auf das Allumfassende, Unbegrenzte und Unbedingte und von diesem beansprucht. Im Hinblick auf diesen Zusammenhang kamen ältere Denker nicht ohne Grund auf den Gedanken, das Allumfassende, Unbegrenzte und Unbedingte, das den Menschen in seiner Freiheit immer schon beansprucht, sei das, was in der Sprache der Religion Gott genannt wird, und der Mensch sei also im Grunde oder in der Spitze seines Wesens von Gott beansprucht oder von Gott angerührt oder Gott berührend. (ebd., S. 87)

Der Mensch habe im Ganzen eine Stellung des „Zwischen“: „zwischen Natur und dem, was mehr ist als Natur“ – in der neuplatonischen Tradition wurde deshalb das Menschenwesen auch „Wesen der Grenze“ genannt (vgl. ebd., S. 88) f.).61

Für Welte grundlegend ist auch die elementare Verbindung von Hoffnung und Sinn im menschlichen Dasein:

Tatsächlich tun wir alles, was wir tun, und wir können es nur tun, insofern wir dabei von dem – zumeist unausdrücklichen – Gedanken geleitet sind: Es wird schon Sinn haben, oder es wird schon für etwas gut sein, oder es wird mich schon zu einem erstrebten Ziel hinführen, d. h. aber, wir tun alles aus Hoffnung. Damit hängt auch die Sinnfrage zusammen, die neuerdings so viel und mit Recht erörtert wird. Hoffend fragen wir nach dem Sinn. Diese Frage ist uns niemals gleichgültig. (Welte 1982, S. 230)

Die fundamentale Hoffnung und Voraussetzung von Sinn zu erhalten oder zu stärken sei lebenswichtig:

Man kann es immer und immer wieder beobachten, daß die Kraft und der Mut überhaupt zu leben in sich zusammenfallen, wenn die Hoffnung auf ein sinnvolles Leben erlischt. Daher kann man sagen, die Hoffnung und die mit ihr verbundene Sinnvoraussetzung ist die Bedingung der Möglichkeit lebendigen menschlichen Daseins. Und als Bedingung der Möglichkeit ist sie dann auch die Triebfeder, die alle Formen unseres Daseins in Gang setzt. (ebd.)

Zumindest kurz anzureißen wäre hier die transzendentalphilosophische Anthropologie von Karl Rahner (hier mit Albert Raffelt), die – ähnlich wie B. Welte – den Menschen als „Wesen der Transzendenz“ wahrnimmt.62 Er geht von der Subjekterfahrung aus:

Personsein bedeutet so Selbstbesitz eines Subjekts als solchen in einem wissenden und freien Bezogensein auf das Ganze. […] Selbst dort noch, wo der Mensch sich restlos als das Fremdbedingte von sich abwälzen und so sich wegerklären würde, ist er es, der dies tut und weiß und will, umgreift er die Summe möglicher Elemente einer solchen Erklärung und erweist er sich so als derjenige, der ein anderes ist als das nachträgliche Produkt solcher Einzelmomente. (Rahner u. Raffelt 1981, S. 16)

Und eben in dieser „Selbsterfahrung des Menschen als Person und Subjekt geht auf, daß er das Wesen der Transzendenz ist“ (ebd., S. 17). In aller Regel ist diese Erfahrung „unthematisch“ mitgegeben:

Es ist zu betonen, daß die hier gemeinte Transzendenz nicht den thematisch vorgestellten „Begriff“ der Transzendenz, in dem diese gegenständlich reflektiert wird, meint, sondern jene apriorische Eröffnetheit des Subjekts auf das Sein überhaupt, die gerade dann gegeben ist, wenn der Mensch sich als sorgend und besorgend, fürchtend und hoffend der Vielfalt seiner Alltagswelt ausgesetzt erfährt. (ebd., S. 19)

Als transzendentaler Horizont ist das Ganze der Wirklichkeit anwesend und darum kann Rahner sagen: „der Mensch ist und bleibt das Wesen der Transzendenz, dem sich die unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zuschickt. Dadurch wird er zur reinen Offenheit für dieses Geheimnis gemacht und gerade so als Person und Subjekt vor sich selbst gebracht.“ (ebd.)63 Dem „Wovonher und Woraufhin unserer Transzendenz“ einen „Namen“ zu geben sei schwierig. Rahner schlägt vor, es – nicht vergegenständlichend! – als „heiliges Geheimnis“ zu bezeichnen (vgl. ebd., S. 22–24).64

Der Philosoph Karl Baier hat sich mehrfach und eingehend zur anthropologischen Dimension Spiritualität geäußert. Zur generellen Begriffsklärung schlägt er zunächst eine hilfreiche Unterscheidung vor. Es seien „drei Konzepte zu unterscheiden: Spiritualität 1: Spiritualität als soziokultureller Bereich in der heutigen Gesellschaft – Spiritualität 2: die konkrete Ausprägung von Spiritualität in diversen Wegkulturen – Spiritualität 3: Spiritualität als menschliche Grundmöglichkeit“ (Baier 2012, S. 25). Im Sinne von Spiritualität 3

zeichnen sich Umrisse eines anthropologischen Begriffs von Spiritualität ab, der dem Sinn dieses Terminus im Sprachgebrauch der gegenwärtigen Weltgesellschaft in etwa entsprechen dürfte und ihn auf seine Gründe hin durchleuchtet. Spiritualität lässt sich demnach noch einmal zusammenfassend bestimmen als (mitunter krisenhaft zugespitztes) Suchen und Erfahren eines unbedingt Angehenden sowie die persönliche Transformation, das Existenzgefühl und die Lebensgestaltung im Raum dieses letzten Worumwillens, der für die personale Identität konstitutiv ist. (Baier 2006, S. 41)65

Diese „letzten Gründe“ sind nicht ohne weiteres fassbar, „das Nennen-Können letzter Gründe und das tatsächliche In-Anspruch-Genommen-Sein durch sie sind zwei Paar Stiefel. Die das Leben leitenden, aus dem Verständnis der Grundsituation hervorgehenden Letztorientierungen liegen meist zu einem großen Teil im Dunkel und können deshalb nicht einfach genannt werden.“ (Baier 2012, S. 28)

Der Religionsphilosoph und Theologe Ingolf U. Dalferth nimmt ernst, dass nicht alle Menschen religiös sind: „Menschen sind nicht wesentlich religiös, also in allen Situationen, in denen sie leben und leben können, sondern gelegentlich leben sie unter Bedingungen, die sie religiös zu sein nötigen oder ihnen religiös zu leben erlauben.“ (Dalferth 1997, S. 197) Die Freiheit bleibt: „Wir sind […] nicht von Natur aus zur Religion genötigt, sondern können sie sehr wohl vermeiden, und wir sind von Natur aus auch nicht zur Verehrung Gottes genötigt“ (ebd., S. 199). Er stellt zwar auch das „anthropologische Argument“ vor, Religiosität sei nicht vermeidbar:

Religion, nicht aber Religiosität ist vermeidbar. Gegenüber allen Versuchen, Religion für eine durchaus vermeidbare oder nur unter bestimmten historischen Bedingungen realisierbare Möglichkeit des Menschen zu halten, wird immer wieder bestritten, dass es menschliches Leben ohne religiöse Bindung bzw. ethisch-religiöse Grundorientierungen geben könne. Für Menschen gibt es stets etwas, an das sie ihr Herz hängen, von dem sie sich alles Gute erhoffen, auf das sie im Letzten setzen (ebd., S. 203).

Allerdings werde so in der Moderne „der Begriff der Religiosität auf die Gesamtheit ethischer Grund- und Wirklichkeitsüberzeugungen ausgedehnt (ohne die niemand leben und handeln kann). […] Anders als Religion wird Religiosität damit zwar unvermeidbar, aber auch nicht mehr als religiöses, sondern nur noch als ethisch-weltanschauliches Phänomen identifizierbar.“ (ebd., S. 204 f.) Dieser sehr weite Begriff von Religiosität hat offenbar Parallelen mit dem oben angeführten weiten Begriff von Spiritualität.

2.2 Theologische Stimmen

Mit dem 2018 verstorbenen Kardinal Karl Lehmann (2008) soll als erstes eine besonders prominente und fundierte Stimme zu Wort kommen. Er sieht – aus mehreren Gründen – überraschenderweise nicht ein christliches Menschenbild, beschreibt aber eine gemeinsame Struktur und Grundlinien. Zentral ist ihm die Geschichtlichkeit des Verständnisses:

Jedes theologische Menschenbild ist bis in seine innersten Aussagen hinein geschichtlich bestimmt, weil es in Rezeption und Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Selbstverständnis des Menschen entsteht und stehen muss. Durch den Wandel und die geschichtliche Ausprägung des „Wesens“ gibt es immer auch Randunschärfen, wenn man nach einer gleich bleibenden „Natur“ sucht. (ebd., S. 123)66

Im Christentum werde kein Menschenbild absolut gesetzt, es lasse verschiedene konkrete Humanismen in sich zu:

Die Treue zum Evangelium Jesu Christi und zur Lehre der Kirche verlangt nicht das ungeschichtliche Festhalten an abstrakten Menschenbildern. Die Nachfolge Christi und die Sendung in eine bestimmte Situation hinein zerbrechen alle jene Menschenbilder (auch theologischer Art), die nur einen vorausfabrizierten „idealen Menschen“ als typische Norm gelten lassen. (ebd., S. 124)

Und darum ausdrücklich, in der menschlichen Freiheit begründet: „ Gerade weil der Glaube auch die Freiheit des Menschen zu ihrer eigenen Dynamik entbindet, gibt es kein – zahlenmäßig – einziges konkretes theologisches Menschenbild. Es gibt deren unendlich viele, was nicht heißt, es gäbe keine gemeinsame Struktur.“ (ebd., S. 125) Lehmann beschreibt dann drei Grundlinien einer christlichen Auffassung vom Menschen und seiner Würde: Transzendenz, Ganzheit und Universalität.

Man kann und darf nicht leugnen, dass der Mensch – wegen des Überschreitenkönnens der Faktizität – sinnvoll über sich und das empirisch Vorfindliche hinausfragt. Der Christ ist überzeugt, dass der Mensch dabei nicht nur auf sich selbst zurückfallen wird. Er ist ein Wesen der Transzendenz. Damit ist auch begründet, warum der Mensch ein Wesen der Freiheit ist, dem deswegen Personwürde, Eigenwert und Menschenrechte zukommen. (ebd.)

Der Mensch ist zwar ein vielschichtiges und plurales Wesen, dennoch ist er substantiell einer, also nicht bloß ein Bündel verschiedener Aggregate. Wo er in dieser Pluralität (zum Beispiel Leib – Seele, Sinnlichkeit – Geistigkeit, Tradition – Innovation) falsch vereinfacht und reduziert wird, nimmt man ihm seine wesentliche Ganzheit. (ebd., S. 125) f.)

Wegen der Gemeinsamkeit der menschlichen Natur […] ist die Universalität des Menschseins unbedingt zu respektieren. Es gibt keine Minderung des Menschseins durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Klasse, Nation, Partei oder Religion. Implizit ist damit auch ein Minimum menschlicher Solidarität und Geschwisterlichkeit/Brüderlichkeit gegeben. (ebd., S. 126)

In unserem Kontext darf man ausdrücklich sagen: Diese Grundlinien gelten auch für (psychisch) kranke Menschen.

Der ev. Theologe Wolfhart Pannenberg hat sich umfangreich zur Anthropologie geäußert. Er betrachtet Religion als konstitutiv für das Menschsein des Menschen (vgl. Pannenberg 1988, S. 170) f.) und versucht, das aus anthropologischen Beobachtungen aufzuweisen:

Als Indiz dafür, daß Religion in der einen oder anderen Form konstitutiv für das Menschsein des Menschen ist, darf ihre allgemeine Verbreitung von den frühesten Anfängen der Menschheit gelten […] Die faktisch allgemeine Verbreitung korrespondiert der als Weltoffenheit, Exzentrizität oder Selbsttranszendenz beschriebene Eigenart der Struktur menschlichen Verhaltens. Diese findet ihre lebensgeschichtliche Konkretion im Leben der Individuen in der Relevanz des sog. Urvertrauens für den Prozeß der Persönlichkeitsbildung, für die Konstitution der Ichidentität. Im Hinblick darauf kann von einer „Anlage“ des Menschen zur Religion gesprochen werden, die unabtrennbar ist von seiner Humanität. (ebd., S. 171) f.)

Thomas Pröpper schlägt vor, Pannenbergs Überlegungen als Relevanzaufweis des christlichen Glaubens zu sehen, und weniger als zwingenden Beweis (vgl. Pröpper 2011, S. 435).67 Wolfgang Schoberth meint ebenfalls skeptisch, Pannenbergs Anspruch, die wissenschaftliche Anthropologie theologisch zu integrieren und damit zu überbieten, werde nicht eingelöst und sei angesichts der Heterogenität wohl auch nicht möglich (vgl. Schoberth 2006, S. 102).

Aus den biblischen Aussagen zum Menschen als „Ebenbild Gottes“ ergibt sich für Pannenberg die Grundaussage: „Grundlegend für die Personalität jedes einzelnen Menschen ist seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott. Daß dies die Bestimmung jedes Menschen schon als Geschöpf Gottes ist, ergibt sich allerdings mit letzter Klarheit erst aus der Christusbotschaft des Neuen Testaments“ (Pannenberg 1991, S. 232) Hier kann Pröpper in ökumenischer Einmütigkeit zustimmen, dass der theologische Kern der Gottebenbildlichkeitsaussage die Bestimmung des Menschen zur Gottesgemeinschaft sei (vgl. Pröpper 2011, S. 320). Und er findet die schöne Formulierung: „insofern ist er primär nicht Fragender, sondern selber Gefragter: Gottes Zuwendung qualifiziert ihn unausweichlich zu einem antwortenden Wesen. Der Mensch existiert vor Gott (coram Deo) und als Antwort auf Gottes anrufendes Wort. Das ist die Grundauskunft biblischer Anthropologie.“ (ebd., S. 61)68 Philosophisch bzw. fundamentaltheologisch möchte er „die wesentliche Ansprechbarkeit des Menschen für Gott“ so denken, dass sie die Freiheit von menschlicher wie göttlicher Seite achtet (vgl. ebd., S. 321), 492). Er schlägt philosophisch ein „transzendentales Verfahren“ vor, „das auf der Basis der freien Vernunft die dem Menschen wesentliche Frage nach Gott eruiert“, was im Ergebnis zwar bescheidener als Pannenbergs Anliegen wäre, „in seinem philosophischen Status jedoch kaum anfechtbar und im übrigen für die philosophischen Interessen der Theologie auch durchaus genügend.“ (vgl. ebd., S. 436)

Der ökumenische Theologe Otto Hermann Pesch fand die prägnante Kurzformel: „Der Mensch ist Schwester und Bruder Jesu Christi.“ (Pesch 2008, S. 3)69 Auch er betont die Freiheit des Menschen sowie die Möglichkeit, sich religiös zu öffnen:

Die Erschaffung des Menschen – der Menschheit – ist identisch mit der Erschaffung der menschlichen Freiheit und ihrer Fähigkeit, die religiöse Frage zu stellen. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Erschaffung des Menschen ist identisch mit der Erschaffung der Fähigkeit zu glauben – nicht weniger! Im buchstäblichen Sinn des Wortes: Gott ist die Freiheit des Menschen. (ebd., S. 235)70

Jürgen Werbick (2005) fragt unter der Leitmetapher „Würdigung“ fundamentaltheologisch nach der Glaubwürdigkeit christlichen Glaubens. Er unterstreicht zunächst im Blick auf Religion allgemein, dass diese nicht nur funktional (für Friede, Freude, Trost, Kontingenzbewältigung etc.) nützlich sein wolle: „Religion – und christlicher Glaube – wehren sich gegen diese Relativierung zum bloß Bedingten, weil in ihnen das um seiner selbst willen Bedeutsame wahrgenommen und gewürdigt wird, weil sie in diesem Sinn erlebt und vollzogen werden als »das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht«.“ (ebd., S. 68) f.) Mehr als „nützlich“, und doch dem Mensch entsprechend:

Das »unbedingt Angehende« will nicht nur gewürdigt werden im Blick auf seine Nützlichkeit, so sehr es unendlich bedeutsam sein wird für das Menschlichwerden des Menschen. Wenn das Ergriffensein von ihm sich als für die Menschlichkeit des Menschen nützlich herausstellen sollte, so ließe sich fundamentaltheologisch zumindest der religionskritischen Invektive begegnen, es sabotierte wahres Menschsein. (ebd., S. 69)71

Dafür konstruiert der Mensch nicht einfach etwas, sondern steht vor einem Anspruch, der ihn um Würdigung bittet: „Wahrheit ist nicht wählbar; sie ist nicht bloßes Angebot, sondern der Anspruch, ihr gerecht zu werden.“ (ebd., S. 647) Dafür braucht es einen kritischen Geist, sogar eine angemessene und selbstkritische „Hermeneutik des Verdachts“:

Die Hermeneutik des Sinnes – der Zeugnisse – ist auf den Verdacht geradezu angewiesen. Ohne auf ihn zu hören bliebe sie in der fundamentalistischen Naivität gefangen, die nicht mehr unterscheiden will, was in den Zeugnistexten und Zeugnisfiguren Gottes Botschaft bezeugt und was die menschlich-allzumenschliche Befangenheit in Zwängen und Abhängigkeiten verrät. (ebd., S. 652)

Ein weiter Begriff von Spiritualität (wie etwa bei Baier „Spiritualität 3“, vgl. S. 36) wird auch von Theologen beschrieben. Josef Weismayer gesteht zu, dass eine allgemeine Definition schwierig sei: „Letztlich liegt wohl die Schwierigkeit, Spiritualität zu umschreiben oder zu definieren, gerade darin, dass damit eine das ganze Menschsein umfassende, die Tiefe der Existenz berührende Dimension angesprochen ist, die nicht in einen Satz zusammengefasst werden kann.“ (Weismayer 2004, S. 189) Mit dem Symbol der „Mitte“ schlägt er einen anschaulichen Versuch vor:

Könnte man »Spiritualität« in einem sehr allgemeinen Sinn nicht als Suche des Menschen nach seiner Mitte verstehen – und damit auch als das Bemühen um das Leben aus der Mitte der Existenz? Die Suche der Mitte und der Versuch des Lebens aus der Mitte artikuliert und verleiblicht sich notwendig in konkreten Vollzügen, die man als »spirituell« bezeichnen kann, die aber für sich allein nicht die Spiritualität ausmachen. (ebd.)

Rationalität und Kritikoffenheit sind für ihn wesentlich: „Christliche Spiritualität rechnet mit der Möglichkeit einer Fehleinschätzung. Nicht alles, was »spirituell« und fromm erscheint, verdient dieses Prädikat. Christliche Spiritualität muss bereit sein, sich mit einer kritischen Sonde untersuchen zu lassen, kritische Rationalität ist kein Gegensatz zu Spiritualität.“ (ebd., S. 192)

Für Leo Karrer ist Spiritualität Umgang mit der und Beziehung zur Wirklichkeit:

Anthropologisch ist mit Spiritualität jene Gesinnung oder die prozesshaft zu erwerbende Haltung gemeint, mit der sich Menschen der Wirklichkeit stellen, sie erleiden, ertragen oder gestalten. Es geht darum, den eigenen Lebensprozess als Beziehung zu gestalten, die das Verhalten zu sich selber, zur Mitwelt (Mit-Menschen) und zur gesellschaftlichen und kosmischen Umwelt trägt und prägt. (Karrer 2006, S. 385)

Christliche Spiritualität ist ein gläubiger Umgang mit der Wirklichkeit:

Im christlichen Sinn kann man Spiritualität als religiöse Gesinnung aus der Inspiration des jüdisch-christlichen Glaubens verstehen, in der sich Menschen zur Wirklichkeit verhalten. […] Christliche Spiritualität bedeutet, ein gestaltendes Verhältnis zu sich selber, zu den Mitmenschen und zur Umwelt zu suchen und zu wagen sowie in alledem zum Gott Jesu. (ebd.)

Spiritualität ist nicht abgehoben oder weltfern, sondern sie „zeigt vielmehr im ganz gewöhnlichen Humus des Alltags, wovon sich die Seele nährt. […] Spiritualität ist so nicht einfach mit Weltanschauung zu verwechseln.“ (ebd.)

Der geistliche Autor Willi Lambert gibt eine prägnante Umschreibung von Spiritualität im weiten Sinne:

Jeder Mensch ist spirituell. Das Wort »Spiritualität« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Atem – Wind – Geist. Spiritualität ist die Lebendigkeit des Menschen. Spiritualität ist die Antwort auf die Fragen: Wozu, wodurch und wie lebt ein Mensch? Spiritualität ist, wie jemand lebt; sie ist die Weise, wie das Lebensziel sich im Lebensstil ausdrückt. (Lambert 2004, S. 19) f.)

2.3 Religionspsychologische Aspekte

Der Religionspsychologe und Philosoph William James lieferte bereits 1902 klassische psychologische Beschreibungen von Religiosität, die z. T. ähnlich weit wie ein weiter Spiritualitätsbegriff sind:

Was also in diesem primären, umfassendsten und tiefsten Sinne wahr ist, könnte man als gottähnlich betrachten, und die Haltung eines Menschen gegenüber dem, was er als die höchste Wahrheit empfindet, könnte man entsprechend als seine Religion identifizieren. Eine solche Definition ließe sich durchaus verteidigen. Religion ist, was immer sie noch sein mag, die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben. Warum sollte man daher nicht sagen, daß jede Gesamtreaktion auf das Leben eine Religion ist? (James 1902, S. 67)

Er hielte jedoch einen derart weit gefassten Begriff für unzweckmäßig und den alltäglichen Sprachgebrauch überstrapazierend (vgl. ebd., S. 68). An anderer Stelle meint er, religiöses Leben sei in weitesten Begriffen zu charakterisieren als die „Überzeugung, daß es eine unsichtbare Ordnung gibt und daß unser höchstes Gut in einer harmonischen Anpassung an diese liegt.“ (ebd., S. 85)72

Der Religionspsychologe und Theologe Herman Westerink sieht Spiritualität als ein breites Konzept des säkularen Zeitalters: „The secular age is the age of the religious after religion, of the sacred after tradition, of belief without belonging“ (Westerink 2012, S. 4). „Spiritualität“ beschreibe die Situation des Religiösen nach der Religion, bezeichne ein Feld (oder vielleicht mehrere Felder), die sowohl traditionelle Formen der Religiosität wie säkular-existentielle Weltanschauungen und Überzeugungen beinhalteten – kein Wunder, dass das Konzept diffus, breit und vage sei (vgl. ebd.). Er schlägt vor, als Grundtypen theistische und nicht-theistische Spiritualität zu unterscheiden und damit eine Reduktion der verschiedenen Dimensionen von Spiritualität auf einen einzigen Prozess (wie z. B. Selbsttranszendenz oder Sinnfindung) zu vermeiden (vgl. ebd., S. 13).

Das Spektrum Lexikon der Psychologie erklärt die Begriffe folgendermaßen:

Religion, ein symbolisches System von Glaubensaussagen, Einstellungen, Praktiken und Riten, das sinnstiftend die Fragen menschlichen Daseins zu begründen versucht und mit dessen Hilfe die Menschen zu einer transzendenten Welt und zueinander in Beziehung treten. Aus dieser Beziehung lassen sich normative Verhaltensweisen ableiten. (Spektrum Lexikon 2001a, S. 17)

Spiritualität, auch: Frömmigkeit, eine vom Glauben getragene geistige Orientierung und Lebensform, die im Gegensatz zur vorherrschenden materialistisch-mechanistischen Weltsicht steht (Spektrum Lexikon 2001b, S. 220).73

Der Religionspsychologe Jacob A. van Belzen versucht nicht, Spiritualität essentialistisch zu definieren, da sie viele verschiedene Formen kenne, er plädiert „für eine minimale Umschreibung: Spiritualität als Gestaltung der Bezogenheit auf Transzendenz.“ (Belzen 1997, Sp. 210) Diese Umschreibung sei bewusst bescheiden: „In ihr wird nicht postuliert, der Mensch sei von Natur aus spirituell, im Gegenteil: Nicht jeder wird Transzendenz annehmen wollen und sicher nicht jeder wird die Möglichkeit der Kultivierung selbiger Beziehung wahrnehmen wollen. […] In der vorgeschlagenen Umschreibung geht es genau um jene Fälle, in welchen sich von einer mehr oder weniger bewußten und gestalteten Beziehung sprechen läßt.“ (ebd.) Sie sei eine mögliche, aber keineswegs „die einzige Form sinnvollen Lebens“ (ebd., Sp. 211). Und als Teil menschlicher Subjektivität auch der Psychologie zugänglich:

Spezifisch für den Menschen und als gänzlich menschlich läßt sich Spiritualität als mögliche Form sinnvollen Lebens ohne Zweifel durch die Humanwissenschaften betrachten. Wenn jemand auf eine bestimmte Art spirituell (geworden) ist, hat das mit seinem gesamten Mensch-Sein zu tun, also auch mit seiner Subjektivität, diesem bevorzugten Objekt der Psychologie. Wie alles Menschliche hat auch Spiritualität einen psychologischen Aspekt. (ebd.)74

Kenneth I. Pargament und andere namhafte Religionspsychologen stehen funktionalen Definitionen von Religion oder Spiritualität kritisch gegenüber:75 Der substantielle Kern dürfe nicht verloren gehen, die besondere transzendente Qualität, sonst finde man sich in einer Nacht wieder, in der alle Katzen grau seien (vgl. Pargament 1999, S. 10) f.), Definitionen würden dann ungeeignet breit und nichtssagend (vgl. Zinnbauer et al. 1999, S. 904).76 Für den substantiellen Kern und gemeinsamen Nenner von Religiosität und Spiritualität verwenden Pargament und Peter C. Hill den Begriff das Heilige (the sacred) (vgl. Hill u. Pargament 2003, S. 65). Dieser Begriff werde inklusiv verwendet und bezeichne nicht nur direkt göttliche Vorstellungen, sondern alles, was mit dem Göttlichen in Verbindung sei oder gottähnliche Qualitäten wie Transzendenz, Immanenz, Grenzenlosigkeit oder äußerste Bedeutung habe (vgl. Pargament et al. 2013a, S. 14)77. Wahrnehmungen des Heiligen würden Gefühle wie Respekt und Verehrung wachrufen; deshalb seien z. B. selbst zentrale Weltanschauungen (strongly held ideologies) oder Lebensstile (highly elaborated lifestyles) nicht als Spiritualität zu bezeichnen, da sie nicht mit solchen Empfindungen verbunden seien (vgl. Hill et al. 2000, S. 64). Aus ihrem Definitionsvorschlag für Religion und Spiritualität (ebd., S. 66) ergebe sich als gemeinsamer Nenner die Suche nach dem Heiligen: „both spirituality and religion include the subjective feelings, thoughts, and behaviors that arise from a search for the sacred.“ (ebd., S. 68)78

Das Grundkonzept Heiliges/sacred stieß auf mancherlei Kritik. Der Theologe und Religionspsychologe Hans Stifoss-Hanssen meint, Heiliges sei ein Konzept, das nicht von allen angenommen werde und in der wissenschaftlichen Diskussion als klassischer religiöser Begriff nach außen nicht leicht vertretbar sei (vgl. Stifoss-Hanssen 1999, S. 27) f.). Er hält das Konzept Existentialität für geeigneter: „spirituality is people’s search for meaning, in relation to the big existential questions“ (ebd., S. 28). Spiritualität und Religiosität seien wie sich teilweise überlappende Kreise, Spiritualität etwas größer, die Mittelpunkte aber nah beisammen (vgl. ebd., S. 28) f.). Josef N. Neumann kritisiert, Religion ganz allgemein lasse sich nicht von Phänomenen her definieren, „denn wird beispielsweise gesagt, Religion sei die Begegnung bzw. der Umgang mit dem Heiligen, so wird lediglich versucht, ein Unbekanntes durch ein anderes zu erklären“ (Neumann 2009, S. 118). Die Religionspsychologin Ulrike Popp-Baier hält ebenfalls das Heilige für ein problematisches Konzept, da es theologische Motive in die Religionswissenschaft schmuggle und außerreligiös oder spirituell definiert werde, dann kenne das Feld wörtlich keine Grenzen und sei außerdem nur kontextabhängige Bedeutung habe und deshalb eher zu zirkulärer und keineswegs universaler Argumentation führe (vgl. Popp-Baier 2010, S. 48) f.).

Das zweibändige Handbook of Psychology, Religion, and Spirituality ist eine hochrangige Publikation der American Psychological Association. Im einführenden Kapitel (Bd. 1) versuchen K. I. Pargament et al. (Pargament et al. 2013a), ein integratives Paradigma für die Religions- bzw. Spiritualitätspsychologie zu entwerfen. Die Autoren weisen darauf hin, dass Definitionsprobleme beileibe nicht nur in dieser Disziplin bestünden: „To be fair to the psychology of religion and spirituality, ours is not the only field that struggles to define its parameters. Other disciplines within the social sciences must step carefully around slippery definitional boundaries of their own.“ (ebd., S. 10) Sie vergleichen die Schwierigkeit, stabile Definitionen in diesem Bereich zu finden damit, Bewegung durch ein paar Schnappschüsse einzufangen (vgl. ebd., S. 10) f.). Religion und Spiritualität seien relevant, weil sie sich mit hoch wertbesetzten Themen (issues of great value) beschäftigten (vgl. ebd., S. 16). Klar sei aber auch, dass sie sowohl hilfreich wie schädlich sein könnten: „The critical question is not whether religion and spirituality are good or bad, but rather when, how, and why they take constructive or destructive forms.“ (ebd., S. 7) Zu beachten sei, dass einerseits Religion nicht ein rein institutioneller Ausdruck und andererseits Spiritualität kein rein individuelles Phänomen, sondern trotz aller Privatisierung in viele Bezüge und Kontexte sozial eingebettet sei (vgl. ebd., S. 13). Als Sprachregelung empfehlen die Autoren je nach Untersuchungsfeld den Gebrauch beider Begriffe: „Examples of the use of both terms include links of religious and spiritual coping methods to holistic well-being; […] accessing religious and spiritual resources to facilitate pastoral and mental health counseling“ (ebd., S. 17).

Im gleichen Handbuch warnt Pargament in einem eigenen Beitrag vor Versuchen, Religiosität/Spiritualität wegzuerklären, d. h. sie vollständig auf rein psychologische, soziale oder physische Prozesse zu reduzieren – vielmehr sei Spiritualität trotz aller Zusammenhänge ein eigenständiger Prozess: „I have marshaled some evidence in support of a simpler possibility, that spirituality is a distinctive human motivation and process in and of itself.“ (Pargament 2013, S. 269) Ein früherer Artikel macht bereits deutlich, dass Religion für reduktionistische „Nichts-als-Erklärungen“ besonders gefährdet sei (Pargament 2002a).

2.4 Religiosität/Spiritualität in Gesundheit und Krankheit

2.4.1 Medizinische Perspektiven

Auf der Ebene der WHO ist in der Bangkok Charta für Gesundheitsförderung in einer globalisierten Welt von 2002 folgende beachtenswerte Aussage zu finden:

Die Vereinten Nationen erkennen an, dass das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsstandards eines der fundamentalen Rechte aller Menschen ohne Unterschied darstellt. Gesundheitsförderung basiert auf diesem wesentlichen Menschenrecht. Dieses positive und umfassende Konzept begreift Gesundheit als einen Bestimmungsfaktor für Lebensqualität einschließlich des psychischen und geistigen Wohlbefindens. [im englischen Text „encompassing mental and spiritual well-being.“] (WHO 2005, S. 1)79

Offenbar geht es um eine Dimension, die nicht erst in der Palliativversorgung – dort schon länger auf breiter Basis anerkannt – einen Platz verdient.80 Die deutsche S3-Leitlinie Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten etwa empfiehlt generell: „Krebspatienten sind mit körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen/religiösen Problemen konfrontiert. Diese sollen in der Versorgung berücksichtigt werden.“ (Leitlinienprogramm Onkologie 2014, S. 35) Religiosität wie Spiritualität könnten dabei ebenso protektiv wie belastend wirken, beides verdiene entsprechende Unterstützung.81

Das in der Medizin allgemein etablierte biopsychosoziale Modell wurde von dem Psychiater George L. Engel (1977) gegen eine biomedizinische Engführung der Psychiatrie vorgeschlagen (vgl. auch Engel 1980, S. 536–538). Dieses Modell wird zwar verschiedentlich kritisiert,82 es bietet aber als mehrdimensionale „Brille“ für den Zusammenhang von Körper, Geist und Beziehungen in Gesundheit und Krankheit einen guten Ansatz,83 der sich natürlich vertiefen ließe, wofür es unterschiedliche Vorschläge gibt. Josef W. Egger hat seit 2011 an der Medizinischen Universität Graz den ersten deutschsprachigen Lehrstuhl für Biopsychosoziale Medizin inne, er schlägt ein auf dem Konzept Emergenz basierendes erweitertes Modell vor.84 Darin lässt sich auch das Psychische und Spirituelle einordnen:

Auch alles Seelenleben – Gefühle, Gedanken, spirituelle Vorstellungen und jeweils darauf begründete Handlungen – sind untrennbar mit dem Materiellen verbunden. Es gibt kein einziges seelisches Phänomen, das ohne ein entsprechend geartetes Nervensystem denkbar ist. Ergo zählen Aspekte des Spirituellen zu den Phänomenen des menschlichen Geistes und sind Teil einer „ganzheitlichen“ Betrachtung des menschlichen Seins, wie es für die biopsychosoziale Theorie mit ihrer Leib-Seele-Einheit typisch ist. Die spirituelle Dimension […] ist ein Phänomen, das den Leistungen der menschlichen Psyche zuzuordnen ist. Dort hat sie ihren Platz – egal, ob das Spirituelle religiös oder nichtreligiös verstanden wird. (Egger 2013, S. 40)

Eine solche Sicht der menschlichen Seite lässt sich auch theologisch ohne weiteres unterstützen, sofern sie die (im weitesten Sinne) transzendente Seite offen lässt und nicht zu einem „Nichts-als“-Reduktionismus führt.

Egger misst dem „Prinzip Hoffnung“ eine wichtige Rolle bei:

Hoffnungen sind psychologisch gesehen positive Erwartungen. Sie sind assoziiert mit Erfreulichem, Wünschenswertem, Erhofftem – kurz: mit vorweggenommenen Belohnungen. Sie können unser Belohnungssystem aktivieren. Sofern diese Aktivierungen physiologisch ausreichend wirksam und auf diese Weise auch psychoimmunologisch von Bedeutung sind, müssen sie als reale Wirkfaktoren verstanden werden. […] Jedenfalls sind Hoffnungen die – über die Lebenszeit gesehen – wirksamsten Motivationen des Menschen. (ebd., S. 45)

Irrationale, übertriebene Hoffnungen jedoch scheitern an der Wirklichkeit, sie könnten kontraproduktiv sein. „Abgesehen davon helfen sie uns aber nachhaltig bei der Ressourcenaktivierung, wenn es darum geht, schwerwiegende, auch existentielle Krisen anzupacken. […] Im therapeutischen Prozess ist der Umgang mit Hoffnung daher ein wichtiges und zugleich auch hochdynamisches Thema.“ (ebd.) Man darf sicher fragen, wann und wie religiös bzw. spirituell geprägte Hoffnungen hilfreich sind. Egger unterstreicht sehr die bleibende Aufgabe der europäischen Aufklärung „gegen die Entmündigung von Wissen und Verstand“ (ebd., S. 41) und kritisiert deswegen sowohl zu einfache Lösungen der Esoterik wie auch religiöse „Rückwärtsgewandtheit und Bezogenheit auf alte Lebenswelten“, wenn damit „Glaubenssysteme verbunden sind, die in wesentlichen Aspekten grundsätzlich falsche Ziele vorgeben bzw. fatale Überzeugungen prolongieren“ (ebd., S. 42). Religionen seien deshalb auch im Krankenhauskontext „durch stetige Neuinterpretation bzw. Auslegung an die jeweiligen Lebensbedingungen“ anzupassen (vgl. Egger 2015, S. 407 f.). Theologie ist damit durchaus einig, denn eine kritische Vernunft und „Verheutigung“ ist im Glaubensbereich unverzichtbar.85

Der Freiburger Mediziner Thure v. Uexküll, eine der Schlüsselfiguren der psychosomatischen Medizin, ging davon aus, dass „jede Medizin mit ihren Theorien und Konzepten ein bestimmtes Menschenbild entwirft.“ (Uexküll 1989, Sp. 855) Unter psychosomatisch verstand er „eine Medizin, deren Menschenbild nicht entweder auf einen biotechnisch gedeuteten Körper oder eine spiritualistisch interpretierte Seele reduziert, sondern ganzheitlich als integrierte Einheit verstanden wird.“ (ebd., Sp. 856) Hinter den Problemen Schwerkranker zeige sich „offen oder versteckt“ oft

die Frage nach dem Sinn ihres Lebens – und Weiterlebens […] In dieser Situation erfährt [der Arzt], daß die Medizin keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben, aber helfen kann, die Sinnfrage sinnvoll zu stellen. Sie muß klarmachen, daß es keinen für alle Menschen verbindlichen Sinn des Lebens gibt, weil jedes Leben nur in der individuellen Wirklichkeit des Betroffenen und der Wirklichkeit seiner Mitmenschen seinen Sinn hat – oder nicht hat. (ebd., Sp. 858)

Für diese Sinnfindung sei auch die ärztliche Präsenz einfühlend mitmenschlich gefragt.86

Alan B. Astrow, Christina M. Puchalski und Daniel P. Sulmasy (2001) definieren für den Bereich der Gesundheitssorge Spiritualität als Beziehung zu bzw. Suche nach transzendentem Sinn, der religiös sein kann – aber nicht muss:

Spirituality is the name given to a person’s or a group’s relationship with the transcendent, however that may be construed. Spirituality is about the search for transcendent meaning. Most people express their spirituality in religious practice. Others express their spirituality exclusively in their relationship to nature, music, the arts, a set of philosophical beliefs, or relationships with friends and family. These alternative forms of spirituality can entail intense commitment. (ebd., S. 285)

Insofern habe jeder so Suchende Spiritualität: „Thus, although not everyone has a religion, everyone who searches for ultimate or transcendent meaning can be said to have a spirituality.“ (ebd.) Deshalb müsse in der Medizin die Person in ihrer Ganzheit ernst genommen werden, worin ein erweitertes biopsychosoziales Modell anklingt: „If patients are to be treated as whole persons, they must be respected as whole persons – biologic, psychologic, social, and spiritual beings“ (ebd.).87 In einem oft zitierten Artikel beschreibt Sulmasy (2002) den Menschen als Beziehungswesen in vier Dimensionen, die durch Krankheit – jeweils mehr oder weniger – gestört würden und Beachtung bräuchten:

A human person is a being in relationship – biologically, psychologically, socially, and transcendently. The patient is a human person. Illness disrupts all of the dimensions of relationship that constitute the patient as a human person, and therefore only a biopsychosocial-spiritual model can provide a foundation for treating patients holistically. (ebd., S. 32)88

Puchalski et al. (2014) berichten über die International Consensus Conference on Improving the Spiritual Dimension of Whole Person Care 2013 in Genf. Dort wurde einmütig eine breite Definition von Spiritualität empfohlen, „so that as health care providers address spiritual issues with patients, they can remain alert to and hear whatever gives deep meaning to the patient, whether existential, religious, personal, or secular.“ (ebd., S. 646) Damit werde patientenzentriert ein genügend weiter Raum eröffnet: „spirituality should be defined broadly to be inclusive of religious, philosophical, existential, cultural, or personal beliefs, values, and practices and be centered on patient preferences.“ (ebd., S. 648)

2.4.2 Im Forschungsfeld Religiosität/Spiritualität und Gesundheit

Definitorische Fragen im Blick auf Religiosität bzw. Spiritualität stellen sich auch in unmittelbar gesundheits- bzw. krankheitsbezogenen Untersuchungen. Eine hilfreiche Unterscheidung sei hier vorangestellt: Es macht einen Unterschied, ob man evidenzbasierte Outcome-Zusammenhänge untersuchen will und dafür hinreichend eindeutige/ enge unabhängige Variablen (also etwa Definitionen und daraus operationalisierte Maße von Religiosität und Spiritualität) braucht, oder ob man für den klinischen Gebrauch wie auch Bedarfserhebungen breitere und etwas weniger scharf definierte Begriffe anwendet, so dass Patienten leichter ihr persönliches Verständnis einbringen können. Diese Unterscheidung empfiehlt z. B. Harold G. Koenig, einer der namhaftesten – wenngleich nicht ganz unumstrittenen – US-amerikanischen Forscher in diesem Feld: „Rather than be exclusive as necessary in conducting research, the clinician needs to use terms that are inclusive“ (Koenig 2008a, S. 353). Und obwohl er für scharfe und nicht-tautologische Begriffe in der Forschung plädiert, hält er im klinischen Gebrauch den Ausdruck Spiritualität für besonders nützlich: „For these reasons, a broad, nebulous and diffuse term such as spirituality is ideal. Here, spirituality is a sufficiently vague term that patients can define for themselves.“ (ebd., S. 354)89

Im umfangreichen Handbook of Religion and Health von H. G. Koenig, Dana E. King und Verna Brenner Carson (2012) finden sich Definitionen, in denen der Begriff Transzendenz zentral ist.90

Ein breiter Definitionsansatz zu Spiritualität von Arndt Büssing et al. für die Gesundheitsforschung – ohne Verwendung des Begriffs Transzendenz – lautet dagegen:

We would broadly define spirituality as all attempts to find meaning, purpose, and hope in relation to the sacred or significant (which may have a secular, religious, philosophical, humanist, or personal dimension). In particular, spirituality and spiritual practices have commitment to values, beliefs, practices, or philosophies which may have an impact on patients’ cognition, emotion, and behavior. (Büssing et al. 2014a, S. 1)91

Die Umschreibung des Arztes und Psychotherapeuten Eckhard Frick geht in eine ähnliche Richtung: „In der Tat ist Religiosität eine Variante der Spiritualität. Doch kann auch ein Atheist ein spiritueller Mensch sein, indem er Sinn und Hoffnung jenseits der Grenzen des Sichtbaren, Machbaren, Erfahrbaren sucht (Transzendenzbezug ohne ausdrücklichen Gottesbezug).“ (Frick 2009a, S. 225) Und an anderer Stelle sieht er Spiritualität in der Medizin als gängigen „Breitbandbegriff, der vielfältige Formen von Sinnsuche und den Transzendenzbezug angesichts von Grenzerfahrungen umschreibt.“ (Frick 2009b, S. 148) „In der Medizin kommt als spirituell relevante Grenzerfahrung insbesondere die Auseinandersetzung mit schwerer Krankheit in Betracht.“ (ebd., S. 149)

Der ev. Theologe Traugott Roser hält den Begriff Spiritualität „über konfessionelle Grenzen hinweg für religiöse und nicht-religiöse Weltanschauungen anschlussfähig.“ Er dürfe „nicht zu einem leeren Sammelbehälter geraten“ (Roser 2007, S. 250), sei aber gerade in seiner Unschärfe „zugunsten des Individuums, vor allem des/der einzelnen PatientIn“ und damit personenzentriert offen zu halten (vgl. Roser 2015, S. 238). Obwohl er sich einer Definition entziehe, hält Roser die Verortung des Begriffs durch Wright (2004) als spirituelle Dimension (spiritual domain) für nützlich: „Spiritualität vollzieht sich demnach als persönlichkeitszentrierte Entwicklung und Wachstum (Werden/becoming), als Leben-in-Relationen zu Gemeinschaft, Kultur und Beziehungen (connecting), als Sinnfindung in Situationen der Verwundbarkeit (finding meaning) und schließlich als Transzendenzbezug (transcending).“ (Roser 2009b, S. 587)

Der Moraltheologe Konrad Hilpert hält den Begriff Spiritualität als offenen Begriff „dafür geeignet, für unterschiedliche Wirklichkeitsdeutungen und Lebenshaltungen zu stehen.“ (Hilpert 2009b, S. 57) „Das Element des Überstiegs (Transzendieren) gehört genauso zur Phänomenologie der Spiritualität wie die Achtsamkeit für das Andere jenseits der Banalität, die Subjektivität des Sichselbstübersteigens und die Bereitschaft, sich auf eine solche Denkbewegung existenziell einzulassen mit möglichen Folgen bis in den eigenen Alltag hinein.“ (Hilpert 2009a, S. 18) f.) Die besondere Herausforderung der spirituellen Bewältigung von Krankheit dürfe man nicht unprofessionellen Geistheilern überlassen: „ So ergibt sich auch noch einmal aus dem Blick auf die Erfahrung der Krankheit als Situation einer den gesamten Menschen in Mitleidenschaft ziehenden Not eine Herausforderung an die Medizin, Krankheit, Leiden und Tod als Realitäten des menschlichen Lebens zu akzeptieren, die die Betroffenen ‚spirituell‘ bearbeiten können müssen.“ (ebd., S. 22)

In einem Überblicksbeitrag zur Begriffsklärung von Religion/Religiosität bzw. Spiritualität in der Gesundheitsforschung schließen Michael Utsch und Constantin Klein, dass ein wissenschaftlicher Konsens nicht bestehe und vermutlich auch nicht erreichbar sei (vgl. Utsch u. Klein 2011, S. 40). Als Fazit bleibt für sie zentral, sprachfähig zu bleiben, wissenschaftlich wie therapeutisch:

Einstweilen scheint es sinnvoll, sowohl diejenigen, die sich als religiös verstehen, als auch die, die den Begriff der Spiritualität zur Beschreibung ihrer Weltsicht bevorzugen, als Akteure innerhalb des religiös-weltanschaulichen Feldes zu begreifen und darin weiter zu erforschen […]. Im Sinne der Gesundheitsforschung gehört dazu auch, wahrzunehmen, welche Bezeichnungen Patienten in welcher Form auf sich selbst anwenden, um Sprachfähigkeit für die ärztliche, therapeutische und pflegerische Praxis zu entwickeln (ebd.).

Utsch hält Spiritualität für den grundlegenderen Begriff:

Der Begriff Spiritualität dient also als eine anthropologische Kategorie, die existenzielle Lebenshaltungen insbesondere in Situationen der Bedrohung des Lebens beschreibt. Religionsübergreifend wird mit der Spiritualität des Menschen sein unbestimmbares Wesen als prozessorientiert und zeitlich offen untersucht, seine Beziehungsgestaltung zu sich selber, zum sozialen Umfeld, zur Transzendenz und sein Selbstverständnis als ein verwundbares und endliches Wesen. (ebd., S. 35)

Klein dagegen betrachtet Religion/Religiosität als fundamentaler. Er versteht das Anliegen, Spiritualität von Religion/Religiosität zu unterscheiden als „darin begründet, dass die Bewusstheit für die geistige/geistliche/existenzielle Dimension des Lebens benannt werden soll, ohne dabei auf den Religionsbegriff zurückzugreifen, der […] als vorbelastet empfunden wird“ (ebd., S. 37), obwohl die Semantik des „Religiös-Seins“ wissenschaftlich durchaus dafür geeignet wäre (vgl. ebd., S. 38).

Der ev. Theologe und Ethiker Ulrich H. J. Körtner plädiert „für einen sorgfältigen und kritischen Umgang mit dem Begriff der Spiritualität im Allgemeinen wie in der Medizin im Besonderen“ (Körtner 2014, S. 339). Alles Mögliche könne unter Spiritualität firmieren, auch Esoterik und Alternativmedizin (vgl. ebd., S. 340), so dass Spiritualität in moderner Spielart oft eine unbestimmte Heilserwartung und esoterische Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit und Überwindung aller Gegensätze bedeute (vgl. ebd., S. 342). Körtner hat deshalb – unter Verweis auf T. Roser (s. o. S. 51) – Verständnis für „Anschlussfähigkeit in pluralistischen Lebenswelten und Diskursen“, hält aber „das Bemühen um begriffliche Unterscheidungen sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus pragmatischen Gründen für notwendig.“ Nicht jede energetische oder monistische Deutung sei einfachhin gleichwertig (vgl. ebd., S. 347). „Nicht nur die religiöse Vorstellung von einem strafenden Gott oder ewigen Höllenqualen, sondern auch bestimmte Formen von Esoterik und Alternativmedizin können gesundheitsschädliche Folgen haben.“ (ebd., S. 352) Er hält einen materialistischen „Reduktionismus, der die Sinnfrage und die Dimension der Transzendenz“ ausblende, „für ebenso problematisch wie manche Konzeptionen von Ganzheitlichkeit, die alle Krankheiten auf psychische oder spirituelle Ursachen zurückführen wollen“, und zieht deshalb eine mehrdimensionale Konzeption vor: „Erkenntnistheoretisch wie praktisch muss um des Lebens willen die Eindimensionalität zugunsten der Mehrdimensionalität überwunden werden. Anstelle einer fragwürdigen Ganzheitsmedizin ist nach meinem Dafürhalten ein Konzept von integrativer Medizin zu stellen, das auf Mehrdimensionalität zielt.“ (ebd., S. 353) Um dabei den einen ganzen Menschen wahrzunehmen: „Gesundheit und Heil, Heilung und Erlösung, Sein und Sinn betreffen den in sich unteilbaren Menschen, der mehr ist als die Summe seiner anatomischen, psychischen und mentalen Teile.“ (ebd., S. 354) Spiritualität habe in Medizin und Pflege „ganz wesentlich mit der Ressource Vertrauen zu tun, ohne die therapeutische und pflegerische Prozesse nicht gelingen können“: Selbstvertrauen (auch des Personals), Vertrauen in andere und in die Heil- und Pflegekunst, für manche auch Vertrauen aus dem Glauben „an Gott als Tiefendimension unseres Daseins“: „Zur Spiritualität gehört es, diese Tiefendimension menschlichen Vertrauens und Hoffens freizulegen, nach Quellen des Vertrauens zu suchen. Zur Spiritualität gehört ebenso, sich den vielfältigen Ängsten, den eigenen wie den fremden, zu stellen“ (ebd., S. 355). Suche nach Ressourcen wie kritische Unterscheidungen dürften also gleichermaßen wichtig sein.

Erhard Weiher findet ansprechende Formulierungen, die – aus reicher praktischer Erfahrung als Klinikseelsorger heraus – anschaulich machen, was ganz individuell Spiritualität insbesondere in Krankheit bedeuten kann. Zunächst gibt er eine formale, noch unspezifische Definition: „Spiritualität ist eine innerste Gestimmtheit, ein bewusster oder nicht bewusster innerer Geist, der das Alltagsleben transzendiert, aus dem heraus Menschen ihr Leben empfinden, sich inspiriert fühlen und ihr Leben gestalten.“ (Weiher 2014, S. 24) Manche Autoren sehen existentiell und spirituell im Gesundheitswesen als deckungsgleich, Weiher unterscheidet aber so: „›Existentiell‹ heißt: Die Ereignisse, die einen Menschen betreffen, berühren ihn nicht nur von außen, sondern auch in seinem Inneren. […] ›Existentiell‹ meint dann weit mehr als nur ein Gefühl. Es meint die Betroffenheit des Daseins als Mensch überhaupt, die Erfahrung, dass das Selbst ungesichert, in seinem Dasein begrenzt und vom Tod bedroht ist.“ (ebd., S. 28) Dagegen meint Spiritualität den deutenden Umgang damit:

Die spirituelle Dimension meint im Unterschied zur existentiellen eher die persönliche innere Ausrichtung des Menschen, mit der er den Fragen begegnet, die sich von der Existenzerfahrung her ergeben. Während Ersteres dem Menschen widerfährt (ihn existenziell betrifft), ist Spiritualität der Bedeutung suchende Umgang damit: die innere Lebenseinstellung und das ganz persönliche Ringen um Sinngebung und Hoffnung, mit dem der Patient auf die existentielle Herausforderung ein hilfreiches Gegengewicht sucht. Existentielle Fragen und Herausforderungen verlangen letztlich nach einer Deutung. (ebd., S. 28) f.)

Als zentrales Symbol für das Größere und Innerste des Lebens schlägt Weiher den Begriff Geheimnis vor, in dessen Beachtung sich vielleicht alle gesundheitsbezogenen Berufe finden könnten: „Spiritualität ist jede – positive wie negative – Erfahrung, bei der sich der Mensch mit dem Geheimnis des Lebens – als heiligem Geheimnis – in Verbindung weiß.“ (ebd., S. 29) Der Kontakt damit und die innersten Überzeugungen würden sich bei vielen Menschen in ethischen Kategorien ausdrücken:

Spiritualität trägt nicht nur wesentlich zur ethischen Urteilsbildung bei, indem sie die innersten Beweggründe eines Menschen aktiviert und moduliert. In den Beweggründen und Sinnorientierungen eines Menschen drückt sich zugleich auch der »Geist« aus, in dessen Kraft die Betroffenen schwierige Entscheidungen und deren leidvolle Folgen tragen können. (ebd., S. 64)

Das geschieht in Krisen oft auch bei Personen, die im Alltag nicht bewusst „spirituell“ leben: „Gerade bei schwerer Krankheit und in der Nähe des Todes tritt die Spiritualität der Betroffenen aus den Alltagshaltungen heraus. Sie ist dann mehr als nur spiritueller Hintergrund. Es werden die langfristigen Lebensziele und Grundüberzeugungen wach und es wird deutlich, was dem Menschen zutiefst wichtig ist.“ (ebd., S. 66) Spiritualität kommt nicht nur aus einem selbst, sondern letztlich aus der Begegnung mit dem Außen:

Spiritualität ist mehr als ein Ergriffensein wie bei einem Konzert. Spiritualität in einem anspruchsvollen Sinn generiert und verdichtet sich beim Zusammentreffen von eigenen, individuellen Sinnentwürfen mit der »Sinn-Antwort«, die dem Menschen vom ganz Anderen, vom Geheimnis, vom Heiligen her entgegenkommt. Am Crashpunkt entsteht Spiritualität. (ebd., S. 152)

Das gälte es kompetent wahrzunehmen und zu begleiten.

2.4.3 Schlaglichter aus der Psychiatrie und Psychotherapie

Im Jahr 1992 wurde auf Beschluss des Deutschen Ärztetages das Fach „Psychiatrie“ in „Psychiatrie und Psychotherapie“ umbenannt und damit „der Tatsache Rechnung getragen, dass für die fachärztliche Behandlung des Gesamtspektrums psychischer Erkrankungen Psychotherapie, neben Pharmako- und Soziotherapie, einen unverzichtbaren Bestandteil darstellt.“ (Berger u. Schramm 2004, S. 140) Zunehmend wichtiger würden störungsspezifische Ansätze, was natürlich nicht bedeute, „dass die individuellen Problemfelder des Patienten außer acht gelassen werden.“ (ebd., S. 141) Durch psychische Erkrankungen wiesen Menschen im Vergleich zur prämorbiden Unterschiedlichkeit oft dem Störungsbild entsprechend „große Ähnlichkeit im Verhalten, emotionalen Erleben und in kognitiven Abläufen“ auf (vgl. ebd.). Und weiter:

Mit Abklingen des akuten Krankheitsbildes lösen sich auch die symptombedingten Ähnlichkeiten der Patienten auf und machen wieder einer stärkeren Individualisierung Platz, die veränderte psychotherapeutische Strategien erfordert. Dann dominieren oft, wie bei leichteren Krankheitsbildern, die Wünsche des Patienten nach Selbsterkenntnis und Klärung zwischenmenschlicher Beziehungen den Therapieauftrag (ebd.).

Die Bedeutung einer auf die einzelne Person zugeschnittenen Therapie unterstreicht der ehemalige ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Freiburger Universitätsklinik Mathias Berger nochmals: Aufgrund des begrenzten Erfolges der „Suche nach neuen effektiveren Psychopharmaka“ rückten psychotherapeutische Verfahren „immer mehr in das Zentrum unseres Faches“ (Berger 2013, S. 63). Es solle nicht vernachlässigt werden, „dass Patienten […] in ihrem Behandler auch eine verlässliche moralische Stütze und einen Helfer bei medizinischen Entscheidungen erwarten. Dabei ist therapeutische Kreativität häufig notwendig, den geeigneten Zugang zu dem einzelnen Patienten zu finden.“ (ebd.) Ärztliches Charisma und Kreativität zeige sich als „die Kunst der komplementären Beziehungsgestaltung, des empathischen Mitempfindens, der schemakonformen Validierung, der Irritation der Erwartungshaltung oder der wertschätzenden Konfrontation“ und das verdeutliche, „dass neben den nomothetischen Vorgehensweisen störungsorientierter Psychotherapien jeweils auch eine idiographische auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Vorgehensweise des Therapeuten von hoher Relevanz ist.“ (ebd., S. 64) Therapeuten sollen sich darüber bewusst sein, „dass sie ihren Beruf nicht als ‚Technokraten‘ ausüben können, sondern dass sie für ihre Patienten auch moralische Stütze und Autorität sein sollten, wobei die Art der Beziehungsgestaltung ein hohes Maß von Kreativität, Empathie und Flexibilität verlangt.“ (ebd., S. 65) Ob die religiöse bzw. spirituelle Ebene von Patienten dabei generell ausgeschlossen werden könnte? Wohl kaum.

Der Heidelberger Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs erachtet die Psychiatrie als charakterisiert durch eine unaufhebbare „Spannung zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen“ und sieht deshalb auf theoretischer wie praktischer Ebene den Bedarf philosophisch geschulter Wahrnehmung und Reflexion (vgl. Fuchs 2010, S. 240). Angesichts der Fortschritte, die das biologische Paradigma erzielt habe, warnt er vor „der Tendenz, psychische Krankheiten isoliert von den Beziehungen des Patienten zu seiner Umwelt zu betrachten und die Bedeutung des Subjekterlebens für die Krankheit zu vernachlässigen.“ (ebd., S. 235) Es sei deshalb wichtig, „auf konzeptueller Ebene Raum für andere Ursachenbegriffe zu schaffen, insbesondere für eine top-down-Kausalität, die nicht nur metaphorisch gemeint ist, also für eine reale Veränderung des biologischen Substrats im Zuge psychologischer und kultureller Prozesse. Solche (um-)strukturierenden Einflüsse auf das Gehirn sind etwa für psychotherapeutische Behandlungen inzwischen gut gesichert“ (ebd., S. 238). Wenn man „ursächliche bottom-up und top-down-Beziehungen“ zusammenfasse, gelange man „zum Begriff einer ‚zirkulären Kausalität‘, die basale und übergeordnete Systemebenen im Organismus kreisförmig miteinander verknüpft“, dies ermögliche ätiologische wie therapeutische integrative Konzepte, „ohne auf die Verlegenheitslösung einer ‚Multifaktorialität‘ auszuweichen“ (vgl. ebd.). Patienten brauchen auch auf der subjektiv erlebten Ebene Gesprächspartner für ihre Fragen:

Das Sich-Fremdwerden, die Selbstentfremdung rückt psychisches Kranksein schon von sich her in die Nähe der Philosophie. Beiden gemeinsam ist der „Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit“ […], die fragende und zweifelnde Haltung gegenüber der erfahrenen Wirklichkeit. Die existenziellen Fragen, die Patienten stellen, machen sie oft zu „Philosophen wider Willen“. (ebd., S. 239)92

Heinz Schott und Rainer Tölle äußern in ihrer Geschichte der Psychiatrie den Eindruck, dass in der gegenwärtigen Psychiatrie mit einer Anlehnung „an die Theoriebildung der Neurowissenschaften bzw. der Hirnforschung“ wie in anderen biomedizinischen Disziplinen Fragen „einer medizinischen Anthropologie weitgehend ausgeklammert werden.“ (vgl. Schott u. Tölle 2006, S. 508) Umso mehr fällt auf, dass R. Tölle und Klaus Windgassen in ihrem Lehrbuch Psychiatrie zumindest kurz eine „Anthropologische Grundlegung“ vorstellen, die eine Integration der verschiedenen psychiatrischen Aspekte (wie z. B. physiologische oder chemische Prozesse, Lernen, unbewusste Triebdynamik) und Arbeitsweisen versuche (vgl. Tölle u. Windgassen 2014, S. 11) f.). Zu den Grundzügen gehöre unter anderem: „Nicht die einzelne Störung, sondern die gesamte Erlebniswelt des Kranken steht im Mittelpunkt des Interesses, nicht das Abnorme und Kranke, sondern das Dasein des Patienten an sich. An Stelle der Subjekt-Objekt-Spaltung wird nach dem In-der-Welt-Sein des Patienten gefragt.“ (ebd., S. 11) Dazu gehöre dann auch die Religiosität:

Während die Psychiatrie von den philosophisch-anthropologischen Bemühungen profitierte, lässt sich Entsprechendes für die Beziehungen zwischen Psychiatrie und Theologie nicht feststellen. Von den Weltreligionen ist wenig Einfluss auf die Psychiatrie ausgegangen, und die Psychiatrie befasste sich wenig mit der Religiosität der Patienten. Die Gründe hierfür dürften sowohl in der medizinisch-positivistischen Einstellung der traditionellen Psychiatrie als auch in dem Unverständnis und der Abwehr liegen, mit denen Theologien und Kirchen auf die Triebthematik und die Religionskritik der Psychoanalyse reagierten. Die heutige klinische Psychiatrie versucht, die Religiosität des Patienten in ihrer existentiellen Bedeutung zu beachten. (ebd., S. 11) f.)93

Der Psychotherapeut Gerd Rudolf spricht in seinem Artikel Menschenbild und Psychotherapie vom Menschen als einem „Wesen, das sich seiner selbst und seiner jeweils aktuellen Situation bewusst wird; ein Lebewesen, das eine Sprache entwickelt, in der es sich mit seinesgleichen darüber verständigen kann.“ (Rudolf 2015a, S. 373) Daraus hätten sich die großen Fragen und Antwortversuche ergeben:

Seither stehen Menschen unvermeidbar auch vor der großen Aufgaben [sic] des Sichverstehens: Wie erkläre ich mir die Welt? Wer bin ich selbst? Woher kommen und wohin gehen wir? Als Ergebnis solcher Überlegungen entstanden philosophische und religiöse Systeme, kulturelle Formen des sozialen Zusammenlebens, aber auch wissenschaftliche und technologische Entwicklungen und künstlerische Gestaltungen. (ebd., S. 373 f.)

Darum kann er – auch im Blick auf Patienten – sagen:

Menschen sind sinnorientiert, d. h. ihre rationalen, emotionalen und selbstreflexiven Fähigkeiten erlauben es ihnen, weitreichende Sinnfragen aufzuwerfen und dafür philosophische, religiöse oder wissenschaftliche Antworten zu suchen. Freilich besteht das Risiko, die eigenen Sinnsysteme ideologisch absolut zu setzen und gegen fremde Überzeugungen zu Felde zu ziehen. (ebd., S. 375)

In seiner Monographie Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht (Rudolf 2015b) findet sich auch ein Kapitel Der religiöse Mensch, darin u. a. die Themen Suche nach Sinn, religiöse Einstellungen, Religiosität und Spiritualität, das Angebot der Religionen (ebd., S. 120–146).

Religiosität gilt vielen als eine im Menschen natürlich verankerte Bereitschaft, sich auf eine Transzendenz auszurichten. Sie wird gewissermaßen als Bestandteil der menschlichen Natur, als Wesensmerkmal des Menschen gesehen. Das ist eine These, die wissenschaftlich weder bestätigt noch widerlegt werden kann. […] Wie man auch dazu stehen mag, es ist unübersehbar, dass religiöse Orientierung in der Geschichte der Menschen und ihrer kulturellen Entwicklung eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt hat, sodass wir dieses Thema nicht übergehen dürfen. (ebd., S. 124)

Bei zeitgenössischer Spiritualität beobachtet er häufig Vorstellungen und Praktiken, „die historisch zum Aberglauben gerechnet wurden.“ (ebd., S. 144) Auf subjektiver, emotional-erlebbarer Ebene sieht er eine Gemeinsamkeit:

Das Gemeinsame von Religiosität und Spiritualität liegt wohl in der Tatsache, dass Menschen die gläubige Überzeugung entwickeln können, sich in der Beziehung zum Göttlichen zu erleben und dass diese Bezogenheit ihnen ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und Geborgenheit vermittelt, auf das sie verzichten müssten, wenn sie ihre spirituelle oder religiöse Ausrichtung nicht mehr hätten. (ebd., S. 144) f.)

Peter D. Gilbert bietet für das Thema Spiritualität und psychische Gesundheit einen vorsichtigen Überblick und darin eine schöne Definition: „Spirituality relates to that dimension of ourselves as human beings which erects frameworks of meaning that provide a motivating force to our lives. Spirituality is associated with the pilgrimage of life; connection with other people and the natural world; a sense of the sacred; and a reaching out to something beyond ourselves.“ (Gilbert 2007, S. 595)

Der Psychiater und Theologe Christopher C. H. Cook (2004) schlägt in einem Überblicksartikel zu Suchterkrankungen eine Definition von Spiritualität vor, die das persönliche Innerste wie auch das ganz Andere anzielt:

Spirituality is a distinctive, potentially creative and universal dimension of human experience arising both within the inner subjective awareness of individuals and within communities, social groups and traditions. It may be experienced as relationship with that which is intimately “inner”, immanent and personal, within the self and others, and/or as relationship with that which is wholly “other”, transcendent and beyond the self. It is experienced as being of fundamental or ultimate importance and is thus concerned with matters of meaning and purpose in life, truth and values. (ebd., S. 548 f.)

Im Sammelband Religion and Psychiatry. Beyond Boundaries der WPA (Verhagen et al. 2010) sagen die Herausgeber im Vorwort:

Religiosity can be considered a normal personality trait and cannot be disregarded by psychiatrists, whatever their own ideas on religiosity might be. The entire soul/psyche, after all, belongs to their sphere of work. This point of view is the raison d’être of the WPA’s section on Religion, Spirituality and Psychiatry, and the main reason why this book was conceptualised under the section’s auspices. We hope that this volume will indeed stir up curiosity and interest in the interface between psychiatry and man’s tendency to provide life with a vertical transcendental dimension. (ebd., S. xvii)

Peter J. Verhagen bemerkt, dass religiöse bzw. spirituelle Erfahrungen und Deutungen nicht selten seien und eben nicht nur in außerordentlichen, sondern auch gewöhnlichen und alltäglichen Wahrnehmungen und Deutungen bestünden und bedeutsam seien: „Religious experiences can take ordinary forms […]. Religious experience, in other words, is a religious interpretation of ordinary, daily experiences, which are not at all rare. […] This ‚normality‘ of religious (and spiritual) experiences makes it likely that they do occur and have meaning in the lives of many psychiatric patients and their relatives as well.“ (Verhagen 2010, S. 552)

2.5 Religionssoziologische Aspekte

2.5.1 Religiosität und Spiritualität allgemein

Die Religionssoziologie untersucht empirisch unter anderem, inwiefern und wie Menschen sich als religiös bzw. spirituell einschätzen und verhalten. Angesichts eines starken Individualisierungsschubes in der Spätmoderne94 wurde Religion oft individueller, privater und schwerer erkennbar. Einflussreich wurde z. B. das Konzept der „unsichtbaren Religion“ von Thomas Luckmann95 und seine Unterscheidung von „kleinen, mittleren und großen Transzendenzen“ – wobei „Diesseitsreligionen“ auf mittleren und „Jenseitsreligionen“ auf großen Transzendenzerfahrungen basierten (vgl. Luckmann 1991, S. 166–171).96 Der Religionssoziologe Hubert Knoblauch greift diese Unterscheidungen auf und sieht Spiritualität als Ausdruck von Individualisierung und persönlicher Erfahrung hier verankert:

Diese Tendenz, persönliche Erfahrungen der Transzendenz zu machen und darüber zu kommunizieren, hängt alltagssprachlich mit einer Ersetzung des Begriffs des Religiösen durch den des Spirituellen zusammen. Der Begriff der Spiritualität (als subjektive Sonderform des Religiösen) eignet sich durchaus auch für die Soziologie, da er zum einen auf eine als transzendent erfahrene Wirklichkeit und zugleich auf eine Distanz zu institutionell definierten Vorstellungen des Religiösen hinweist. Dies gelingt ihm, zum anderen, gerade deswegen, weil er auf die Dimension der subjektiven Erfahrung der (großen) Transzendenz rekurriert. (Knoblauch 2004, S. 78)

Spiritualität scheine „ihre Begründung nicht im Sozialen, sondern im Subjekt selbst zu suchen. Sie bezeichnet die zunehmende Tendenz von Gesellschaftsmitgliedern, die eigene Transzendenzerfahrung als Quelle, Evidenz- und ‚Güte‘-kriterium der eigenen Religion anzusehen.“ (ebd.) Der Begriff Spiritualität werde häufig als in den eigenen Erfahrungen gründende Selbstbeschreibung verwendet und sei damit eine „Ethnokategorie der Handelnden“ (Knoblauch 2006, S. 91). Gegenüber einem inflationären Wortgebrauch durch einen ganz funktionalistischen Religionsbegriff äußert er sich jedoch skeptisch, denn dann könne „jede kulturelle Aktivität […] als religiös bezeichnet werden: Fußball, Musik etc.“ (vgl. ebd., S. 99). Er schlägt deshalb vor, als religiöse Erfahrungen solche Erfahrungen zu „bezeichnen, in denen große Transzendenzerfahrungen auf eine symbolisch außerweltliche Weise gedeutet werden“ (ebd., S. 100).

Ein empirischer Überblick zur Religiosität in den deutschsprachigen Ländern findet sich bei Stefan Huber (2011), basierend v. a. auf dem Religionsmonitor 2008. Es zeigt sich, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung für religiöse bzw. spirituelle Semantik ansprechbar ist, speziell auch in Krisensituationen wie Krankheit (vgl. unter Abschn. 4.5.1).

Empirische Zahlen zum Verständnis von Spiritualität und entsprechenden Selbsteinschätzungen im Vergleich von USA und Deutschland finden sich bei Barbara Keller et al., basierend u. a. auf dem Religionsmonitor 2008 sowie ALLBUS 2008 (als Überblick siehe Keller et al. 2013, S. 73) Tab. 1: Selbsteinschätzung als religiös bzw. spirituell; vgl. für konkrete Werte unten S. 257f). Für den neueren Religionsmonitor 2013 wäre als erste Übersicht etwa Detlef Pollack und Olaf Müller (2013) heranzuziehen. Ein aktueller religionssoziologischer Überblick findet sich auch bei Walter Schaupp (2014) im Abschnitt „Renaissance des Religiösen – Phänomene und Analysen“ (ebd., S. 17) f.).

Die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller beschreibt Spiritualität religionssoziologisch so:

Der zeitgenössische Spiritualitätstrend repräsentiert in weiten Teilen den modernen Typ abendländischer säkularisierter Religion […]. Spiritualität ist einerseits ein wesentlicher Bestandteil jeder religiösen Tradition und kann andererseits als Synonym für das moderne religiöse Feld dienen. Die moderne Spiritualität repräsentiert einen Typ von Religiosität, der antidogmatisch, antiinstitutionell, erfahrungsorientiert, plural, subjektiv und teilweise, aber nicht zwangsläufig privat ist. (Heller u. Heller 2014, S. 57)

Andererseits stellt sie sich stark gegen die Formulierung, alle Menschen seien spirituell, darin sieht sie eine unzulässige Vereinnahmung: In empirischen Untersuchung würden sich nicht alle als spirituell bzw. religiös bezeichnen, nicht jeder habe eine spirituelle Dimension, ca. ein Viertel der EuropäerInnen würde sich von Religiosität bzw. Spiritualität abgrenzen (vgl. ebd., S. 67) f.). Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei den von ihr herangezogenen Daten um empirisch erhobene Selbstzuschreibungen handelt, wo offen bleibt, warum die Personen sich so oder anders verstehen wollen.

Auf diese grundlegende Schwierigkeit in der empirischen Forschung macht auch die Religionspsychologin Ulrike Popp-Baier (2008, 2010) aufmerksam: Konzepte wie Glaube, Spiritualität oder Religiosität gehörten einerseits zur empirischen Ebene (und würden von Beteiligten sehr unterschiedlich verstanden und eingesetzt), andererseits zur systematischen Ebene, auf der Sozialforscher die Antworten mit eindeutigen Termini und Kategorien klassifizieren, einordnen etc. Kritisch bemerkt sie:

Ein inkonsistentes Changieren zwischen diesen Ebenen kann bisweilen »empirische« Ergebnisse zur Folge haben, die mehr an das Kaninchen erinnern, das man nur deshalb aus dem Hut zaubern kann, weil man es vorher selbst hineingesteckt hat. So ist z. B. eine Interpretation vieldeutiger Selbstbezeichnungen bzw. Selbstverständnisse wie »religiös« oder »spirituell« mit Hilfe eines der terminologisch eindeutig bestimmten Religionskonzepte aus der Literatur mehr als problematisch. (Popp-Baier 2008, S. 3)

In der Säkularisierungsdebatte solle man deshalb das Konzept Spiritualität besser nicht verwenden, da es eine so große Vielfalt an emischen Bedeutungen (wie Menschen den Begriff benützen) und Schwächen in den etischen Konzepten (den theoretischen Definitionen) von Spiritualität gebe – man möge eher erkunden, was Menschen meinen, wenn sie von Spiritualität sprechen (vgl. Popp-Baier 2010, S. 62).97 Um die Komplexität und Vielfalt persönlicher Orientierungen bewusst zu halten, könne der Begriff Spiritualität allerdings nützlich sein (vgl. ebd., S. 61).

2.5.2 Empirische Sinnforschung

Ein beachtenswerter Blickwinkel kommt aus der empirischen Sinnforschung, die nach Lebenssinn und Lebensbedeutungen fragt. Eine allgemeine Definition findet sich bei Ursula M. Staudinger und Sigrun-Heide Filipp:

Lebenssinn lässt sich demnach umschreiben als die Bewertung des Lebens durch eine Person oder als die Bedeutung, die eine Person dem Leben zuschreibt. In dieser Definition ist sowohl enthalten, dass man im Leben einen bestimmten inhaltlichen Zweck verfolgt, wie beispielsweise materielle Sicherheit, als auch dass der Lebenssinn für eine Person darin bestehen kann, dass sie zufrieden mit ihrem Leben ist, egal ob und ggf. welche Inhalte sie in diesem Leben verfolgt. (Staudinger u. Filipp 2005, S. 752)

Lebenssinn ist nicht einfach vorhanden, sondern – in vielerlei Lebenssituationen – je neu zu suchen: „Lebenssinn ist nicht etwas einmal ‚Gefundenes‘, das wir dann besitzen, sondern Lebenssinn ist dynamisch. Lebenssinn muss in der Auseinandersetzung mit den jeweils gegebenen Lebensumständen immer wieder neu gefunden, besser gesagt, konstruiert werden.“ (ebd., S. 752 f.) Im englischen Sprachraum hat Roy F. Baumeister einflussreiche Beiträge zum Thema meaning of life veröffentlicht. Zusammen mit Kathleen D. Vohs bringt er auf den Punkt: „The essence of meaning is connection.“ (Baumeister u. Vohs 2005, S. 608)98 Verbindungen herstellen und wahrnehmen: das scheint für Sinn entscheidend, statt „sinnloser“ Fragmentierung. Viele Menschen haben ein Bedürfnis danach.99

Der Philosoph Winfried Löffler meint im Blick auf die diesbezügliche Empirie: „Ebenfalls empirischer Natur, aber in vielen Fällen wohl zu bejahen ist die Frage nach dem positiven Beitrag eines Lebenssinnes zur Erfahrung eines erträglichen oder gar gelingenden Lebens.“ (Löffler 2011, S. 1995) Doch er unterstreicht zu Recht, dass die Sinnfrage durchaus nicht immer gestellt wird:

Zahlreiche Menschen stellen sich die Sinnfrage nicht, oder sie leben de facto ohne oder mit einer Mehrzahl von höchsten, in sich sinnvollen Zielen ohne definierte Priorität, etwa: Gesundheit, Arbeitszufriedenheit, erfüllende Freizeitgestaltung, Wohlergehen der eigenen Kinder und Kindeskinder. Logisch gesehen ist gegen eine solche Lebensweise auch gar nichts einzuwenden: Solange man nie in die Situation gekommen ist, sich real oder gedanklich zwischen seinen verschiedenen – und zwar zwischen allen! – solchen höchsten Zielen entscheiden zu müssen, spricht nichts gegen die Annahme mehrerer höchster Ziele. (ebd.)100

In Krisen oder unter Belastungen kann jedoch die Frage nach den vorrangigen Zielen und Werten schnell sehr virulent werden!101

Im deutschsprachigen Raum hat sich für die empirische Sinnforschung besonders Tatjana Schnell (2008, 2009, 2010, 2011a, 2011b, 2016) einen Namen gemacht. Lebenssinn lässt sich meist nicht einfach nennen: „Individueller Lebenssinn ist somit eher dem Prozessals dem deklarativen Wissen zuzuordnen. Daher ist nicht zu erwarten, dass er bewusst und abrufbar vorliegt. Dennoch können Menschen im Allgemeinen eine Aussage darüber treffen, ob sie ihr Leben als sinnerfüllt oder sinnlos wahrnehmen.“ (Schnell 2009, S. 103) Lebenssinn konkretisiert sich in bzw. bildet sich aus verschiedenen Inhalten.102 Schnell operationalisierte in ihrem Modell Lebenssinn in verschiedenen Lebensbedeutungen. In einer repräsentativen deutschen Stichprobe103 fand sie einen beträchtlichen Anteil von

existentiell Indifferenten, die ca. ein Drittel der Gesellschaft ausmachen. Sie erfahren ihr Leben nicht als sinnerfüllt, leiden aber – nach ihrer Selbstauskunft – auch nicht darunter. Allerdings gibt es in ihrem Leben wenig, was ihnen bedeutsam erscheint. […] Auch, wenn sie keinen Sinn in ihrem Leben sehen und sich nicht als Teil eines größeren Ganzen verstehen, können sie doch ein zufriedenes Leben führen – ohne ausgeprägte Leidenschaften und ohne Bedürfnis, sich selbst und ihre Möglichkeiten weiter auszuloten. (Schnell 2008, S. 16)

„Eine Mehrheit von 61 % zählen zum Typ ‚hohe Sinnerfüllung, niedrige Sinnkrise‘, während 4% […] unter einer Sinnkrise leiden, aber keine Sinnerfüllung aufweisen.“ (ebd., S. 14) – Eine nützliche Unterscheidung hinsichtlich des Bezugs zu Transzendenz wird von Schnell (2011a) als horizontale bzw. vertikale Selbsttranszendenz formuliert.104 Ihre Ergebnisse zu „Religiosität und Spiritualität als Quellen der Sinnerfüllung“ fasst sie so zusammen: In Deutschland

ist der Bezug zu einer vertikalen, überweltlichen Selbsttranszendenz längst nicht verschwunden. Für fast die Hälfte aller Befragten nimmt der nicht-institutionalisierte Glaube an eine andere Wirklichkeit (Spiritualität) einen zentralen Platz in ihrem Selbst- und Weltverständnis ein; für über ein Drittel besitzt Explizite Religiosität eine hohe Zentralität. Beide Orientierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit den höchsten Ausprägungen an Sinnerfüllung einhergehen. Dies wird darauf zurückgeführt, dass bei beiden Lebensbedeutungen die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Bedeutungshaftigkeit und Orientiertheit in besonderem Maße unterstützt werden. (Schnell 2011b, S. 269)105

Religionssoziologische Daten zeigen also, dass für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung – bei weitem nicht für alle! – religiöse bzw. spirituelle Orientierungen und Lebensbedeutungen durchaus eine Rolle spielen.

2.6 Kritik am Konzept Spiritualität

Die Verwendung des Begriffs Spiritualität im oben beschriebenen weiten Sinne – sei es im Bereich der religionspsychologischen oder -soziologischen Forschung, sei es im Gesundheitsbereich – trifft auf vielfältige Kritik von verschiedenen Seiten.

2.6.1 Zu breite und unklare Verwendung des Begriffs

Für etliche Autoren ist der Begriff zu schwammig und breit, er werde unklar verwendet. Der kath. Theologe Erwin Möde beobachtet einen wissenschaftlichen und (kultur-)politischen „Erosionsdruck auf den christlich-metaphysischen Bedeutungsgehalt“ von Spiritualität, diese werde „akzeptier- und assimilierbar jenseits des dezidiert Religiösen“: „Die Zielorientierung solch ‚letzter Sinnbezüge‘ bleibt gewollt offen und ungesagt, um dadurch als Leerstelle und Projektionsfläche möglichst viele Interessen und Gestimmtheiten bündeln zu können. ‚Spiritualität‘ als ‚wertebewusste Existenzweise‘ wäre schließlich als passende Formel für Zivilreligion und Gesellschaft ebenso konsensfähig wie banal.“ (Möde 2007, S. 19) Der ev. reform. Theologe Frank Mathwig benennt angesichts heterogener Konnotationen des Spiritualitätsbegriffs auf andere Autoren zurückgreifend diesen polemisch als „Megatrend oder Megaflop?“ (R. Polak), „Containerbegriff“ (A. Giebel), zu den „Plastikwörtern“ gehörend (U. Pörksen) (vgl. Mathwig 2014, S. 26).

Die ev. Theologin Isolde Karle befürchtet einen empfindlichen Verlust:

Den größten Verlust, der mit einem vagen und unbestimmten Religions- oder Spiritualitätsbegriff einhergeht, sehe ich darin, dass er zu einer Entkonkretisierung und inhaltlichen Entleerung religiöser Sprache beiträgt. […] Religion ist in ihrer historisch gewachsenen Gestalt immer auf konkrete Inhalte, Rituale und Sozialformen bezogen und kommunikativ verfasst. Wird Religion abstrakt und vage definiert, wird sie entkörperlicht und entsinnlicht, formalisiert und schematisiert. Übrig bleibt ein fleischloses Gerippe, dem das Wesentliche verloren ging. (Karle 2010, S. 552)106

Dieses Anliegen ist durchaus berechtigt. Durch die Öffnung eines weiten Horizonts soll das konkrete Gute nicht im Allgemeinen aufgelöst werden.

Die kath. Pastoraltheologin Doris Nauer beschreibt in ihrer Monographie zum Thema Spiritual Care in einem Unterkapitel „Das zugrundeliegende Spiritualitätsverständnis“ (Nauer 2015, S. 49–55). Als kritische Anfrage diskutiert sie dieses unter der Überschrift Verengter oder zu weiter Spiritualitätsbegriff? (ebd., S. 94–98): Der Begriff sei zu eng, wenn er „auf rein innerweltliche, sprich horizontale Inhalte begrenzt wird“ (ebd., S. 95), es verbiete „sich nahezu, im Spiritualitätsverständnis die vertikale Linie der Erfahrung von Transzendenz / Gott / Göttlichem zu vernachlässigen oder gar auszublenden.“ (ebd., S. 96) Wirklich weit wäre ein Spiritualitätsbegriff „erst dann, wenn ausdrücklich die außerweltlich-vertikale Perspektive, sprich der persönliche Bezug zum Transzendenten, Göttlichen, Heiligen, Numinosen und Geheimnsivollen mit ins Spiel kommt.“ (ebd., S. 95)

Nauer beruft sich öfters auf die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller, die Spiritualität nicht von Religion trennen will: In der Begriffsdebatte meint sie, „dass die Trennung von Spiritualität und Religion in eine Sackgasse führen muss. Spiritualität verdunstet, wenn sie sich nicht von anthropologischer Existenzialität unterscheidet.“ (Heller u. Heller 2014, S. 49) Der weite Begriff von Spiritualität sei offen, aber schwammig:

Die Begriffsoffenheit wird positiv auf die Personzentrierung im modernen Gesundheitswesen und die individuellen Ausprägungen selbstbestimmter Spiritualität bezogen. Das eigentliche Problem der terminologischen Unbestimmtheit besteht aber doch darin, dass Spiritualität teilweise so weit gefasst wird, dass darunter nur mehr eine vage Sinnsuche oder eine existenzielle Lebenseinstellung verstanden wird. (ebd., S. 50)

Für sie ist die religiöse Rückbindung wesentlich: „Spiritualität ist wohl als der eigentliche Kern jeder religiösen Tradition zu betrachten.“ (ebd., S. 51)

Sehr kritisch äußert sich auch der Psychoonkologe Pär Salander (2006, 2012). Die Wissenschaft benötige den Begriff Spiritualität nicht: Das Verhältnis zu Religion sei unklar, das Konzept selber unscharf und unnötig (vgl. Salander 2012, S. 20). Er vermutet z. B., dass die Antworten von Menschen auf Fragen nach dem Empfinden von „Sinn und Ziel“ (als Ausdruck von Spiritualität) meist ihr generelles Wohlbefinden (well-being) ausdrückten: „people experience life as meaningful / not meaningful and this is very close to saying ‚I’m feeling fine‘ / ‚I’m feeling bad‘.“ (ebd., S. 22)107 Spiritualität sei ein „Regenschirmbegriff“, mit dem Autoren verschiedene Themen unter ihren eigenen Schirm steckten (vgl. ebd., S. 26). Bisher als psychologische und psychosoziale bezeichnete Themen würden plötzlich als spirituell definiert (vgl. ebd., S. 24) f.), was durch diesen Begriff oft einen religiösen Touch bekomme (vgl. ebd., S. 23) und die Frage aufwerfe, ob das Konzept Spiritualität eine säkulare Weltsicht respektiere (vgl. ebd., S. 29). Dem Konzept fehle ein theoretisches Rationale, systematische Bedeutung und damit klare Abgrenzungen zu benachbarten Konzepten, Operationalisierungen seien außerdem oft vermischt mit Indikatoren von Gesundheit und Wohlbefinden (vgl. ebd., S. 27). Zu bevorzugen sei die Erforschung und Beachtung existentieller Herausforderungen, mit denen alle Mensch umgehen müssten – Freiheit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Tod (Yalom 1980)108 –, was sie auf unterschiedliche Weise tun würden: Manche mit säkularer, manche mit religiöser/spiritueller Weltsicht (ebd., S. 28).

Ralph W. Hood stimmt Salander zu, dass vieles in der Forschung zu Spiritualität im Gesundheitsbereich eine Falschmeldung (hoax) sei, weil neue Begriffe für wohlbekannte existentielle Realitäten geschaffen würden (vgl. Hood 2012, S. 109).

Peter La Cour und Niels C. Hvidt plädieren dagegen dafür, die drei Bereiche existentieller Sinngebung (existential meaning-making) nicht künstlich zu trennen: In der realen Welt dächten viele Patienten über ihre Existenz in säkularen, spirituellen und religiösen Begriffen nach, und die Mehrheit tue dies vielschichtig simultan (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Diese drei Dimensionen/Ebenen würden sich im Geist und Herzen der meisten Menschen überlappen (vgl. ebd., S. 1298), keine davon sei von vornherein den anderen übergeordnet (vgl. ebd., S. 1294). Im Übrigen (unter Bezug auf Hall et al. 2008) existiere weder generische (allgemeine) Spiritualität noch generisches existenzielles Denken, diese seien immer in spezifischen kulturell-sprachlichen Kontexten verwurzelt (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Das Gegenteil von Glaube im Kontext von Sinnfindung sei Indifferenz: „In terms of meaning-making the opposite of a belief is not dis-belief, but existential indifference.“ (ebd., S. 1294) Auch das ist eine Möglichkeit, die man wählen kann …109

Heinz Streib und Ralph W. Hood halten in der Religionspsychologie das Konzept Spiritualität für unnötig, verwirrend und für eine Energieverschwendung, das bewährte Konzept Religion sei wissenschaftlich ausreichend (vgl. Streib u. Hood 2011, S. 449). Zusammenfassend formulieren sie drei Thesen: „Our first thesis says: Self-identified ‚spirituality‘ is (nothing but) religion. Our second thesis says: This ‚spirituality‘ is part of religion. The third thesis says: ‚spirituality‘ is privatized, experience-oriented religion.“ (ebd., S. 448)110 Es sei jedoch sinnvoll, das Verständnis von Spiritualität (als emischen Begriff) bei denen zu erforschen, die sich damit selbst identifizierten bzw. als „eher spirituell als religiös“ oder „spirituell, aber nicht religiös“ bezeichneten (vgl. ebd., S. 448 f.).111

2.6.2 In der Bevölkerung kein einheitliches Verständnis von Spiritualität

Viele Autoren bemerken kritisch, dass sich bei Befragungen in der Bevölkerung kein gemeinsames Verständnis von Spiritualität zeige. Daniel E. Hall, Keith G. Meador und Harold G. Koenig unterstreichen, dass eine generische Religiosität bzw. kontext-freie Spiritualität nicht existiere, sie stünden immer in einem Kontext von Kultur, Tradition etc. Es sei deshalb auch unmöglich, Religiosität oder Spiritualität ohne diesen jeweiligen spezifischen Kontext zu erforschen (vgl. Hall et al. 2008, S. 155). Die Autoren schlagen einen Vergleich mit Sprachen und Linguistik vor:

However, the recognition that people are all“spiritual” in their human search for meaning is like recognizing that all languages use similar patterns of grammar and syntax. There is much to learn from the study of linguistics, but the dry text of linguistic theory can never replace the living verse of Shakespeare. Language does not exist“in-general” because it is always encountered in particular forms (ebd.).

Insofern könne Spiritualität eine Art Linguistik für konkrete Formen von Glaube bzw. Praxis sein, aber keine universale Sprache des Glaubens (vgl. ebd., S. 156).

Peter La Cour, Najda H. Ausker und Niels C. Hvidt befragten in Dänemark 514 Erwachsene (Studierende, sowie Teilnehmer versch. Kurse) nach ihrem Verständnis von Spiritualität, indem sie bei 115 von Experten genannten Items ankreuzen sollten, was zu Spiritualität gehöre(vgl. La Cour et al. 2012, S. 66). Eine Faktorenanalyse der Antworten ergab kein gemeinsames Verständnis, sondern sechs Faktoren, die sich nicht aufeinander reduzieren ließen. Daher stellten sich Probleme, den Begriff Spiritualität in der Forschung oder im klinischen Setting zu verwenden, wenn existentielle oder religiöse Fragen angesprochen werden sollen – auf jeden Fall sollten einige erklärende Schlüsselworte angegeben werden (vgl. ebd., S. 77). Als solche schlagen die Autoren für Forschungszwecke folgendes vor: „A coherent use of the term spirituality in future research might therefore comprise spirituality understood as a context-bound experience of relatedness to a vertical transcendent reality.“ (ebd., S. 80)112

In den Niederlanden erfragten Joantine Berghuijs, Cok Bakker und Jos Pieper in einem repräsentativen Bevölkerungssample (N = 4402) ohne Vorgaben das persönliche Verständnis von Spiritualität und untersuchten die gegebenen Beschreibungen mit einer Hauptkomponentenanalyse (vgl. Berghuijs et al. 2013, S. 377). Es fand sich eine große Bandbreite, aus der keine einheitliche Definition möglich war. In der Analyse ergaben sich acht Komponenten,113 von denen „Spiritualität als der transzendente Gott“, „Spiritualität als Innerlichkeit“ und „Spiritualität als Streben nach seelischer Gesundheit und Wohlbefinden“ die höchsten Werte aufwiesen (vgl. ebd., S. 386). Dieses weite Spektrum von Antwortmustern zeigt eine Überschneidung des Verständnisses von Spiritualität mit Konzepten aus Psychologie, Religion und Philosophie, die sich mit keiner Definition auflösen ließe (vgl. ebd., S. 392). Außerdem habe sich in der holländischen Bevölkerung das Konzept Spiritualität weithin von Religion getrennt (vgl. Zinnbauer et al. 1997), auch Bezugnahme auf das „Heilige“ (sacred im Sinne von Hill et al. 2000) sei nicht stark (Berghuijs et al. 2013, S. 392). Auffällig war der Einfluss des Bildungsniveaus: Personen mit niedrigerer Bildung distanzierten sich weit häufiger von Spiritualität bzw. konnten weniger damit anfangen als Personen mit höherer Bildung – so dass der Begriff scheinbar eher Sache einer „Elite“-Welt sei (vgl. ebd., S. 389).

Aus letzterem Grund hält Bernhard Grom den Begriff Spiritualität im deutschsprachigen Raum bei Befragungen oder in der Krankenbegleitung nur bedingt für geeignet: „Denn während Englischsprachige die Begriffe spiritual/spirituality nicht als Fremdwörter oder Fachbegriffe empfinden, dürften Deutschsprachige aus bildungsfernen Schichten die Vokabeln ‚spirituell/Spiritualität‘ kaum verstehen.“ (Grom 2009, S. 14)

Heinz Streib und Barbara Keller (2015) untersuchten die Semantik und Psychologie von „Spiritualität“ in Deutschland,114 u. a. in einer Online-Befragung mit 773 Teilnehmern. 740 von ihnen gaben eine Definition von „Spiritualität“ als freie Eintragung: Eine Hauptkomponentenanalyse der Inhalte erbrachte zehn semantische Komponenten (ebd., S. 40) f.).115 Es sei große Zurückhaltung angebracht, „das, was die Menschen auf der Straße ‚Spiritualität‘ nennen, auf einen Begriff bringen zu wollen.“ (ebd., S. 52)

2.6.3 Kritisches zum Konzept Spiritualität im Gesundheitsbereich

Neil Scheurich, Assistenzprofessor für Psychiatrie, hält in der Medizin die Verwendung philosophischer Werttheorie für umfassender und weniger tendenziös als den Begriff Spiritualität. Nicht jeder Mensch sei spirituell, aber jeder habe ein zugrundeliegendes (oft unbewusstes und unhinterfragtes) Wertesystem, das auch die – für die Medizin oft relevanten – tiefsten Anliegen (ultimate concerns) der Person beinhalte. Der philosophische Begriff Wert bedeute eine persönliche Bindung an das jeweils Intendierte und sei gegenüber dem unklareren Konzept Sinn (meaning) zu bevorzugen: Werte bezeichneten, was letztlich im Leben zähle (vgl. Scheurich 2003, S. 357) f.). Solch ein philosophisches Wertekonzept und eine entsprechende Anamnese sei sorgsam neutral gegenüber religiösen wie säkularen Weltanschauungen, während Spiritualität unweigerlich einen Einschlag Richtung übernatürlichem Glauben habe. Religiöser Glaube sei weder zu überhöhen noch abzuwerten, sondern schlicht unter den zahllosen persönlichen Werten einer Person einzuordnen (vgl. ebd., S. 356) f.). Eine säkulare Medizinphilosophie bedeute Neutralität, aber nicht Ignoranz gegenüber persönlichen Werten und Weltanschauungen: „It has been argued, convincingly I think, that respecting the full humanity of patients calls for some inquiry into their ultimate concerns, religious or otherwise.“ (ebd., S. 358)116

Ähnlich plädiert der emeritierte Philosophieprofessor Trevor Hussey (2009, 2011) für eine „naturalistische Sicht“ in der Krankenpflege. Naturalismus verbinde eine metaphysische und eine epistemologische Behauptung: Es existiere nur die natürliche Welt und nichts Über- oder Nicht-Natürliches. Von der natürlichen Welt könnten wir nur durch Wissenschaft und Alltagsverstand Kenntnis erlangen (vgl. Hussey 2009, S. 72). Die Vokabel Spiritualität sei vage und nicht hilfreich und deshalb zu vermeiden: Wenn sie als Abkürzung für alle Erfahrungen, Gedanken und Aktivitäten gebraucht würde, die wertbezogen große persönliche Bedeutung hätten, sei die Gefahr eines – unnötigen – übernatürlichen Anklangs unvermeidlich (vgl. ebd., S. 74), 79). Die Vielfalt religiöser und spiritueller Annahmen (bei Patienten wie Pflegenden) sowie die Intensität, mit der diese häufig vertreten würden, bildeten ein Rezept für Missverständnisse, wenn beide Seiten eine Situation durch das gefärbte Glas ihres eigenen Glaubenssystems betrachten würden (vgl. ebd., S. 78). Glaubensvorstellungen anderer ließen sich jedoch – wie Märchen – verstehen, ohne ihrem Realitätsgehalt zustimmen zu müssen, und man könne sie als Aspekt des Natürlichen einordnen (vgl. Hussey 2011, S. 47), 50). Man müsse aber zu unterscheiden vermögen, wann eine Ansicht ernsten Schaden anrichten könnte (vgl. ebd., S. 50).

Auch der Pflegewissenschaftler John Paley (2008a, 2008b) votiert scharf für eine „atheistische“ bzw. „naturalistische“ Perspektive: Das Konzept Spiritualität sei nicht nur künstlich und unnötig, sondern auch verdunkelnd, es verdecke andere, evtl. effektivere Zugänge zur Unterstützung von belasteten Patienten, und verwirre Patienten wie klinisches Personal (vgl. Paley 2008a, S. 9). Die Literatur zu Spiritualität-in-der-Pflege habe oft einen nicht-naturalistischen Einschlag (bias), der weithin unhinterfragt bleibe – existentielle Fragen sollten aber in einem ausschließlich naturalistischen und wissenschaftlichen Rahmen erforscht werden (vgl. ebd., S. 14). Religiöser/spiritueller Glaube etwa stelle schlicht einen speziellen Fall von positiver Illusion dar, nachweisbare gesundheitsgünstige Wirkungen ließen sich naturalistisch erklären (vgl. ebd., S. 11).117 Paley meint, dass unter dem Begriff Spiritualität ganz verschiedene Dinge zusammengeworfen würden (vgl. Paley 2008b, S. 177), um äquivalent zur sogenannten Medikalisierung (wenn nicht-medizinische Probleme als medizinische behandelt werden) durch eine „Nursification“ den Pflegenden einen eigenen Einflussbereich zu sichern, indem aus unvermeidlichen Konsequenzen des Patientseins pflegerisch zu versorgende psycho-soziale Bedürfnisse und nun auch spirituelle Bedürfnisse (spiritual needs) gemacht würden (vgl. ebd., S. 180 f.).

2.7 Antworten auf die Kritik

2.7.1 Das Konzept Spiritualität im Gesundheitsbereich

Die Kritiker benennen Grenzen und Schwachpunkte eines weiten Spiritualitätsbegriffes sowie ethische und weltanschauliche Bedenken für seine Verwendung im Gesundheitsbereich. Sie wurden ausführlich vorgestellt, weil diese Punkte nicht übergangen werden sollen – im Gegenteil, sie helfen, wichtige Aspekte nicht zu übersehen. Entscheidend ist freilich, welche Konsequenzen für den konkreten Umgang man jeweils zieht. Möglicherweise ist das weite Konzept von Spiritualität als Öffnung eines Horizonts in einigen Kontexten ja doch nützlich, und das damit Gemeinte und Intendierte wäre trotz aller Definitionsprobleme ernst zu nehmen.

Die kanadische Pflegewissenschaftlerin Barbara Pesut (2010) antwortet auf die von Paley (2008a) und Hussey (2009) vorgetragene „naturalistische“ Kritik: Spiritualität habe eine Berechtigung für die Bereiche Sinn und Moral, in denen nicht alles durch (Natur-)Wissenschaft zu beantworten sei,118 man dürfe angesichts spiritueller Pluralität auch keine einzelne Ontologie, Denk- oder Glaubensweise (wie z. B. Naturalismus) vorschreiben (vgl. Pesut 2010, S. 21) f.). Man müsse für den Pflegebereich jenseits von weltanschaulicher Polemik fragen, wie die Grundwerte Respekt, Würde und Sensibilität sich konkretisieren ließen auch für spirituelle Themen: „common values of respect, dignity, and sensitivity need to be defined in relation to the complex contexts of practice where diverse claims about spirituality enter into the realm of care-giving encounters.“ (ebd., S. 22)

John Swinton und Stephen Pattison stimmen der Kritik an den Begriffen zunächst zu: Spiritualität oder Spiritual care würden in endlos unterschiedlicher und unklarer Weise benützt, sie hätten keinen Bezug zu festen Wesenheiten oder Objekten in Menschen oder in der Welt – aber trotz dieser Unschärfe sei die Sprache von Spiritualität im Gesundheitsbereich sinnvoll (vgl. Swinton u. Pattison 2010, S. 227). Sprachen seien – im Sinne Wittgensteins – nicht nur referentiell, sondern auch performativ und expressiv: deshalb sei es sinnvoll, ein „dünnes“, vages, funktionales Verständnis von Spiritualität im Kontext der Gesundheitssorge zu entwickeln (vgl. ebd.). Bei Krisen wie ernster Krankheit entstünden oft Spiritualitäts-, Sinn- oder Identitätsfragen – wie anfänglich oder undeutlich artikuliert auch immer: Äußerungen dieser Art sollten in ihrer Funktion und Richtung gehört und ernst genommen werden (vgl. ebd., S. 229). Eine Suche nach der „ursprünglichen“ Bedeutung von Spiritualität sei deshalb für den Gesundheitsbereich gar nicht nötig (vgl. ebd., S. 230). Viele Schlüsselbegriffe im Gesundheitswesen wie Ganzheit, Pflege oder Person würden ähnlich aufkommen, seien konstruiert und wandelbar – selbst alltägliche Worte wie „leadership, person, values, religion, art, love, and friendship are equally vague, contested, multi-, or poly-valent, but nonetheless important and necessary.“ (ebd., S. 230 f.) Eine sinnvolle Funktion von Sprache sei es ferner, jenseits der konkret beschreibbaren Dinge auch Grenzbereiche des Greifbaren zu bezeichnen (limit language)119 – das geschehe durch Spiritualität. Sie funktioniere tendenziell sogar als eine Weise, Abwesendes/Nicht-Vorhandenes (absences) mehr noch als Anwesendes (presences) zu benennen. Dazu könnten auch im säkularen biomedizinischen Ansatz teilweise vernachlässigte Fragen nach Sinn, Hoffnung, Bestimmung, Verbundenheit, Liebe, Gott … gehören, Dimensionen, die in der Krankheitserfahrung oft virulent würden und früher häufig in religiöser Sprache ausgedrückt wurden (vgl. ebd., S. 231 f.). Die Autoren empfehlen deshalb eine „dünne“ und vage Beschreibung von Spiritualität (anstatt von „dicht“ und reich),120 die eher durch klinischen Nutzen als durch konzeptuelle Klarheit bestimmt sei: Durch eine unscharfe Beschreibung könne man mehr sehen als man mit ganz engen Kategorien wahrnehmen würde, und so auf das achten, was Patienten im klinischen Umfeld oft fehle. Ein „dünnes“ Konzept brauche oft eine sehr dichte Antwort, die komplexes und nuanciertes Verstehen und Antworten beinhalte und auch interdisziplinäre Perspektiven nötig mache. Der Begriff Spiritualität könne als metaphorischer Container für ein ganzes Feld fungieren, als ein sensibilisierendes Konzept für existentielle Themen wie Sinn, Bestimmung (purpose), Bezogenheit (relationality), Hoffnung, Werte, Liebe, Gott, Transzendenz (vgl. ebd., S. 232–234).121

Swinton (2012) weist darauf hin, dass Spiritualität im beschriebenen Sinne darauf ziele, im Gesundheitsbereich idiographisches Wissen122 um die einzelne Person als bedeutsame Dimension der Versorgung und legitime klinische Kategorie anzuerkennen – was in einer evidenzbasierten Kultur, die normalerweise nomothetischem Wissen123 Priorität einräume, einen Wandel der Sicht auf die Welt bedeute und damit nie eine einfache Aufgabe sei.124

In einem der Grundsatzreferate bei der Third International Conference of the British Association for the Study of Spirituality, Spirituality in a Challenging World schlug Swinton vor, angesichts einer legitimen Vielfalt von Spiritualitäts-Definitionen eher im Plural von Spiritualitäten zu denken: Je nach Kontext und Zweck würden Forscher und Praktiker als funktionale Konzepte entsprechende Definitionen konstruieren (vgl. Swinton 2014, S. 163). Für ein richtiges Verständnis von dem, was schwere Krankheit ist, hält er Beziehungs-, Identitäts- und/oder Spiritualitätsaspekte für wesentlich: Sie sei nicht nur eine biologische Fehlfunktion, sondern verändere die Welt und Identität von Patienten grundlegend, was nicht übergangen werden dürfe (vgl. ebd., S. 172).125

Das WPA Position Statement on Spirituality and Religion in Psychiatry (Moreira-Almeida et al. 2016) der World Psychiatric Association mahnt, trotz aller Definitionsfragen das Thema als relevant zu berücksichtigen (vgl. unten Abschn. 3.3.4).

Für Peter J. Verhagen sind Psychiatrie/Wissenschaft (science) und Religion keine Feinde, sie könnten Verbündete sein zum Wohl der Menschen im Einsatz gegen Unsinn und Aberglaube. Einsicht und Urteilsvermögen (discernment) gehörten nicht nur zu Wissenschaft, sondern auch zu den religiösen Traditionen, die Formen der Unterscheidung und Einordnung von Erfahrungen enthielten: „Discernment focuses on what is said to be true, valuable, and decisive in our lives and contributes to what meaning giving is. Spiritual discernment in that sense is a decisive intersubjective aid and a common strategy for knowing and judging developed in every spiritual tradition“ (Verhagen 2012, S. 357).126 Dass es in der Religion nicht irrational zugehen muss, besonders wenn eine bewährte Glaubensgemeinschaft dahinter steht, unterstreicht auch Walter Schaupp:

Da große und schon lang existierende Religionssysteme über einen reichen Erfahrungs- und Reflexionsschatz verfügen, gelingt es ihnen meist, dem Glauben ein hohes Maß an innerer Konsistenz und Ausgewogenheit und somit rationale Nachvollziehbarkeit zu geben. Daher kann die beschriebene Abkoppelung im Rahmen einer hoch individualisierten Form von Religiosität immer wieder zu irrational anmutenden Formen von Religiosität führen. (Schaupp 2014, S. 18)

Da darf und muss man genau hinschauen.

2.7.2 Religiöse/spirituelle Bedürfnisse

Auf Kritik war auch der Begriff spirituelle Bedürfnisse gestoßen (s. o. Paley S. 69). In der Tat wird Bedürfnis hier eher als eine Art pragmatische Kurzformel für die gemeinte Dimension und das für sie Nötige verwendet, vielleicht nicht in psychologisch theoretisch ganz striktem Sinne.127 Zunächst kam der Begriff vor allem im Palliativbereich häufiger vor (vgl. z. B. Kellehear 2000, Murray et al. 2004), dann im Gesundheitsbereich allgemein (vgl. Hodge u. Horvath 2011).

Eckhard Frick verwendet den Begriff zwar auch für die Beschreibung von Spiritual Care als „die gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe für die spirituellen Bedürfnisse, Wünsche und Ressourcen kranker Menschen“ (Frick 2014b, S. 56), sagt aber auch einschränkend: „Spiritualität kann nicht auf ein Bedürfnis reduziert werden, das gestillt werden kann wie Hunger, Durst oder Müdigkeit.“ (ebd., S. 62)128

Crystal L. Park et al. sprechen im genannten APA-Handbuch vom Bedürfnis nach einem Sinnsystem und unzähligen auf Sinn bezogenen Fragen: „humans possess a general need for a well-functioning meaning system that is motivated by myriad meaning-related demands“ (Park et al. 2013, S. 159). Religion schreiben sie dafür eine wichtige Rolle zu.129

Hans-Joachim Höhn steht aus theologischen Gründen einer Orientierung an subjektivistischen Bedürfnissen kritisch gegenüber: „Luthers Frage ‚Wie finde ich einen gnädigen Gott?‘ heißt nicht mehr: ‚Wie werde ich den Anforderungen Gottes gerecht, dass er mir gnädig wird?‘ Im Zentrum steht jetzt das Problem: ‚Wie finde ich einen Gott, der mir und meinen Bedürfnissen gerecht wird?‘“ (Höhn 2006, S. 6) Auch Jürgen Werbick meint, wenn auch das „unbedingt Angehende“ entgegen religionskritischem Verdacht wahres Menschsein nicht sabotierte, dürfte es dennoch nicht verzweckt werden (vgl. Werbick 2005, S. 69):

Insoweit Religion als Beziehung zu einer göttlichen Wirklichkeit verstanden werden darf, steht auch sie unter der Spannung, daß der Beziehungspartner Mensch sie als gut für sich selbst schätzen, in ihr seine Erfüllung – Identität, Friede, Freude, Trost, Lebens- und Hoffnungsperspektiven, Kontingenzbewältigung – suchen und doch zugleich die Beziehung zu Gott nicht einfachhin als Mittel zu diesem Zweck ansehen darf. (ebd., S. 68).130

Der Religionspsychologe Jacob A. v. Belzen meint ebenso, Religion habe ihr eigenes Recht, sie dürfe nicht instrumentalisiert oder gar pervertiert werden für geistige Gesundheit o. ä. (vgl. Belzen 2004, S. 299). Selbst Richard Sloan, der den Einbezug von Spiritualität in medizinischer Forschung und Behandlung vielfach kritisiert hat (vgl. unten S. 157), möchte Religion davor schützen, hier trivialisiert und untergeordnet zu werden (vgl. Sloan 2006, S. 264).

2.7.3 Atheistisch spirituell?

Es wurde kritisiert, das Konzept Spiritualität würde atheistische oder säkulare Weltanschauungen vereinnahmen und hätte unvermeidlich übernatürliche Anklänge. Andere dagegen wollen sich nicht absprechen lassen, spirituell zu sein, auch wenn sie an nichts Religiöses oder „Jenseitiges“ glauben. Wie immer, es kommt auf den gemeinten Sinn der Worte an … Wir versuchen, verschiedene Aspekte zu beleuchten (vgl. auch oben S. 51)f).

Oben wurde bereits die Umschreibung von Jacob v. Belzen für Spiritualität angeführt: Eine mehr oder weniger bewusste „Gestaltung der Bezogenheit auf Transzendenz“ (vgl. Belzen 1997, Sp. 210). Er vermutet deshalb, wahrscheinlich seien die meisten Menschen nicht spirituell, entgegen der Ansicht, jeder sei es, denn Massen von Menschen schienen überhaupt keine Form von Transzendenz anzuerkennen und keine Form von Hingabe daran zu praktizieren (vgl. Belzen 2004, S. 308).

Welche Art von Transzendenz ist aber gemeint? Gibt es Spiritualität ohne Transzendenzbezug? In ihrem Überblicksbeitrag Atheisten, Agnostiker und Apostaten im APA Handbuch berufen sich Heinz Streib und Constantin Klein auf die Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Transzendenz:

To understand atheism and agnosticism, it is important to realize that the symbolization of experiences of transcendence can occur in terms of vertical or of horizontal transcendence (cf. Hood et al., 2009): Vertical transcendence involves the symbolization of a heaven above with person-like beings; in horizontal transcendence, experiences of transcendence are symbolized as experience of the holy or something of ultimate concern, but within this world, such as Mother Earth in green spirituality (Kalton, 2000). (Streib u. Klein 2013, S. 715)

Unter Atheisten und Agnostikern fänden sich demnach Formen von Spiritualität, die vornehmlich mit horizontaler Transzendenz wie etwa der Bewahrung der Erde zu tun hätten (vgl. ebd.).131

Eine seriöse britische Website (http://atheistspirituality.net/), die momentan von Geoff Crocker ediert wird, bietet ein Forum für eine atheistische Weltsicht, die Aspekte von Leben, Werten und Tugenden jenseits von bloßem Materialismus sucht:

Why atheist spirituality? Some might feel that the concept of atheist spirituality is a contradiction in terms. But a lack of belief in God does not necessarily rule out a recognition of human spirituality. Atheism does not necessarily imply a reductionist view that everything in our experience is only physical. And even if it is, even if everything is ultimately shown to consist of physical elements, nevertheless, those physical elements are the building blocks of our metaphysical experience of ideas, of feelings, of truth, of goodness. We might not know, either now or even ever, how the physical generates the metaphysical, but we know for certain that it does. It is this metaphysical dimension which the site explores within an atheist position. (http://atheistspirituality.net/somedefinitions/) (Atheist Spirituality Website 2018)

Für den therapeutischen Umgang schlagen Livia M. D’Andrea und Johann Sprenger in ihrem Artikel Atheism and Nonspirituality as Diversity Issues in Counseling vor, Atheisten als – zumindest im US-amerikanischen Kulturbereich – Minderheitengruppe zu betrachten, die besonderer Rücksichtnahme bedürfe.132 „Note that nonbelief in God, gods, or universal forces does not include the belief that there is no good, no morality, no meaning to life, and no human goodness – just that there is no supreme being (Baggini, 2003).“ (D’Andrea u. Sprenger 2007, S. 152) „Nicht-Spiritualität“ sehen sie so: „Nonspirituality is defined as having no belief in any sort of higher power, life force, universal presence, or obligation to a spiritual soul or being.“ (ebd., S. 153) Atheistische und nicht-spirituelle Personen würden dazu tendieren, sich selbst dafür verantwortlich zu sehen, ihrem Leben einen Sinn zu geben (creating meaning) und dessen Ziel zu definieren (vgl. ebd.). Das verdiene Respekt und Ermutigung.

John R. Peteet weist darauf hin, dass die Bedeutung eines Schmerzes das Leiden definiere und dabei Weltanschauung und Leidenserfahrung einer Person sich gegenseitig beeinflussten. Atheisten, die mit Leiden konfrontiert werden, könnten dabei z. B. stolz sein auf ihre eigene Integrität, intellektuelle Ehrlichkeit oder stoische Haltung (vgl. Peteet 2001, S. 188). Auf jeden Fall wünschten Glaubende wie Nichtglaubende, dass sie in Fragen ihrer wichtigsten Werte und bei der Suche, diese auch im Leiden zu konsolidieren und integrieren, ernst genommen und begleitet würden – und zwar nicht nur als rein „psychologische“/„psychodynamische“ Bedürfnisse (vgl. ebd., S. 189–191).

Julie J. Exline et al. schließlich fanden bei Untersuchungen von Wut auf Gott die überraschende Erkenntnis, dass auch manche Atheisten und Agnostiker solche Gefühle und Gedanken berichteten, verglichen mit Glaubenden sogar in erhöhtem Ausmaß sowohl bezüglich der Häufigkeit über die Lebenszeit hinweg wie auch der Intensität:

Findings suggest that researchers and clinicians might miss important information if they restrict their work on anger toward God to religious affiliates and professed believers. Not only may some atheists and agnostics have anger toward God as part of their religious/ spiritual history, but some may still have anger focused on images of a hypothetical God. (Exline et al. 2011, S. 144)

Atheistische wie agnostische Haltungen weisen offenbar analog zu glaubenden Einstellungen eine große Vielfalt auf. Vereinnahmt werden soll niemand – das wäre gegen die Berufsethik. Übergangen werden in dem, was einem an Grundwerten und -orientierungen wichtig ist in der Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung, sollte aber möglichst auch keiner.

55 So auch Wolfgang Schoberth: „Menschsein wird sich selbst in mannigfaltiger Hinsicht fraglich; und jeder Versuch, eine Fragerichtung und eine Zugangsweise zur maßgeblichen zu machen, führt in unzulässige Reduktionen, die die anthropologische Theorie entweder letztlich irrelevant oder ideologisch machen. Die faktische Vielzahl anthropologischer Ansätze und Themenstellungen ist also nicht lediglich ein kontingentes Ergebnis der Wissenschafts- und Geistesgeschichte, sondern folgt aus der Vielzahl der Perspektiven, in denen Menschen sich selbst thematisch werden.“ (Schoberth 2006, S. 15)

56 Diese Komplexität begegnet auch innerhalb der Psychiatrie mit ihren vielfältigen Paradigmen, wie der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs bemerkt: „Denn die Vielfalt teils komplementärer, teils konkurrierender Ansätze macht nicht nur die Lebendigkeit und den Reichtum der Psychiatrie aus, sie entspricht auch ihrem Gegenstand, nämlich dem psychisch kranken Menschen in seiner ganzen Komplexität.“ (Fuchs 2010, S. 236)

57 Auf die Situation der Krankheit angewandt: „So aber kommt der Kranke in einem intensiven Sinn in die Situation des Menschen überhaupt: in ein Wissen der Erfahrung von sich selbst, dessen letzte Deutung ihm selber dunkel bleibt. Der Mensch erfährt sich als Geheimnis, als eine Frage, auf die er keine Antwort hat. Er erfährt das eigene Dasein als dunkel und antwortarm, nicht weil es wirklichkeitsleer wäre, weil nichts dahinter wäre, sondern weil sein Gehalt den Fragenden übersteigt.“ (Rahner 1966, S. 267)

58 Diese Offenheit könnte analog sein zur theologischen Betrachtung vom Menschen als Geheimnis: Es ist ökumenischer Konsens, dass der Mensch wesentlich „von seiner Beziehung zu Gott her“ zu sehen sei, dadurch bleibe er – so Gisbert Greshake – Geheimnis: „Wenn aber dies die tiefste Aussa ge über den Menschen ist, daß er vor dem unendl., unbegreifl. Gott steht, so folgt daraus, daß er selbst in seinem innersten Wesen unbegreiflich ist, ein Geheimnis, das über alle Definitionen hinaus ins Grenzlos- ‚Undefinierbare‘ verweist.“ (Greshake 1993, Sp. 730)

59 Orig.: Religion As a Cultural System (London: 1966).

60 Zur Nicht-Notwendigkeit und Freiheit von Religiosität siehe besonders auch Ingolf U. Dalferth (vgl. S. 37). – Der Philosoph Max Scheler (1874–1928) dagegen nahm in seiner Phänomenologie der Religion – ausgehend vom „Wertfühlen“ und seiner „materialen Wertlehre“ – eine „Absolutsphäre“ des „Seins und der Werte“ an, die jeder Mensch wesensnotwendig besitze (vgl. Scheler 1921, S. 560): „Da der religiöse Akt eine wesensnotwendige Mitgift der menschlichen geistigen Seele ist, kann gar nicht die Frage ergehen, ob er von einem Menschen vollzogen wird oder nicht. Es kann nur die Frage ergehen, ob er das ihm adaequate Objekt findet, das Ideenkorrelat, zu dem er wesensmäßig gehört, oder ob er auf ein Objekt zielt und es als heilig und göttlich, als absolutes Wertgut bejaht, das seinem Wesen widerstreitet, da es der Sphäre endlicher, kontingenter Güter angehört. Es besteht das Wesensgesetz: Jeder endliche Geist glaubt entweder an Gott oder an einen Götzen.“ (ebd., S. 559) Das wird man so heute nicht mehr ohne weiteres vertreten können. – Zu Scheler vgl. etwa bei Richard Schaeffler den Abschnitt „Das religiöse Apriori und die Sinnlogik der religiösen Akte: Max Schelers Ansatz zu einer Phänomenologie der Religion“ (Schaeffler 2002, S. 130–133).

61 „Anima intellectiva dicitur esse quasi quidam horizon et confinium corporeorum et incorporeorum.“ Dazu Fußnote 22: „»Die geistige Seele, so heißt es, ist etwas wie ein Horizont und eine Grenze zwischen Körperlichem und Unkörperlichem.« Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles II, 68, 1453b.“ (Welte 1969, S. 89)

Vgl. zu dieser Stellung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit auch Karl Rahner im „Grundkurs“ über „die ganz eigentümliche Situation, die gerade das Wesen des Menschen auszeichnet: Insofern er seine geschichtliche Bedingtheit als solche erfährt, ist er schon in einem gewissen Sinne über sie hinaus und kann sie trotzdem nicht eigentlich verlassen. Dieses Gestelltsein zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit macht den Menschen aus und zeigt sich noch einmal dadurch, daß sich der Mensch gerade in seiner unendlichen Transzendenz, in seiner Freiheit als der sich Auferlegte und geschichtlich Bedingte erfährt.“ (Rahner 1976, S. 53)

62 Vgl. dazu im „Grundkurs des Glaubens“ die Einleitung sowie die Kapitel „Erster Gang: Der Hörer der Botschaft“ und „Zweiter Gang: Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis“ (ebd., S. 13–96).

63 Ein kurzer Seitenblick in die Philosophie des 19. Jahrhunderts: Albert Franz schreibt unter dem Titel „Der Mensch als Wesen der Transzendenz“ über die Spätphilosophie F. W. J. Schellings: „Wie auch immer seine Synthese im einzelnen beurteilt werden mag: Daß mit ‚Transzendenz‘ der Nerv sowohl des philosophischen Denkens als auch jeden religiösen Vollzuges berührt wird und daß es gerade hierbei um die Existenz des Menschen, und zwar des konkreten Menschen, von Grund auf geht, dies kann nach Schelling nicht bezweifelt werden.“ (Franz 1992, S. 263)

Für den Begriff Transzendenz vgl. auch Richard Schaeffler über Probleme im verbreiteten traditionellen Verständnis (das Transzendente als „jenseits“ unserer Erkenntnis und damit relativ definiert, in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen; Religion werde dann als Verhältnis zu einer Wirklichkeit verstanden, die unserer Alltagserfahrung unzugänglich bleibe und damit auf die Sphäre „übernatürlicher“ Ereignisse eingeschränkt), wogegen in einem transzendentalen Verständnis Transzendenz als Möglichkeitsgrund von Akten des Subjekts betrachtet werde(vgl. Schaeffler 2002, S. 208f).

64 Für religionspsychologische Untersuchungen anwendbar sind auch die Analysen des menschlichen Bewusstseins (human consciousness) des Philosophen Bernard J. F. Lonergan, vgl. v. a. die Werke „Insight“ (Lonergan 1957) / dt.: „Die Einsicht“ (Lonergan 1995) sowie „Method in theology“ (Lonergan 1972) / dt.: „Methode in der Theologie“ (Lonergan 1991). – Vgl. etwa die zusammenfassenden Darstellungen bei Daniel A. Helminiak im Blick auf eine Konzeption von Religionspsychologie, die die menschliche Seite religiöser und spiritueller Phänomene untersucht (Helminiak 2006, S. 208–212, 2008, S. 170)–172). „The human spirit is a structured, open-ended, dynamic dimension of the mind. The human spirit is inherently self-transcending, geared to reach ever beyond itself. It is oriented to the universe of being, to all that there is to be known and loved, to reality.“ (Helminiak 2006, S. 211)

65 Baier greift teilweise auf die berühmte anthropologische Definition von Spiritualität bei Hans Urs v. Balthasar zurück, eine der ersten, die einen „weiten“ Begriff zu erfassen suchte: „Vom gleichen allgemeinen Bewußtsein her ist positiv der Begriffsinhalt annähernd zu bestimmen als je praktische oder existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“ (Balthasar 1967, S. 247) – Zentral ist ihm die Geistigkeit des Menschen, der Begriff Spiritualität stellt den spiritus, den Geist in die Mitte, mit großer Weite: „Und doch braucht diese Weite keine entscheidungslose Verschwommenheit zu sein, sofern im Wort eine – wenigstens eine! – klare Grundentscheidung immer schon mitgesagt ist: daß der Mensch sich als Geist versteht und durch Geist definiert – und nicht durch Materie, nicht durch Leib, nicht durch Trieb. Geist aber eröffnet eindeutig, wenn auch geheimnisvoll, die Totalität des Seins, und zwar als absolute Totalität (da der Begriff des relativen Seins nur von einem Punkt aus gebildet werden kann, der die Relativität überblickt, anders gesagt, da der Wahrheitsanspruch des Geistes Absolutheit notwendig impliziert). Damit liegen die Dimensionen menschlicher Spiritualität grundsätzlich für uns offen.“ (ebd., S. 248) Erstveröffentlichung des Beitrags in Concilium 1 (1965), S. 715–722 ( = Balthasar 1967, S. 247– 263).

66 Hervorhebungen hier und in den weiteren Lehmann-Zitaten sind original.

67 Nach Pröpper kann Pannenberg sein Anliegen nicht einlösen: „Was aber seine weitergehende Absicht, eben den Aufweis religiöser Implikationen der anthropologischen Befunde betrifft, so handelt es sich, streng geurteilt, um Interpretationen: um Interpretationen eben ‚in theologischer Perspektive‘, um Deutungen also, die zwar grundsätzlich möglich sind, aber Alternativen nicht argumentativ ausschließen und deshalb für einen strengen Aufweis der Gottverwiesenheit des Menschen auch nicht ausreichen können. […] Ich bezweifle, daß der Aufgabe, die uns von der historischen und gesellschaftlichen Situation auferlegt ist, primär dadurch gedient wird, daß man ‚dem öffentlichen Bewußtsein von der Natur des Menschen sein religiöse Dimension zurückzugeben‘ und ihm die Bezogenheit auf die Wirklichkeit Gottes als ‚Konstante des Menschseins von seinen Anfängen an‘ vor Augen zu führen versucht (A 7f.469). Derart wird sich dem säkularen Bewußtsein seine unausweichliche Religiosität kaum noch andemonstrieren lassen“ (Pröpper 2011, S. 436).

68 Hervorhebung im Original.

69 „An entscheidender Stelle im vorangegangen Traktat haben wir schon das, was jetzt als »Theologische Anthropologie« zu entfalten oder auch nur zu skizzieren ist, in einem einzigen Satz zusammengefasst: »Der Mensch ist Schwester und Bruder Jesu Christi.« In der Tat ist für eine Anthropologie mit der theologischen Besinnung auf Jesus Christus im Grunde alles gesagt. Denn Gott zeigt sich ja gerade in Jesus Christus, erweist in ihm seine Gegenwart, um sich dadurch den Menschen zu zeigen und sich an ihnen als ihr Gott zu erweisen. […] Wie Gott sich aber in Jesus Christus in seinem Verhältnis zu den Menschen und zu allen Geschöpfen zeigt und erweist, so entspricht es offenkundig seinem Wesen, das heißt: So ist er überhaupt.“ (Pesch 2008, S. 3)

70 Hervorhebung im Original.

71 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Max Seckler, der einen klassischen theologischen Begriff von Religion – „ordo hominis ad Deum“ – erläutert (vgl. Seckler 1985, S. 182) und anthropologisch vermittelt sieht im Interesse für das eigene Leben im Ganzen: „Es geht in der Religion um die menschliche Existenz selbst, in letzter Hinsicht und im ganzen, insofern diese sich selbst als Aufgabe erkennt und erfährt. Es geht bei diesem Ansatz noch gar nicht unmittelbar um die philosophische Sicht des Menschen als Wesen der Transzendenz, zu dessen Struktur es gehört, ein seine Endlichkeit übersteigendes Geheimnis der Wirklichkeit vorauszusetzen bzw. im Vorgriff und Ausgriff auf es zu leben und sich auf dieses als Erfüllung seines eigenen Seins zu beziehen, wie z. B. Karl Rahner dies beschrieben hat. Es geht vielmehr grundlegend darum, daß der Mensch auf Grund seiner Exzentrizität [vgl. H. Plessner] ein Verhältnis zu sich und zur Ganzheit seines Daseins entwickeln kann und muß, das unter der Devise mea res agitur steht. Es liegt in der Logik eines solchen Daseins, daß hier der anthropologische Ort für bedingungsloses Interesse und totales Engagement ist. Wenn irgendwo, dann sind an diesem Ort auch die Inhalte des intentionalen Gegenstandes der Religion einzuschreiben.“ (ebd., S. 190)

72 Heinz Streib und Ralph W. Hood meinen deshalb mit Bezug auf James, dass sich alle sogenannten „spirituellen“ Erfahrungen im Bereich des Religionsbegriffs einordnen ließen, da dieser Spiritualität umgreife (vgl. Streib u. Hood 2011, S. 446). Vgl. dazu ausführlicher unten S. 66).

73 Hervorhebungen im Original.

74 Vgl. zu seiner Sicht auch einen späteren umfassenden Beitrag (Belzen 2004, S. 302–313).

75 So plädiert auch Bernhard Grom für eine substanzielle Definition: „Religiöses Erleben hat hingegen immer eine spezifische kognitive Komponente, der nur eine ‚substanzielle‘ Definition gerecht wird. Tatsächlich hat die Religionspsychologie in einer langen Forschungstradition gute Erfahrungen mit einem substanziellen Religionsbegriff gemacht, der rein forschungspragmatisch religiöse Phänomene von nichtreligiösen abgrenzt, um sich nicht im Uferlosen zu verlieren. In dieser Sicht kann man sich darauf verständigen, dass als ‚religiös‘ jenes Erleben, Erkennen und Verhalten zu bezeichnen und zu erforschen ist, das in seiner kognitiven Komponente ausdrücklich etwas Übermenschliches und Überweltliches annimmt, gleich, ob dieses poly-, mono- oder pantheistisch oder anders aufgefasst wird.“ (Grom 2009, S. 16) „Als organisierte Glaubensüberzeugung und -praxis wird das Religiöse traditionell als ‚Religion‘ bezeichnet, im Unterschied zu ‚Religiosität‘ als individueller Gestalt des Religiösen.“ (ebd.)

76 Ähnlich warnen Hill, Pargament, Hood et al. (2000) in einem wichtigen Grundlagenartikel Forscher ebenso vor zu restriktiven und engen wie übermäßig weiten Definitionen, die Studien ihrer unterscheidenden Kennzeichen berauben könnten. Wenn jede Annahme oder Aktivität, die einem Menschen ein Gefühl von Identität oder Sinn/Bedeutung gebe (z. B. Zugehörigkeit zu einem Verein), als halb des Bereichs dessen, was religiös bzw. spirituell sei (vgl. ebd., S. 71).

77 „The term sacred is used inclusively here to refer not only to concepts of God and higher powers but also to other aspects of life that are perceived to be manifestations of the divine or imbued with divinelike qualities, such as transcendence, immanence, boundlessness, and ultimacy (Pargament & Mahoney, 2005). Virtually any part of life, positive or negative – including beliefs, practices, experiences, relationships, motivations, art, nature, and war – can be endowed with sacred status“ (Pargament et al. 2013a, S. 14).

78 H. Streib und R.W. Hood kommentieren im Blick auf individuelle Symbolisierungen: „When, furthermore, the term sacred is defined as referring to ‚a divine being, divine object, Ultimate Reality, or Ultimate Truth as perceived by the individual, ‘both religion and spirituality are conceptualized rather in the tradition of a substantive definition of religion, but very open in the variety of individual symbolizations. And in regard to these symbolic characteristics, the authors do not propose any difference between religion and spirituality.“ (Streib u. Hood 2011, S. 445)

79 Zu den Begriffen von Gesundheit und Krankheit generell vgl. den Überblick bei Eberhard Schockenhoff im Abschnitt „Definitorische Grenzziehungen“ (Schockenhoff 2009, S. 300–313).

80 So sagt die WHO in ihrer Definition von Palliativversorgung bei lebensbedrohlichen Krankheiten: „Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual. Palliative care […] integrates the psychological and spiritual aspects of patient care“ (WHO 2002, S. 1)

Vgl. auch das US-amerikanische Grundlagenpapier zu Spiritual Care in der Palliative Care von Puchalski et al. (2009), sowie den Task Force-Bericht der European Association for Palliative Care von Nolan et al. (2011) mit einer Definition für den europäischen Kontext: „Spirituality is the dynamic dimension of human life that relates to the way persons (individual and community) experience, express and/or seek meaning, purpose and transcendence, and the way they connect to the moment, to self, to others, to nature, to the significant and/or the sacred.“ (ebd., S. 88)

Entsprechend sagt die deutsche S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung: „Der Ansatz der Palliativversorgung ist ganzheitlich, wobei der Patient in seinen vier personalen Dimensionen Beachtung findet: physisch, psychisch, sozial und spirituell. […] Die vier Dimensionen sind interrelational.“ (Leitlinienprogramm Onkologie 2015, S. 29)

Die spirituelle Dimension wird beschrieben als „dynamische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie Personen (individuell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz erfahren, ausdrücken und/oder suchen, und wie sie in Verbindung stehen mit dem Moment, dem eigenen Selbst, mit Anderen/m, mit der Natur, mit dem Signifikanten und/oder dem Heiligen […]. Der spirituelle Bereich umfasst dabei: • Existentielle Fragestellungen (z. B. Identität, Bedeutung, Leid und Tod, Schuld und Scham, Versöhnung und Vergebung, Freiheit und Verantwortung, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Freude betreffend) • Werte und Werthaltungen (d. h. das, was für eine Person am wichtigsten ist, beispielsweise das Verhältnis zur eigenen Person, Familie, Freunden, Beruf, Materielles, Natur, Kunst und Kultur, Ethik und Moral, zum Leben als solchem) • Religiöse Aspekte und Grundlagen (Glaube, religiöse Inhalte und Praktiken, die Beziehung zu Gott oder dem Transzendenten)“ (ebd.).

Der Ressourcenaspekt wird ausdrücklich benannt: „Die emotionale und spirituelle Dimension können für den Patienten wichtige Ressourcen sein. Lassen der Arzt und die weiteren an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen dem emotionalen und spirituellen Erleben des Patienten – sei es verbal oder nonverbal geäußert – Raum, unterstützen sie ihn wirksam beim Wiedergewinn von Selbstwert und Kontrolle sowie in der Suche nach neuer Orientierung […]. Auch hier geht es um einen Prozess, dessen Inhalte und Zeitablauf vom Patienten zu bestimmen sind.“ (ebd., S. 137)

81 „Religiosität und Spiritualität können im Kontext einer Krebserkrankung sowohl protektiven als auch belastenden Charakter haben. Zu den spirituellen und religiösen Problemen zählen der Verlust des Glaubens, Zweifel, Hoffnungslosigkeit und Sinnverlust sowie ausgeprägte Schuldgefühle, Ängste vor Verurteilung oder Bestrafung aufgrund religiöser Werte, Probleme der Krankheitsverarbeitung, Todesängste sowie ethische Konflikte im Krankenhaus“ (Leitlinienprogramm Onkologie 2014, S. 36)

82 Aus epistemologischer Sicht z. B. N. McLaren (1998). Hinsichtlich psychiatrischer Krankheitsmodelle und der Gefahr reduktionistischer Konzeptionen meint T. Fuchs: „Das in den letzten Jahrzehnten häufig vertretene ‚biopsychosoziale Modell‘ stellte noch eine Art Kompromisslösung dar, die allerdings oft zu einem bloßen Eklektizismus ursächlicher Faktoren führte“ (Fuchs 2010, S. 237).

83 Vgl. die Zusammenfassung bei Egger (2015, S. 80), textgleich bereits 2005 (Egger 2005, S. 5).

84 „Das erweiterte biopsychosoziale Modell basiert auf der Theorie der Materie-Geist-Einheit und macht sich u. a. die Metatheorien der Allgemeinen Systemtheorie sowie der Leib-Seele-Identitätstheorie zunutze. Es sagt bezüglich geistiger Phänomene einerseits und körperlicher Phänomene andererseits, dass mentale Phänomene (bspw. Gedanken) relativ zum Nervensystem emergent sind. Mit anderen Worten: Seelische Ereignisse sind zwar bestimmt durch und auch energetisch erzeugt von physiologischen bzw. physiko-chemischen Ereignissen, sie sind aber charakterisiert durch emergente Eigenschaften, welche unterscheidbar sind von neurobiologischen Eigenschaften und welche auch nicht reduzierbar sind auf neurophysiologische Tatbestände. Daher ist kein seelisches Phänomen vorstellbar, das nicht zugleich auch ein physiko-chemisches Ereignis ist. Der zentrale Begriff ist hier die Emergenz, also das Hervorbringen von Phänomenen, die auf der jeweils darunter liegenden Systemebene nicht vorhanden sind und deswegen dort auch nicht als Erklärungsgrundlagen zur Verfügung stehen. Das Phänomen der Emergenz wird als ein unverzichtbares Grundprinzip von Naturerscheinungen verstanden.“ (Egger 2015, S. 92)

85 Egger erscheint generell sehr religionskritisch, z. B. auch mit der Ansicht, dass die evolutionäre Erkenntnistheorie „die religiöse Schöpfungslehre atomisierte und Gott „in Raumnot“ versetzte.“ (vgl. ebd., S. 41) f.) Dies dürfte theologisch nicht ganz up to date zu sein, da für die aktuelle Theologie weder Urknallnoch Evolutionstheorie ein Problem sind, wenngleich es mit dem „Kreationismus“ v. a. in den USA eine sehr kritikable andere Position gibt. – Vgl. dazu etwa Medard Kehl (2006), Hans Kessler (2012) oder von ev. Seite Friedrich Schweitzer (2012).

86 „Der Arzt ist daher nicht als Experte aufgerufen, der im Besitz allgemeinverbindlicher medizinischer oder philosophischer Wahrheiten ist, sondern als Mitmensch, der zuhören und sich in die Wirklichkeit eines anderen versetzen kann, der weiß, daß es Antworten gibt, die nur der Betroffene für sich finden kann, der dafür aber die einfühlende Gegenwart eines anderen braucht.“ (Uexküll 1989, Sp. 858)

87 Auch neuere Autoren aus den Bereichen Psychiatrie bzw. Psychotherapie plädieren mit unterschiedlichen Nuancen für ein erweitertes Modell (z. B. Cox u. Gray 2009, S. 589; Verhagen 2009, S. 205; Hefti 2013).

88 Er zieht natürlich auch die Möglichkeit in Betracht, dass man sich gegen jedwede Transzendenz entscheiden kann: „even the person who has chosen to believe that there is no such thing as transcendence has made his or her choice in relationship to that question, which is put before each person.“ (Sulmasy 2002, S. 26)

89 Ähnlich auch Katia Garcia Reinert und H. G. Koenig (2013): „The authors propose defining spirituality in the context of religious involvement when conducting research, while using a broader definition of spirituality when providing spiritual care.“ (Reinert u. Koenig 2013, S. 2622)

90 „[Religion] Involves beliefs, practices, and rituals related to the transcendent, where the transcendent is God, Allah, HaShem, or a Higher Power in Western religious traditions, or to Brahman, manifestations of Brahman, Buddha, Dao, or ultimate truth/reality in Eastern traditions. This often involves the mystical or supernatural. Religions usually have specific beliefs about life after death and rules about conduct within a social group. Religion is a multidimensional construct that includes beliefs, behaviors, rituals, and ceremonies that may be held or practiced in private or public settings, but are in some way derived from established traditions that developed over time within a community. Religion is also an organized system of beliefs, practices, and symbols designed (a) to facilitate closeness to the transcendent, and (b) to foster an understanding of one’s relationship and responsibility to others in living together in a community.“ (H. G. Koenig, D. E. King, and V. B. Carson, Handbook of Religion and Health, Oxford University Press, New York, 2nd edition, 20 12; zit. nach Koenig 2012a, S. 2) f.).

„Spirituality is distinguished from all other things – humanism, values, morals, and mental health – by its connection to that which is sacred, the transcendent. The transcendent is that which is outside of the self, and yet also within the self – and in Western traditions is called God, Allah, HaShem, or a Higher Power, and in Eastern traditions may be called Brahman, manifestations of Brahman, Buddha, Dao, or ultimate truth/reality. Spirituality is intimately connected to the supernatural, the mystical, and to organized religion, although also extends beyond organized religion (and begins before it). Spirituality includes both a search for the transcendent and the discovery of the transcendent and so involves traveling along the path that leads from nonconsideration to questioning to either staunch nonbelief or belief, and if belief, then ultimately to devotion and finally, surrender. Thus, our definition of spirituality is very similar to religion and there is clearly overlap.“ (H. G. Koenig, D. E. King, and V. B. Carson, Handbook of Religion and Health, Oxford University Press, New York, 2nd edition, 2012; zit. nach Koenig 2012a, S. 3).

91 Diese Unterscheidung von Religiosität und Spiritualität sei besonders wichtig in eher säkular geprägten Ländern, wo eine wachsende Zahl von Menschen sich als „spirituell, aber nicht religiös“ betrachte (vgl. Zwingmann et al. 2011, S. 353).

92 Peter Bräunig (Prof. Dr. med., geb. 1953, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Vivantes Humboldt-Klinikum Berlin) sieht hier auch eine ärztliche Aufgabe: „Es ist keine Frage, dass Spiritualität und Religiosität psychisch kranken Menschen dabei helfen können, ihre Krankheit besser zu bewältigen und Erfüllung und Sinn im Leben zu finden. Religiöse und spirituelle Bedürfnisse unserer Patienten wahrzunehmen und darauf einzugehen ist eine genuine ärztliche Aufgabe, deren konstruktive »Bewältigung« positive Auswirkungen auf die Lebensqualität und auf die individuelle Zufriedenheit unserer Patienten haben dürfte.“ (Bräunig 2007, S. 33)

93 In Kapitel 25 Behandlungsbasis erscheint im Rahmen der „Basistherapie im Krankenhaus“ ein weiterer ausdrücklicher Bezug: „Seelsorge. An der religiösen Einstellung des Patienten will die heutige Psychiatrie nicht mehr vorbeigehen, sondern sie ernst nehmen, da sie zum Leben des Menschen gehört. Dabei sind die Grenzen zwischen Psychotherapie und Seelsorge zu wahren, das eine kann das andere nicht ersetzen.“ (Tölle u. Windgassen 2014, S. 328) Wie könnte ihre Verbindung aussehen?

94 Oder Postmoderne oder jüngste Vergangenheit der letzten Jahrzehnte oder wie immer man es nennen möchte.

95 Erstmals: The Invisible Religion (New York: 1967); die verschiedenen Transzendenzen erst 1991 im „Nachtrag“.

96 Luckmann meint, Religion verschwinde nicht in der Moderne, aber die Transzendenzspanne schrumpfe: In der beobachtbaren Privatisierung von Religion gebe es eine Bewegung von großer jenseitiger Transzendenz zu mittleren (polit.) und kleinen Transzendenzen, das Individuum bekomme mit modernen religiösen Themen wie „Selbstverwirklichung“ und persönlicher Autonomie einen „heiligen Status“ (vgl. Luckmann 1990, S. 127–129, 138). Religion sei eine „anthropologische Universalie“ (vgl. Luckmann 2002).

97 Ähnliche Einwände zu Selbsteinschätzungen werden öfters erhoben. Vgl. etwa die Beobachtung von R. W. Hood, dass Menschen auf Fragen nach ihrer religiösen Identifikation zunehmend antworteten, es komme darauf an, was der Interviewer mit Religion meine (vgl. Hood 2012, S. 107). Oder die Bemerkung von S. Dein (2013b), dass Grundkonzepte wie Religion, Spiritualität, Glaube, Krankheit etc. kulturell geprägt seien und die anthropologische Feldforschung eher die allgemeine Verwendung solcher Begriffe erheben statt professionelle Definitionen vorgeben solle.

98 „Baumeister (1991) proposed a reasonable definition of meaning as a ‚mental representation of possible relationships among things, events, and relationships. Thus, meaning connects things‘ (p. 15).“ (Park 2010, S. 257) Der Überblicksartikel von Park ((2010) sei ebenfalls empfohlen, hier findet sich auch die hilfreiche Unterscheidung von globalem Sinn (Global Meaning) und situativem Sinn (Situational Meaning), die in Lebenssituationen wie Krankheit beide herausgefordert sind (vgl. auch Meaning-based Coping in 4.5.1).

99 Unter Rückgriff auf R. F. Baumeister (1991): Meanings of life (New York: Guilford Press) beschreiben die Autoren die Suche nach einem sinnvollen Leben in Form von vier Hauptbedürfnissen: • Bedürfnis nach einem Ziel (need for purpose): „present events draw meaning from their connection with future events“ • Bedürfnis nach orientierenden Werten: „need for values, which can lend a sense of goodness or positivity to life and can justify certain courses of action“ • Bedürfnis nach Wirksamkeit (needfor efficacy): „a belief that one can make a difference“ • Bedürfnis nach Selbstwert (a basis for self-worth): „Most people seek reasons for believing that they are good, worthy persons.“ (vgl. Baumeister u. Vohs 2005, S. 610)

Sinnkonstruktion wird auch hier als aktiver Vorgang betrachtet: „The term meaning-making refers to an active process through which people revise or reappraise an event or series of events.“ (ebd., S. 613)

100 Er fügt einen anschaulichen Vergleich an: „Als Verständnishilfe für eine solche Situation denke man an einen Tennisclub, in dem es mehrere bislang ungeschlagene Spieler gibt: Solange es nie zu einem Turnier »aller gegen alle« gekommen ist, ist die Frage nach dem besten Spieler nicht beantwortbar.“ (Löffler 2011, S. 1995)

101 So z. B. W. Schaupp: „Krankenhäuser sind Orte existenzieller Grenzerfahrungen, man erlebt Ohnmacht, Kontrollverlust über das eigene Leben und die plötzliche Zerstörung bisheriger Lebenshoffnungen. All dies provoziert Fragen nach dem ‚wahren‘ Sinn des Lebens, nach dem Warum von Krankheit und Tod, nach dem Wert des bisher gelebten Lebens, nach dem Umgang mit Lebensschuld, sowie danach, ob es etwas gibt, das den Tod überdauert.“ (Schaupp 2014, S. 23) Und E. Frick: „Krisensituationen sind deshalb so wichtig, weil spirituelle Hintergrundfragen aufbrechen, die im Prinzip auch ohne die Krise gegeben sind.“ (Frick 2014b, S. 56)f)

102 „Reker (2000) fasst die Themen zusammen, die in der Literatur am häufigsten genannt werden […]. Er nennt persönliche Beziehungen, Altruismus, religiöse Aktivitäten, kreative Aktivitäten, persönliches Wachstum, Erfüllung von Grundbedürfnissen, finanzielle Sicherheit, Freizeitaktivitäten, persönliche Leistungen, ein Vermächtnis hinterlassen, Werte oder Ideale, Tradition und Kultur, soziale/politische Themen, humanistische Beschäftigungen, hedonistische Aktivitäten, materieller Besitz sowie Beziehung zur Natur.“ (Schnell 2009, S. 108) Nach G. T. Reker (2000): Theoretical Perspective, Dimensions, and Measurement of Existential Meaning. In: G. T. Reker & K. Chamberlain (Hg.), Exploring Existential Meaning (S. 39–55), Thousand Oaks: Sage (vgl. ebd., S. 315).

103 N = 603; 281 Männer / 322 Frauen, Alter 16 – 85 J., M = 45,3± 16,6 J. (Schnell 2008).

104 „(1) Selftranscendence: Commitment to objectives beyond one’s immediate needs. For further, practically relevant, differentiation between vertical and horizontal orientations (cf. Goodenough, 2001; Schnell, 2003, 2009a) and supported by factor-analysis of its items, this dimension is divided into two sub-dimensions: (1a) Vertical selftranscendence: Orientation towards an immaterial, supernatural power (sample item: My religion gives me strength.) (1b) Horizontal selftranscendence: Taking responsibility for (worldly) affairs beyond one’s immediate concerns (sample item: I strive to do something for future generations.)“ (Schnell 2011a, S. 668).

105 Vgl. auch Schnell 2016, S. 69–72. Natürlich können auch Atheisten, Agnostiker und Indifferente Sinnerfüllung erfahren (vgl. ebd., S. 72–74).

106 Hervorhebung im Original.

107 Peter J. Verhagen dagegen beschreibt es so: „What do we mean when we say that life is meaningful? Meaning giving is not just a matter of value. When we say life is meaningful we mean that our acts and experiences cohere with other acts and experiences, with life as a whole, that acts are performed in the light of an intended purpose that makes it worthwhile in terms of values“ (Verhagen 2012, S. 357).

108 Yalom, Irvin D. (1980): Existential Psychotherapy. New York: Basic Books.

109 Siehe dazu oben S. 63) die Erkenntnisse von T. Schnell zum Anteil von existentiell Indifferenten in der deutschen Allgemeinbevölkerung.

Bei Menschen in Krankheit oder mit anderen Belastungen könnte es jedoch anders aussehen.

110 Sie empfehlen, nicht „unter dem Label ‚Spiritualität‘ das Rad neu zu erfinden.“ (Streib u. Keller 2015, S. 26)

111 Vgl. dazu unten am Ende von Abschn. 2.6.2 (Streib u. Keller 2015).

112 Hervorhebung im Original.

113 Im Einzelnen: „We interpret the components as follows: 1. Spirituality as a Christian way of life, clearly visible in all dimensions; 2. Spirituality as responsibility towards others and nature; 3. Spirituality as striving for mental health: well-being, contentment and balance; vitality, energy and inspiration and the practices that are meant to produce such feelings; 4. Spirituality as a life attitude of inwardness; 5. Spirituality as the paranormal, expressed in beliefs and practices; 6. Spirituality as experiencing the transcendent and the non-perceptible; 7. Spirituality as experiencing the immanent God; and 8. Spirituality as the transcendent God.“ (Berghuijs et al. 2013, S. 386)

114 Zu Methoden und Ergebnissen vgl. die Homepage (www.uni-bielefeld.de/spirituality-research).

115 Vgl. Tab. 2.1: „Spiritualität ist … 1 … (All-)Verbundenheit und Harmonie mit dem Universum, der Natur und dem Ganzen 2 … Teil von Religion, von christlichem Glauben 3 … innere Suche nach einem (höheren) Selbst, nach Sinn, Frieden und Erleuchtung 4 … Festhalten an und Einhalten von Werten und Moral in Bezug zur Menschheit [Ethik] 5 … Glaube an eine höhere Macht, höhere Mächte, höhere Wesen (Gottheiten, Götter) 6 … Intuition von Sphären/Wesen, die zwar unspezifiziert, aber höher und jenseits sind 7 … Erfahrung von existenzieller Wahrheit, Ziel und Weisheit jenseits rationalen Verstehens 8 … Bewusstsein für eine nicht-materielle, unsichtbare Welt, übernatürliche Energien und Wesen (z. B. Geister) [Esoterik] 9 … Opposition zu Religion, dogmatischen Regeln und Traditionen 10 … individuelle religiöse Praxis, Meditation, Gebet, Gottesdienst“ (Streib u. Keller 2015, S. 41).

116 Auch bei Werten findet sich ein Definitionsproblem, wie Giovanni Maio in einem anschaulichen Vergleich aufzeigt: „Werte sind also das, was um seiner selbst willen geschätzt wird, es sind Größen, die sich uns zeigen, ohne dass wir sie immer genau definieren könnten. Denken wir in Analogie dazu an den Versuch, die Farbe Gelb zu definieren: Obwohl eine solche Definition nicht möglich sein wird, wissen wir alle, was Gelb ist, wenn wir etwas als Gelb wahrnehmen, weil es sich uns als Gelb zeigt.“ (Maio 2012, S. 18) – Was für jemanden noch richtig gelb ist, was Richtung weiß oder auch orange oder grün geht … das mag subjektiv verschieden wahrgenommen werden. Vielleicht ist es bei Definitionen von Religiosität bzw. Spiritualität ähnlich?

117 Übernatürliche Erklärungen braucht es wirklich nicht: Siehe unten die verschiedenen Theorien zu gesundheitsgünstigen Wirkungen von Religiosität bzw. Spiritualität (vgl. Abschn. 4.5).

118 „The naturalistic perspective also overestimates the capacity of science to deal with questions of meaning and morality. Science and spirituality explain different but integrated domains of human experience. […] while science ‚works‘ in certain domains, it is not clear how a naturalistic/scientific perspective enables one to make and test claims around meaning and morality.“ (Pesut 2010, S. 19) Hussey antwortet darauf, dass „ science“ auch die Humanwissenschaften umfasse, und moralische Fragen sehr wohl einen Platz hätten (vgl. Hussey 2011, S. 46) f.).

119 Auch das Wort Gott ist in diesem Sinne ein Grenzbegriff: „The word God functions in a similar manner. It is not unintelligible or unimportant, but it denotes an area where positive assertion of characteristics or ideas may be limited or inappropriate because of the subject matter concerned.“ (Swinton u. Pattison 2010, S. 231)

120 Vgl. das Konzept „dichte Beschreibung“ (Geertz 1983).

121 Dem stimmt z. B. auch Eckhard Frick zu: Salander „hat Recht, dass der Containerbegriff ‚Spiritualität‘ ein ‚conceptual stretching‘ ist. Der weite Container-Begriff hat allerdings auch Vorteile. Ein sehr weiter Begriff ermöglicht es uns, die verschiedensten Phänomene innerhalb der Religionsgemeinschaft, aber auch außerhalb, aufzugreifen und auch zu beleuchten.“ (Frick 2014b, S. 63)

122 Idiographisch: den Einzelfall beschreibend; auf das Einzelne, Einmalige in seinem Kontext zielend.

123 Nomothetisch: auf die Auffindung von Gesetzmäßigkeiten zielend.

124 Die Arbeitsgruppe der World Psychiatric Association für die International Guidelines for Diagnostic Assessment (IGDA) betrachtet es als fundamental, ein Assessment des psychiatrischen Patienten als ganzer Person und nicht nur als Krankheitsträger vorzunehmen (vgl. IGDA Workgroup 2003e, S. s37). Eine nomothetische/standardisierte sollte mit einer idiographischen (personalisierten) diagnostischen Formulierung verbunden werden (vgl. IGDA Workgroup 2003a, S. s41). In Kap. 8 Idiographic (personalised) diagnostic formulation findet sich auch ausdrücklich Spiritualität (s. u. S. 92).

125 Am Beispiel Brustkrebs: „The relational/spiritual experiences that such women describe are not a ‚by-the-way‘; they are fundamental to a proper understanding of what breast cancer is. Breast cancer, like all illnesses, is a communal entity that is always owned by some form of community. It is not simply a biological malfunction. It is a radical change in the world of the patient within which a whole new identity has to be constructed as the ways in which the world they perceived and responded to are challenged, reframed and worked out. If we miss this then we miss the heart of the issue.“ (Swinton 2014, S. 172)

126 Vgl. unten die Hinweise zur „Geistlichen Unterscheidung“ (S. 155).

127 Allerdings ist Bedürfnis auch hier kein ganz scharf abzugrenzender Begriff. Dorschs Psychologisches Wörterbuch definiert in der 15. Auflage: „Bedürfnis ( = B.) [engl. need], der Zustand eines Mangels, des Fehlens von etwas, dessen Behebung verlangt wird. B. ist der Ausdruck dessen, was ein Lebewesen zu seiner Erhaltung und Entfaltung notwendig braucht. Ps. ist B. das mit dem Erlebnis eines Mangels und mit dem Streben nach der Beseitigung dieses Mangels (der Befriedigung) verbundene Gefühl. Je nach Einteilungsgesichtspunkten hat man unterschieden: primäre (physiologische) und sekundäre (gelernte, erworbene) B., Trieb- (vitale) B. und geistige (intellektuelle) B., bzw. primitive und kulturelle oder natürliche und künstliche oder, nach verschiedenen Lebensgebieten klassifiziert, z. B. soziale, künstlerische, religiöse usw. B. Die Abgrenzung von B., Trieb und Motiv ist unscharf.“ (Bergius 2009, S. 114)

Aus psychoanalytischer Sicht unterscheidet Salman Akhtar (1999) Bedürfnisse (needs) als universal von Wünschen (wishes), die individuell und erfahrungsgebunden seien. Er schlägt sechs Grundbedürfnisse vor: „(1) the need for one’s physical needs to be deemed legitimate; (2) the need for identity, recognition, and affirmation; (3) the need for interpersonal and intrapsychic boundaries; (4) the need for understanding the causes of events; (5) the need for optimal emotional availability of a love object (in the clinical situation, the analyst); and (6) the need for a resilient responsiveness by one’s love objects (in the clinical situation, the analyst) under special circumstances.“ (ebd., S. 131) Es könnte interessant sein, die hier postulierten Grundbedürfnisse auch im Blick auf Religiosität bzw. Spiritualität durchzubuchstabieren! In diesem Sinne schlägt etwa Neal Krause (2011) vor, die empirischen Zusammenhänge von Religion und Gesundheit basierend auf der Erfüllung grundlegender Bedürfnisse (need for meaning, control, sociality and self-transcendence) einzuordnen.

128 Frick verweist in diesem Zusammenhang (vgl. z. B. Frick 2014a, S. 288) immer wieder auf die Unterscheidung von erfüllbarem Bedürfnis (besoin) und unstillbarem Begehren (désir) bei Emmanuel Lévinas (vgl. Lévinas 1998, S. 209–235, v. a. 225). Könnte evtl. „Sehnsucht“ eine geeignetere Übersetzung sein für Lévinas‘ désir? Spiritualität zielt auf etwas, das nicht einfach zu haben oder zu machen ist. Dies könnte eine Ähnlichkeit aufweisen mit Thomas von Aquins Aussage zum Glaubensakt, dass dieser auf die gemeinte „Sache“ ziele, welche freilich – zumal, wenn es um Gott geht – nicht zu „haben“ ist: „Actus autem credentis non terminatur ad enuntiabile, sed ad rem, non enim formamus enuntiabilia nisi ut per ea de rebus cognitionem habeamus, sicut in scientia, ita et in fide.“ (S.th. II-II, 1,2, ad 2)

129 Dazu auch die Beobachtung von Rüdiger Safranski, dass das „religiöse Bedürfnis“ entgegen Sigmund Freuds Erwartung nicht verschwunden sei: „Das religiöse Bedürfnis ist eine Sehnsucht nach Religion, das Verlangen also, in einen religiösen Lebens- und Erfahrungshorizont hineinzukommen. Und was ist ein religiöser Lebens- und Erfahrungshorizont? Vielleicht läßt er sich definieren als die durch Rituale, Institutionen, Symbole stabilisierte Zugehörigkeit zu einem übergreifenden und tragenden Sinnzusammenhang. Man will in einem seelisch-geistigen Sinne zu Hause sein. Dieses Verlangen nach umfassender Sinnerfüllung ist wahrscheinlich grundlegend. Es kann unterschiedlich befriedigt werden. Und – was das wichtigste dabei ist – dieses Verlangen nach Sinn und Zugehörigkeit kann auch auf perverse Weise befriedigt werden. Religionen können pervertieren – man spricht dann von ‚Ersatzreligionen‘ oder Ideologien.“ (Safranski 2002, S. 17)

130 Das ist ökumenischer theologischer Konsens: Michael Klessmann hält eine funktionale Sicht auf Religion, Weltanschauung und Glaube für ein plausibles Vorgehen in den Gesundheitswissenschaften, das Forschungsperspektiven ermögliche; problematisch sei es aber, „wie nun auch Gott im Sinn unserer westlichen Gesundheitsideologie funktionalisiert wird“ und Gott „der Gesundheit dienstbar gemacht“ werde (vgl. Klessmann 1999, S. 404 f.). Neil Francis Pembroke ist gegen eine völlige utilitaristische Aneignung von Religiosität bzw. Spiritualität, die diese nur zu einer weiteren therapeutischen „Waffe“ mache, plädiert aber für eine Wahrnehmung des Patienten als ganzen Menschen (vgl. Pembroke 2008, S. 553 f.). Klaus Baumann hält eine funktionale Perspektive im Gesundheitswesen für legitim und notwendig, Religion wie auch die persönliche Religiosität/Spiritualität dürften aber nicht darauf reduziert werden (vgl. Baumann 2012, S. 114).

131 Eine empirische Untersuchung von William J.F. Keenan und Tatjana Schnell (2011) an einem deutschsprachigen Sample könnte in diesem Zusammenhang interessant sein: 102 via Internet rekrutierte Personen, die sich als Atheisten bezeichneten, beantworteten den „Fragebogen zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn“ (LeBe; Schnell 2004; Schnell & Becker 2007). Allerdings ist das Sample ziemlich speziell (online, sehr jung, sehr hoher Bildungsgrad) und damit nicht leicht generalisierbar.

132 Richard Sloan vermutet, dass in den USA religiös-sein als sozial erwünscht empfunden werde (vgl. Sloan 2006, S. 147) f.).

Menschen mehr gerecht werden

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