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DIE WENDE 1516
ОглавлениеEs erstaunt immer wieder bei der Lektüre von Zwinglis Texten, wie es dieser fertigbrachte, unreligiös zu schreiben, vor allem in seinen geschichtswissenschaftlichen Studien. Es gibt kaum Sätze, die auf einen Prediger hinweisen würden. In seiner Glarner Zeit bedient sich Zwingli fast ausschliesslich einer Sprache, die einem umfassend gebildeten humanistischen Gelehrten entsprach. Genau das entzückte den Glarner Humanisten Glarean, der gerade in Köln seinen Magister machte und im Sommer 1510 dem Pfarrherrn nach Glarus folgenden begeisterten Brief sandte: «Welch willkommenes Geschenk sind mir die Briefe von dir, du fein gebildeter humanissime Mann! Nichts sehe ich lieber, nichts ersehne ich mehr; sprudeln und strömen und überfliessen sie doch so unendlich reich allüberall von jeder Zier, jeglicher Anmut und Würze. Lese ich sie, so könnte ich in Verzückung geraten und in Traumbildern schwelgen. Denn hier leuchtet so viel gewichtiger Inhalt auf, hier bricht so viel rednerischer Schmuck hervor und streichelt einem dann wieder derartige Klangschönheit das Ohr, dass man wirklich nicht weiss, wem von ihnen die Palme zu reichen ist.»
Und am 18. April 1511 schrieb Glarean aus Köln, er wolle zur Glarner Kirchweih in seine Heimat kommen. Den lateinisch geschriebenen Brief beendete er deutsch mit den Worten: «Wenn ich kum, so wollen wir guter Dinge syn.» Der Besuch fand wirklich statt, denn noch im gleichen Jahr schwärmte Glarean von den herrlichen Stunden, die er mit und bei Zwingli verbracht habe. Sie hatten so vieles gemeinsam: ihre Herkunft, ihre Liebe zur Musik und zu den antiken Autoren.
Und zudem war dieser Kirchherr in Glarus ein stattlicher Mann, wie ihn Zeitgenossen beschrieben, «sein Angesicht freundlich und rotfarben». Er hatte eine melodische Stimme, nicht allzu kräftig, aber fesselnd für die Gemeinde. Im Nu waren die Zuhörer in seinem Bann.
Der Lesehunger Zwinglis war trotz starker Inanspruchnahme durch sein Amt beinahe unersättlich. Vadian, der St. Galler Gelehrte und Freund, nannte ihn einen «eifrigen Liebhaber der guten Literatur». Mehrere der gelehrten Männer der Zeit, mit denen Zwingli in Briefverkehr stand, rühmen ihn für seine Briefe. Er stand mit den Offizinen von Froben in Basel, Lachner und Furter, in ständiger geschäftlicher Verbindung, denn er lebte ja etwas abseits der gelehrten Zentren Basel, Zürich, Köln und Frankfurt.
Er entwickelte eine Schau vom Heil erwählter Heiden, die Schilderung vom himmlischen Gastmahl, an dem alle Heiligen, Weisen, Gläubigen, Standhaften, Tapferen, Tüchtigen teilnehmen, die es seit Erschaffung der Welt gab: das heisst neben den Patriarchen, Aposteln und Heiligen des alten und neuen Bundes auch Herkules, Theseus, Sokrates, Aristides, Antigonus, Numa, Camillus, die Catonen, die Scipionen oder die französischen Könige. Diese Vision hatte schon das Entsetzen Luthers ausgelöst. Theologisch ist sie jedoch nicht «ein Einbruch in die Ausschliesslichkeit christlichen Heilsbewusstseins, den Menschen wertend, ein Stück Wiederbelebung des klassischen Altertums».
Nun bewegte sich Zwingli langsam von seiner festgefügten Katholizität weg. Er begann immer stärker an der katholischen Heilslehre zu zweifeln.
Er kam auch noch Jahre später mehrmals auf seine Entwicklung zu sprechen, bei diesen Bekenntnissen bezeichnete er das Jahr 1516 als den entscheidenden Auslöser zu seiner religiösen Wende, also noch ein Jahr vor Luthers Thesenanschlag. In einer Schrift geht er dann auch später darauf ein und hält fest, er habe die Lehre Christi aus ihrem eigenen Ursprung zur Kenntnis genommen und verinnerlicht, und zwar zu einer Zeit, als ihm Luther noch gar nicht bekannt gewesen sei. Das ist eine wichtige Äusserung zu seiner religiös-reformatorischen Eigenständigkeit. Und ein andermal schreibt er: «Ich habe angefangen das Evangelium zu predigen im Jahr 1516.» Also hat er noch in Glarus diese Wende geschaffen, die neue Art zu predigen hatte wohl hineingepasst in seinen bevorstehenden Wechsel nach Einsiedeln. Und bereits im Frühjahr 1516 erkundigte er sich in Basel nach dem dort erschienenen griechischen Neuen Testament des Erasmus. Nach seinem eigenen Verständnis war Zwingli also im Jahr 1516 wie neu geboren. Sein Erlebnis des Evangeliums muss gewaltig gewesen sein. Ihm öffnete sich eine ganz neue innere Welt: das Neue Testament. Von nun an war das für ihn das Zentrum. Es gab nichts Vergleichbares für ihn. Er trieb Politik, er machte Musik, er befasste sich mit den Griechen und Römern. Aber was das Evangelium ihm bedeutete, das war für ihn von einer Kraft und Ausstrahlung, dass er nicht anders konnte, als alles für diese Entdeckung zu verlangen, was er überhaupt nur verlangen und geben konnte. Er war ausserstande zu begreifen, dass die Innerschweizer Orte sich weigerten, sich dem Evangelium anzuschliessen. Darin ist Zwinglis Mission für die ganze Eidgenossenschaft zu begründen. Das ist der Kern für Zwinglis Bereitschaft zu dem Satz: «Denn schlägt er nicht, so wird er geschlagen.» Zwingli konnte gar nicht anders, als loszuschlagen für das Evangelium. Doch es ging noch ein paar Jahre, er musste sich noch gedulden.
Zwingli war schon nach Einsiedeln übergesiedelt, da bittet ihn der bereits erwähnte Aegidius Tschudi, ob er von Basel aus wieder zu ihm zurückkehren dürfe, da er bei ihm lieber sein würde als an der Universität Basel, das wieder zu verlernen in Gefahr stehe, was er bei ihm gelernt habe. Und dessen Vetter Valentin Tschudi bezeugt ihm, dass er unter seinen späteren Universitätslehrern keinen gefunden habe, der ihm an Gelehrsamkeit und an Verständnis der alten Schriftsteller ebenbürtig wäre. Andere Schüler schildern ihm die Erbärmlichkeiten der in Paris gelehrten bestialischen Sophistereien.
In Glarus, als junger Priester, hatte er auch ein sexuelles Liebesverhältnis mit einer jungen Frau, vollkommen geheim, nicht so unverschämt offen und fast selbstverständlich, wie die meisten Geistlichen es betrieben. «Bei diesen Dingen», sagte er später einmal, «hielt mich das Schamgefühl stets in Schranken, sodass ich, als ich in Glarus war und mich in dieser Hinsicht verging, es aber so im Geheimen tat, dass selbst meine Nächsten kaum etwas davon merkten». Er habe sich immer gehütet, ehrbaren Frauen zu nahe zu treten. Sein Grundsatz sei immer gewesen, keine Ehe zu verletzen, keine Jungfrau zu schänden und keine Nonne zu entweihen. Jedenfalls, das priesterliche Keuschheitsgelübde machte ihm arg zu schaffen, diesem lebensprallen, sinnlichen Mann. Wer weiss, wie stark der Anteil dieser erotischen Seite Zwinglis an der Entwicklung des reformatorischen Prozesses war?