Читать книгу Eisernes Verderben - Franziska Franz - Страница 8

4

Оглавление

Sie lag auf der Couch, sprach aber kaum. Schräg hinter ihr auf einem Sessel sitzend hatte ich längst die Hoffnung aufgegeben, ihr helfen zu können. Sie war paranoid und litt unter massivem Verfolgungswahn. Woher diese Krankheit rührte, konnte ich bestenfalls mutmaßen. Nie kam sie zum Kern der Unterhaltung. Sie war eine hagere, in sich zusammengesunkene Person Mitte vierzig mit einem scharfkantigen Gesicht, in dem sich verbitterte Züge und tiefe Falten angesiedelt hatten. Wie es aussah, war ich nicht in der Lage, ihr die Ängste zu nehmen. Stattdessen registrierte ich ihre unruhigen Blicke und überlegte, an welchen Kollegen ich sie verweisen konnte, denn wir kamen keinen Schritt weiter. Andererseits wünschte ich mir von Herzen, ihr helfen zu können, sah ich doch, wie sehr sie unter ihrer Unruhe litt.

„So antworten Sie doch, Doktor Falkenberg, ich habe Sie das jetzt zum dritten Mal gefragt!“

Nur sehr langsam kehrte ich in die Gegenwart zurück. Ich hatte völlig abgeschaltet.

„Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht verstanden.“

„Ich fragte, ob auch Sie ein Mann sind, vor dem ich mich ängstigen muss, so wie ich vor allen Männern Angst habe. Und ich frage mich, ob auch Sie mir wehtun könnten. Sie haben manchmal so einen sonderbaren Blick, ähm, verzeihen Sie bitte, aber das verunsichert mich.“ Sie hob entschuldigend die Arme. „Sie sagten doch, ich dürfe alles sagen, was ich denke.“

„Aber natürlich dürfen Sie das. Ich möchte Sie gewiss nicht einengen, Frau Melchior. Da befinden wir uns bereits am entscheidenden Punkt. Ich möchte, dass Sie sich öffnen. Dazu gehört, dass ich Ihnen zuhöre. Es steht mir nicht zu, Gefühle zu zeigen oder zu äußern. Aber lassen Sie ruhig Ihre Ängste heraus. Um auf Ihre Frage zu antworten: Natürlich könnte ich Ihnen wehtun, so wie jeder Mensch anderen Menschen wehtun kann, nur mit dem Unterschied, dass ich es gar nicht will und es natürlich auch nicht tun werde. Was hätte ich denn davon? Ich bin Ihr Therapeut und möchte Ihnen helfen. Dafür bezahlen Sie mich ja schließlich. Sie müssen mir vertrauen, andernfalls kann ich wenig für Sie tun, und ich würde Sie dann zu Ihrem eigenen Besten an einen anderen Therapeuten verweisen.“

„Gut. Ich denke, ich habe das missverständlich ausgedrückt.“ Sie entspannte sich ein wenig. „Es ist ja nur, man liest und hört immer so viel. Wissen Sie, man wird ja erst hellhörig, wenn ein Verbrechen in der Stadt geschieht, in der man selber wohnt. Da gab es doch in diesem Frühjahr einen unaufgeklärten Mord in den Niddawiesen. Und na ja, wenn man nun einmal nicht genau weiß, mit welchem oder mit wie vielen Tätern man es zu tun hat, dann kann man es schon mit der Angst zu tun bekommen, denn es könnte ja schließlich jeder sein.“ Sie lachte verlegen. „Mag sein, dass ich zu viele Krimis lese. Man sagt doch, dass es meistens die Menschen sind, denen man es am wenigsten zutrauen würde, und dann, ja dann …“, sie machte eine bedächtige Pause. „Dann, Doktor Falkenberg, kämen selbst Sie infrage.“

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „In den meisten Fällen sorge ich ja wohl dafür, dass meine Patienten lernen, sich in ihrer Haut wieder wohlzufühlen und das Leben als lebenswert zu erachten. Aber natürlich haben Sie recht. Den meisten Verbrechern sieht man es gewiss nicht an der Nasenspitze an. Einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, ist allerdings nicht gerade sehr wahrscheinlich, Frau Melchior, und wenn man nicht im entsprechenden Milieu verkehrt, nahezu ausgeschlossen. Da werden Sie eher Opfer eines Verkehrsunfalls oder Sie brechen sich beim Treppensturz das Genick – was Gott verhindern möge.“

„Ich frage mich oft, ob ich wohl schon mal einem Verbrecher begegnet bin, Herr Doktor. Ja, darüber denke ich wirklich sehr oft nach, und wenn ich ehrlich bin, frage ich mich nicht, ob, sondern eher wie vielen. Womöglich auf dem Anlagenring, da treibt sich ja allerhand dubioses Volk herum.“ Sie wandte den Kopf in meine Richtung, ohne mich anzusehen, und sprach sehr leise. „Ich bin mir sogar sicher, dass schon mal einer hinter mir her war, Herr Doktor.“ Ihr Blick blieb an dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand haften. „Es war dieser … dieser schreckliche Geruch, ein schmuddeliger Mann, er lief eine ganze Weile hinter mir her, er roch nach Schweiß und Zigaretten, derselbe Geruch wie damals.“ Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr. „Die Angst kroch eiskalt an meinen Beinen hoch und ich fürchtete, nicht weiterlaufen zu können. Meine Beine waren auf einmal schwer wie Blei. Doch dann kam uns zum Glück ein Fahrradfahrer entgegen und ich nahm mir ein Herz, hielt ihn an und fragte ihn nach dem Weg. Mein Verfolger ging weiter und verschwand aus meinem Blickfeld.“

Ich war hellhörig geworden – „damals“, das war das erste Mal, dass sie ansetzte, um von ihrer Vergangenheit zu sprechen. Da musste ich nachhaken. „Frau Melchior, Sie sagten, ‚derselbe Geruch wie damals‘, was meinten Sie damit?“

Sie begann zu zittern. „Darf ich, ich meine, wäre es möglich, dass Sie mir einen Schluck Wasser bringen?“ Ihre Stimme klang belegt, als sie sich aufrichtete.

„Aber natürlich, sofort.“ Ich holte ein Glas und eine Flasche Wasser aus der Teeküche, schenkte ein und reichte ihr das Glas. „Immer mit der Ruhe, Frau Melchior, lassen Sie sich Zeit, entspannen Sie sich. Hier wird Ihnen nichts geschehen. Für Sie wird es befreiend sein, über Dinge zu sprechen, die Sie verletzt haben, Sie werden sehen.“

Sie trank in hastigen Zügen, stellte das leere Glas auf den flachen Tisch vor der Couch und wischte ihre feuchten Hände an ihrer Hose ab. Dabei blieb sie aufrecht sitzen. Unruhig sah sie sich im Raum um, als suche sie einen geeigneten Punkt, auf dem sie ihren Blick ruhen lassen konnte. Schließlich sagte sie: „Als ich klein war, wohnte ich mit meinen Eltern in der Rhönstraße, also im Ostend. Ich durfte von dort aus allein zum Spielplatz in der Nähe laufen. Nachmittags holte mich mein Vater immer ab, wenn er von der Baustelle kam. Er war Kranfahrer. Ich schämte mich dafür, denn er roch stark nach Schweiß und nach Zigaretten, er war Kettenraucher. Nie hatte er ein nettes Wort für die anderen Kinder übrig und erst recht nicht für mich. Ja, ich schämte mich so sehr. Jedes Mal ging es ihm nicht schnell genug, dass ich mit ihm kam. Ich hatte solche Angst vor diesem Moment. Regelmäßig bestand er auf einem Umweg über den Röderbergweg. Ich musste vor ihm herlaufen, trotzdem konnte ich ihn riechen, und das machte mir entsetzliche Angst. Weiter unten am Röderbergweg, da gab es dichte Hecken und Gebüsche. Er sagte dann, dass ich mich dort erleichtern sollte, ich dürfe nie einhalten, davon werde ich krank. Er sah mir jedes Mal dabei zu, es war furchtbar.“ Sie fing an zu weinen.

„Hat er …“

Sie hob die Hand. „Ich möchte nicht mehr darüber reden, ich schaffe das einfach nicht.“

Ich reichte ihr ein Taschentuch und wartete, bis sie sich einigermaßen gefasst hatte. „Es ist, wie gesagt, gut und wichtig, dass Sie aussprechen, was Sie bewegt. Darf ich fragen, ob Ihr Vater noch lebt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Er starb vor ein paar Jahren an Lungenkrebs.“

„Er wird Ihnen also nie wieder etwas zuleide tun, Frau Melchior, nie! Er hat seine Strafe bekommen, auch wenn mir nicht zusteht, das zu sagen, denn ich weiß nicht, was er noch getan hat. Ich kann jedoch verstehen, was das mit Ihnen gemacht hat. Sie müssen nun lernen, sich Ihren Ängsten zu stellen, Sie sind eine erwachsene Frau: Richten Sie sich körperlich auf, laufen Sie selbstbewusst durchs Leben, Sie sind viel stärker, als Sie glauben, vertrauen Sie mir.“ Endlich hatte ich einen Ansatzpunkt. Endlich konnte ich ihr helfen. Ich streckte mich. „Allein anhand der Körperhaltung kann man einen Menschen einschätzen. Wenn Sie sich klein machen, gar ängstliche Blicke um sich werfen, dann bringen Sie die Menschen erst auf dumme Gedanken. Verhalten Sie sich jedoch selbstbewusst und wirken Sie stark, wird man Sie nicht belästigen. Glauben Sie mir, Körpersprache macht eine Menge aus. Deswegen sind besonders junge Mädchen leider oftmals Opfer. Oft sind sie noch nicht ausreichend gefestigt. Frau Melchior, es ist momentan doch schon recht lange hell. Ich würde Ihnen gerne etwas verordnen, nämlich dass Sie nachmittags, wann immer Sie Zeit haben, über den Anlagenring laufen, oder von mir aus gehen Sie zum Hauptbahnhof, jedenfalls an irgendeinen Ort, der Ihnen nicht recht geheuer ist. Um diese Tageszeit sind dort so viele Menschen unterwegs, dass Ihnen nichts passieren kann. Setzen Sie sich gegen Ihre Ängste durch, damit diese in Ihrem Leben nicht zunehmend mehr Raum einnehmen. Sie werden sehen, bis zu unserem nächsten Treffen …“ Ich stand auf, lief zu meinem Schreibtisch und schaute auf meinen Kalender. „Also, unser nächstes Treffen ist am kommenden Mittwoch – nämlich morgen in einer Woche. Bis zu unserem nächsten Treffen werden Sie deutlich weniger Angst davor haben, über den Anlagenring zu laufen oder am Hauptbahnhof zu parken oder wo immer Sie sich sonst aufhalten wollen. Kein Mensch wird Ihnen ein Haar krümmen. Gehen Sie zielstrebig und verbieten Sie sich, sich ängstlich umzusehen. Wir werden dann über all Ihre Gefühle sprechen. Tun Sie mir einen Gefallen: Haben Sie keine Angst, Sie brauchen sich nicht umzudrehen. Nicht an diesen belebten Orten.“

„Und da heißt es heutzutage, man solle achtsam sein, besonders an belebten Plätzen, schon wegen der Terrorgefahr, und das noch dazu in einer Stadt wie Frankfurt. Und Sie sagen, dass ich mich nicht umdrehen soll? Na, ich weiß nicht so recht.“

„Liebe Frau Melchior, das soll ja auch nicht bedeuten, dass Sie leichtsinnig durchs Leben laufen. Allerdings dürfen wir uns wegen etwaiger krimineller Handlungen oder der Gefahr eines Anschlags auch nicht alle einschließen. Sie wissen, damit spielen wir den Terroristen nur in die Hände. Was ich meine, ist Folgendes: Gehen Sie mit offenen Augen durchs Leben, versuchen Sie stark und selbstbewusst zu sein und glauben Sie an sich. Tun Sie Dinge, die Ihnen Spaß machen, die Sie gut können, von denen Sie wissen, dass sie Ihnen leichtfallen, denn das stärkt ungemein. Glauben Sie mir bitte.“

Eine Weile sagte sie nichts. Schließlich nickte sie beinahe unmerklich. „Ich werde Ihren Rat beherzigen, Doktor Falkenberg. Und ich verspreche, dass ich mir alle Mühe geben werde.“

„Wenn Sie gesund werden wollen, dann wäre das ein guter Anfang. Zeigen Sie, was in Ihnen steckt. Sie schaffen das!“ Den letzten Satz betonte ich.

Eine ganze Weile sah sie zu Boden. Dabei rieb sie sich die Hände und wischte sie erneut an ihren Hosenbeinen ab, bis ihr Entschluss feststand: „Ich werde es versuchen, bereits ab morgen. Ich möchte ja, dass es mir bald wieder besser geht.“ Sie blickte mich schüchtern an. „Sonst wäre ich nicht zu Ihnen gekommen. Ich weiß ja, von nichts kommt nichts.“

Zufrieden stand ich auf. „Bravo! So soll es sein. Führen Sie Tagebuch, wenn Sie das möchten. Schreiben Sie jedes Mal auf, was Sie empfunden haben, das wird Ihnen helfen. Und wenn Sie wollen, bringen Sie Ihr Tagebuch hierher mit und lesen mir daraus vor.“ Ich kritzelte meine Handynummer auf ein Stück Papier und hielt es ihr hin. „Hier, damit Sie wissen, dass Sie im Notfall mit mir sprechen können. Und besorgen Sie sich Pfefferspray – nur für ein sicheres Gefühl, nicht um es zu benutzen.“

Lächelnd nahm sie den Zettel entgegen und steckte ihn in ihre Handtasche, die auf dem Boden stand. „Danke, Herr Doktor, das werde ich auf jeden Fall tun.“

Ich saß zu Hause vor meinem Laptop, dachte an mein Gespräch mit Hohmeister und googelte den Ironman. Ein Mausklick und die gewünschte Webseite öffnete sich. Wer weiß, vielleicht würde ich mich doch gerne noch einmal mit Hohmeister treffen und mir anhören, wie er das umzusetzen gedachte und wie viel Zeit er in dieses Projekt stecken wollte. Wenngleich mir nicht klar war, ob ich das nicht vorschob. Wahrscheinlich war ich in erster Linie neugierig darauf, was er von mir wollte. Immerhin hatte auch er Psychologie studiert und verstand es womöglich, mich zu täuschen. Wollte er alte Erinnerungen auffrischen? Oder versuchte er, mir doch noch etwas anzuhängen? Um ehrlich zu sein, interessierte es mich auch, wen er da geheiratet hatte. Unattraktiv schien seine Frau nicht zu sein, Lena war es ja auch nicht gewesen, ganz und gar nicht.

Es war Sonntag und das Wetter spielte mit, ein herrlicher, sehr warmer Sommertag, kein Gewitter in Sicht. Ein Tag wie geschaffen, um ihn an der frischen Luft zu verbringen. Ich war guter Dinge, voller Elan und plante, einen Ausflug mit dem Rennrad zum Langener Waldsee zu unternehmen. Wenn ich mich am Ironman beteiligen wollte, dann sollte ich das Gebiet und den See zumindest einschätzen können.

Vom Nordend aus waren es circa sechzehn Kilometer bis zum See, wie ich dem Routenplaner und den Informationen im Internet entnommen hatte – wenn man über Sachsenhausen fuhr und von dort aus den Weg durch den Stadtwald wählte. Die ebene Strecke führte über die Isenburger Schneise. Da ich es nicht eilig hatte und es bereits nach elf war, machte ich einen kurzen Umweg über die Oberschweinstiege, ein beliebtes Ausflugslokal, das, wie ich wusste, um elf Uhr öffnete und mitten im Wald lag. Seit das Lokal vor ein paar Jahren umgebaut worden war, saß ich dort besonders gern bei einem leckeren Essen mit Blick auf den kleinen idyllischen Waldsee, im Volksmund „Vierwaldstättersee“ genannt, um meine Seele baumeln zu lassen und das Treiben der Menschen zu beobachten. Ich blieb an diesem Tag jedoch nur für einen schnellen Kaffee, um dann zu meinem eigentlichen Zielort weiterzufahren. Ich fuhr Richtung Neu-Isenburg, durchquerte den Ort auf der Hauptstraße und fuhr weiter über Dreieich in Richtung Darmstadt. Unterwegs gab ich ordentlich Gas und brauchte nicht einmal eine Stunde, abgesehen von der Pause, die ich mir gegönnt hatte, und fühlte mich noch immer fit, wie ich zu meiner Genugtuung feststellte.

Gegen den Langener Waldsee wirkte der „Vierwaldstättersee“ wie eine Pfütze. Ich war überrascht, als ich den Austragungsort des Ironmans erreichte – ein wirklich bezauberndes Ausflugsziel, beinahe wie ein Ort, an dem man gern Urlaub machte. Der Wald reichte an verschiedenen Stellen direkt bis ans Ufer des riesigen Baggersees, während an der gegenüberliegenden Seite ein felsiges Hanggelände lag. Ein riesiger Sandstrand erinnerte an einen Urlaubsort irgendwo im Süden. Für die Daheimgebliebenen durchaus ein kleines Paradies. Ich stellte mein Fahrrad am Eingang in einen Ständer, schulterte den Rucksack, den ich zuvor auf den Gepäckträger geschnallt hatte, erstand eine Eintrittskarte und sah auf die Uhr. Es war halb eins.

Nicht wenige Sonnenanbeter okkupierten bereits den Strand. Ich warf den Rucksack auf einen freien Platz im Sand in direkter Ufernähe. Da ich die Badehose bereits trug, musste ich nur noch meine Trainingshose und das T-Shirt loswerden, um schließlich mit Anlauf einen Sprung ins kühle Wasser zu machen. Ich schwamm mit kräftigen Zügen. Auch wenn Schwimmen nicht zu meinen Leidenschaften gehörte, kraulte ich recht schnell und gut, fragte mich jedoch, ob ich es mit Hohmeister aufnehmen konnte. Immerhin trainierte er bereits seit mehreren Wochen. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass mir das Schwimmen Freude bereitete. Vielleicht sollte ich mit Hohmeister gemeinsam trainieren. Ich nahm mir vor, ihn später anzurufen.

Ich schwamm noch zwei Runden, dann legte ich mich zum Trocknen in die Sonne. Nicht weit von mir entfernt hatten es sich zwei junge Blondinen auf Handtüchern bequem gemacht. Ich war Ziel ihrer neugierigen Blicke, aber das kannte ich ja schon. Irgendwie kam mir die eine bekannt vor. Sie hatte dunkelblondes Haar und ihre Haare zu einem strammen Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gesicht verbarg sie hinter einer großen Sonnenbrille. Wo hatte ich sie nur schon mal gesehen? Ich kam nicht darauf, und wahrscheinlich täuschte ich mich. Später fiel mir ein, dass Lena gerne große Sonnenbrillen getragen hatte – damals. Offenbar hatte mich die Vergangenheit wieder eingeholt.

Als ich gegen sechzehn Uhr heimgekehrt war und ausgiebig geduscht hatte, beschloss ich, Hohmeister anzurufen. Seine Nummer hatte ich längst gespeichert.

Er nahm beinahe sofort ab. „Harald, das ist ja super, dass du dich meldest!“, rief er geradezu ausgelassen in den Hörer. „Ich habe mit meiner Frau gewettet. Sie meinte nämlich, du würdest höchstwahrscheinlich nicht anrufen, hättest sicher Besseres zu tun. Verena!“, hörte ich ihn rufen. „Ich habe gewonnen! Harald ist am Apparat, du bist mir ein Glas Wein schuldig! Kommst du mal bitte? Warte einen Moment, Harald, ich gebe sie dir.“

„Moment, ich … hallo? Ich wollte doch nur …“, protestierte ich, doch ich vernahm zunächst nur ein leises Rascheln und ein Knacken, dem eine angenehme weibliche Stimme folgte.

„Hallo Harald. Entschuldigen Sie, dass ich Sie beim Vornamen nenne, aber Jan hat mir bereits von Ihnen erzählt, und nun bin ich neugierig. Ich bin Verena.“

„Hallo Verena“, begrüßte ich sie. „Eigentlich wollte ich Sie gar nicht stören, ich wollte doch nur … Ach, egal. Schön, so eine sympathische Stimme zu hören. Ich hoffe, er hat nichts allzu Schlechtes über mich gesagt – Ihr Mann, meine ich.“ Ich lachte.

Auch Verena lachte. „Aber nein, ganz im Gegenteil. Harald, ich habe da eine spontane Idee. Wissen Sie, Jan und ich gehen heute Abend zum Essen ins Größenwahn, da wäre es doch nett, wenn Sie dazustoßen würden. Wissen Sie, was Jan gerade macht? Er hebt den Daumen. Hätten Sie Lust?“

Mein Gott, diese Stimme, so ungewöhnlich melodisch! Vor meinem geistigen Auge sah ich eine bezaubernde Frau. „Das ist wirklich eine nette Idee, Verena. Ich wollte Ihren Mann sowieso treffen, und zwar wegen des Projektes Ironman, von dem er mir erzählte. Also zu Ihrer Frage: Ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann geselle ich mich heute Abend gerne zu Ihnen. An welche Uhrzeit dachten Sie denn?“

„Schatz!“, rief sie. „Wäre dir neunzehn Uhr recht? Okay, ihm ist es recht“, sagte sie zu mir. „Passt Ihnen das?“

„Ich bin einverstanden.“

„Prima, ich reserviere einen Tisch. Bis heute Abend also.“ Sie legte auf, bevor ich mich verabschieden konnte.

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Mein Blick ging ins Leere. Was für eine Frau mochte zu einer solch melodischen Stimme gehören? Aufgrund meines Berufes interessierten mich Stimmen ebenso sehr wie deren Besitzer. Ich malte mir eine Blondine mit langen, seidigen Haaren aus. Bestimmt war sie sehr weiblich. Dieser Mann hatte offensichtlich, was Frauen betraf, ein glückliches Händchen. Für einen winzigen Moment bereute ich es, Single zu sein. Wieder dachte ich an Lena. Ich hatte sie sehr geliebt und tat es womöglich noch immer. Manchmal ertappte ich mich dabei, auch weiterhin davon überzeugt zu sein, dass sie eines Tages vor meiner Tür stand. Was würde sie wohl sagen? „Hallo Schatz, hat etwas länger gedauert, aber da bin ich wieder“? Nein, nach all den Jahren würde sie sich gewiss nicht mehr bei mir melden.

Eisernes Verderben

Подняться наверх