Читать книгу Platzspitzbaby - Franziska K. Müller - Страница 10

Anfang ohne Ende

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Hätten die schweren Jahre nicht alles zerstört, das Gute als Lüge, den glücklichen Zufall als Manipulation enttarnt, den Anfängen dieser Geschichte könnte man eine eigenwillige Romantik nicht absprechen. Wäre ich nicht geboren worden, hätte das Unglück meines Vaters beschränkt sein können. Es kam anders. Heute treiben uns die Erinnerungen an die Anfänge eines Glücks, das sich zum größten Unglück einer tragischen Existenz entwickelte, Tränen in die Augen. Er gab meiner Mutter alles, was er hatte. Liebe. Verlässlichkeit. Geborgenheit. Jahrelang versuchte er das Unmögliche, nahm unfassbare seelische Qualen, körperlichen und finanziellen Schaden in Kauf, um sie zu retten. Ein hoffender Mensch kann viel ertragen, mein Vater ging in seiner Leidensfähigkeit an alle Grenzen. Beinahe ungläubig zur Kenntnis nehmend, was tatsächlich geschieht, fiel später alle Leichtigkeit von ihm ab. Fassungslos blickt er auf ein Leben zurück, das eine Ansammlung feindseliger und grausamer Umstände zu sein scheint, ein hundertfacher Verrat mit katastrophalen Folgen, verursacht durch einen Menschen, dem die Drogen stets wichtiger waren als alles andere.

Entschuldigungen und Rechtfertigungsversuche für die Sucht meiner Mutter gibt es für uns nicht mehr. Der Partner, das Kind waren tausendfach weniger wert als der nächste Heroinschuss. Das ist die beinahe simpel klingende Wahrheit. Doch die Ungläubigkeit über diese Erkenntnis, die man verzweifelt und mit allen Mitteln zu bekämpfen versuchte, träufelte Gift in die Herzen. Die Bitterkeit, der Hass lasten heute schwer auf meinem tapferen Vater, und nur noch selten findet er die Kraft, um die besseren Momente der ersten Jahre Revue passieren zu lassen, so wie sie auch für mich nur noch schemenhaft existieren, als verblassende Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre, von denen ich manchmal nicht weiß, ob sie den Tatsachen entsprechen oder der bloßen Einbildungskraft entspringen. In dunklen Stunden, wenn ich besonders vergesslich werde, ziehe ich ein Fotoalbum hervor, das die ruhigere Zeit in Bild und Schrift beweist.

Auf dem Einband ist eine reich verzierte Wiege mit einem Baldachin aus Spitzenstoff abgebildet: Ein zufriedener Säugling blickt mit großen Augen aus den Kissen. Rundherum fliegen Kolibris, bunt gefiederte Vögelchen und Kirschblüten durch einen frühlingshaften Himmel. »Michelle Halbheer: Geboren am 14. Mai 1985« steht auf der ersten Seite im Innern des Buches mit blauem Filzstift geschrieben. »Fünfzig Zentimeter lang, 3,8 Kilogramm schwer.« Ein gesundes Kind. Die eingeklebte Geburtsanzeige gestaltete die junge Mutter selbst. Aus pinkfarbener Wolle strickte sie winzige Pullover, denen zwei zurechtgeschnittene Zahnstocher als Stricknadeln dienten.

Das dunkelhäutige Baby mit dem weichen Kraushaar schlich sich unverhofft in das Leben der Eltern, seine Ankündigung war ein Triumph, aber auch ein medizinisches Wunder, behauptete Sandrine doch stets, sie könne aufgrund einer Eileitervernarbung unmöglich schwanger werden, was meinen Vater zu einem sorglosen Umgang mit ihr animierte. Doch die Freude über meine Ankunft war dennoch groß, wie mir immer wieder versichert wurde. Das Kind liegt schlafend auf der Brust des stolzen Papas, oder es sitzt zufrieden in einem Kinderstuhl. Sein Heranwachsen wurde in den ersten Monaten in einer Tabelle festgehalten, doch dieses strukturierte Vorgehen entsprach Mutter nicht, und sie ließ es bald bleiben. Festgehalten wurde jedoch mein erstes gesprochenes Wort. In Erinnerung an die entbehrungsreichen Jahre, die folgen sollten, machten sie durchaus Sinn: »mehr«. Die Geschenke, die ich erhielt, wurden minutiös vermerkt: Finklein, ein Plüschbär, den ich noch immer besitze, sowie winzige Ohrringe aus Gold in Elefantenform, die inzwischen auf der Gasse versilbert worden sein müssen. Das erste Blümlein, das ich Mama pflückte, wurde gepresst und eingeklebt, es verschwand im Lauf der Jahre ebenfalls: Ein getrockneter Leimfleck erinnert an diese Geste meiner frühen Zuneigung, die so lange Zeit grenzenlos blieb.

Ich liebte meine Mutter über alles, daran erinnere ich mich mit Schmerz und Wehmut. Sie roch so gut. Sie hob mich in die Luft, und ich vertraute ihr blind. Sie bedeckte mich mit Küssen, umschlang mich mit ihren Armen, maßlos in ihrer Liebe zu mir und immer auf der Suche nach dem Glück, das sie genauso wie das Unglück wie durch eine Lupe stärker und intensiver wahrzunehmen schien als andere Menschen. Die guten Erinnerungen symbolisieren für mich heute den Versuch meiner Mutter, ein normales Leben zu führen. Ein Vorsatz, der fulminanter nicht hätte scheitern können, und die lichten Momente sind heute auch ein trauriger Nachruf auf alles, was mir später abhandengekommen ist.

Meine Eltern zogen nach der Hochzeit in eine kleine Wohnsiedlung an die Peripherie von Zürich. Vaters Wunsch nach einem geregelten und beinahe gutbürgerlichen Leben schien sich zu erfüllen. Die Rasenflächen zwischen den modernen Häusern präsentierten sich sauber und saftig, die übrigen jungen Familien, die dort mit ihren Kindern lebten, gehörten, so ähnlich wie wir, dem Mittelstand an, und die dunkelhäutige Frau mit dem putzigen Baby war ein gern gesehener Gast in den gepflegten Heimen der anderen Mütter. Ich erinnere mich an Ausflüge mit den Eltern, an einen mir endlos erscheinenden Sommer mit einem Planschbecken im Garten und einem Sandkasten, der über Nacht sorgsam abgedeckt wurde. Meine Mutter las mir Geschichten vor und brachte mir die ersten Lieder bei. Die Stimmen meiner Eltern, die sich neckten, stritten und sich später lachend küssten, bleiben mir für immer in Erinnerung.

Vater arbeitete als Akkordmaurer, seine Frau betätigte sich ausschließlich als Hausfrau und Mutter. Sie kochte die besten Rahmschnitzel der Welt. Sie war eine talentierte Strickerin, und meine Garderobe war dementsprechend elaboriert. Einmal buken wir Kekse. Ich durfte Butter, Mehl und Eier verkneten, und zusammen stachen wir aus dem goldgelben Teig Tiere und Sterne aus, die wir allesamt aßen, bevor Papa nichts ahnend nach Hause kam. Die Wohnung, lichtdurchflutet und modern, wurde wöchentlich gereinigt, mein Zimmer war spärlich eingerichtet, jedoch stets ordentlich und sauber. Zu meinem Geburtstag lud Mutter die Kinder der Siedlung ein und servierte eine selbst gemachte Torte. In späteren Jahren sagten die Geladenen weder zu noch ab, blieben jedoch allesamt meinem Fest fern, weil ihnen der Umgang mit mir verboten und mein Zuhause zur Gefahrenzone erklärt worden war.

Die junge Sandrine trug poppige Kleidungsstücke im New-Wave-Stil, und sie war im Besitz einer beachtlichen Sammlung von hochhackigen Schuhen in allen Farben. Die Fotografien zeigen eine hübsche, gepflegte Frau. Nur der Blick – intelligent und widerspenstig – lässt erahnen, dass bald anderes sie beschäftigt haben muss als der bloße Gedanke, wie man Mann, Kind und Nachbarn zufriedenstellt. Ob die Fassade aus bemaltem Karton war, die beim nächsten Windstoß zusammenfallen musste? Wie sah es in ihrem Innern wirklich aus? Waren die geordneten Verhältnisse ein Trugschluss, ein Ignorieren ihrer Persönlichkeit? Nährten die luftigen Gardinen, der akurat geschnittene Rasen, die Routinen und die Rechtschaffenheit den Aufruhr, beschleunigten sie den Drang, alles hinter sich zu lassen? Wie viele Stunden stand sie gelangweilt und innerlich leer mit dem Baby auf dem Arm am Fenster, mit Blick in ein Dasein, dem sie sich nicht zugehörig fühlte, und in der innigen Hoffnung, es möge endlich etwas geschehen?

Mit dem Einverständnis meines Vaters und im Willen, eine Abwechslung vom Alltag herbeizuführen, arbeitete Mutter bald zweimal pro Woche in einer Bar. Sie habe wiederholt von rassistischen Übergriffen berichtet und sei bei ihrer Rückkehr öfters alkoholisiert gewesen, wollte aber unter keinen Umständen auf diese Tätigkeit verzichten, berichtete mir Papa später. In einer dieser Nächte ereignete sich ein dramatischer Zwischenfall: Nach wiederholten sexuellen Belästigungen durch einen Stammgast zerschlug Mutter im Bruchteil einer Sekunde ein Bierglas an der Tischkante und attackierte ihren Widersacher heftig mit dieser tödlichen Waffe. Der Schwerverletzte musste sich einer fünfstündigen Operation unterziehen und ging später rechtlich gegen Mutter vor, die allerdings in allen Instanzen freigesprochen wurde, da sie in Notwehr gehandelt hatte, wie das Gericht befand. Ob Mutters Rage durch diesen Vorfall entfacht wurde, weiß ich nicht genau, aber das gewalttätige Ereignis steht in meiner Erinnerung in Zusammenhang mit einer Zäsur im Leben meiner noch jungen Eltern, und es ist anzunehmen, dass Mutter spätestens ab diesem Zeitpunkt erneut in Kontakt mit harten Drogen geriet: Nach einer ärztlichen Untersuchung hatte man ihr eröffnet, sie sei HIV-positiv. In den späten Achtzigerjahren handelte es sich bei dieser Diagnose um ein Todesurteil, das innerhalb weniger Jahre vollstreckt werden würde.

In meiner Wahrnehmung war Mutter in dieser Zeit schwanger. Die Ärzte beschieden den Eltern, das Baby würde die Geburt nicht überleben oder hätte aufgrund der großen Ansteckungsgefahr ein kurzes sowie leidvolles Leben vor sich. Da befürchtet wurde, dass die Anstrengungen von Schwangerschaft und Geburt die Aidserkrankung auslösen könnten, die Kinder bald als Halbwaisen und der Mann als Witwer weiterleben müssten, entschieden sich die Eltern – so wurde mir später erzählt – schweren Herzens für einen Abbruch: Am Geburtstag von Papa, den er seither nie mehr feierte, opferte man das Ungeborene zugunsten der Mutter und Ehefrau. Die dramatischen Details und Konsequenzen dieser Entscheidung sind mir nicht im Detail bekannt. Ich erinnere mich, dass mich Mutter nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus mit Geschenken überhäufte, eine Geste, die ich als Kleinkind nicht zu deuten wusste, aber in den folgenden Monaten bemerkte ich, wie die Eltern viel weinten und sich zunehmend in heftige Streitigkeiten verwickelten.

Mutters Temperament, das nun auch in nüchternem Zustand explosive Züge aufwies, trat im Umgang mit mir öfters zutage. Ihr Zorn konnte durch einen zufällig fliegenden Funken entzündet werden, und eine einfache Verärgerung artete leicht in große Aggressivität aus. Sie schien in solchen Situationen wie von Sinnen, und es ließ sich erahnen, welch gewaltige Kräfte diese Frau entwickeln konnte, würde sie jemandem tatsächlich Schaden zufügen wollen.

Das Dasein verlief in den ersten vier Lebensjahren scheinbar geordnet: Die Fotografien meiner frühen Kindheit zeigen ein Mädchen in einem bestickten Trachtenkleidchen. Ich sitze breitbeinig und sicher auf einem Dreirad. Oder ich bin artig frisiert ins Bild gerückt, halte eine Eiswaffel oder meinen Plüschbären in die Luft. Heute weiß ich, dass die Idylle bereits unsichtbare Risse aufwies, und bald produzierte Mutter mit der Kamera surreale Momentaufnahmen, die auf eine andere Wahrnehmung der Welt hindeuteten: zerfließende Zimmerpflanzen, eine überbelichtete Fratze und ein Gesicht als bunte Pfütze – ein Bild, das ich keinem Menschen zuordnen kann, den ich kenne. Und anderes hielt sie fest: Wie ich, von zwei großen Hunden verfolgt, durch den Garten renne oder wie ich in halsbrecherischer Höhe ungesichert auf einer Kletterstange sitze mit einem Gesichtsausdruck, der Angst und Unwohlsein verrät. Die Fotografien wurden mit Unterzeilen versehen, doch später strich Mutter das Geschriebene im Drogenwahn durch, beurteilte das Gewesene mit wirren Kommentaren und unzähligen Schandwörtern neu, mehrere Seiten im Album sind heute blutverschmiert.

Während sie dünner wurde, warf ihre grazile Silhouette immer länger werdende Schatten in unser Dasein, und die Unberechenbarkeit hielt Einzug in mein Leben. Fünfjährig, sollte ich einen ersten Pass erhalten, wir fuhren zusammen in die nahe Stadt. Gekämmt und hübsch gekleidet, spazierte ich in übermütiger Vorfreude auf dieses Ereignis an ihrer Hand zum Fotoautomaten, durfte den Drehsitz hochschrauben, die Einfränkler einwerfen. Posierend und ernst dreinblickend, blendete mich das Blitzlicht. Nachdem der erste Streifen mit vier kleinen Bildern Minuten später in der dafür vorgesehenen Öffnung gelandet war, beschloss Mutter eine zweite, gemeinsame Serie, die sie »Spaßbilder« nannte.

Zusammen saßen wir nun auf dem Hocker. Der zugezogene Vorhang schützte uns vor den neugierigen Blicken der Passanten. In dieser abgeschlossenen Intimität, auf ihren Knien sitzend, nahm ich ihren Geruch zum ersten Mal als ungewohnt wahr. Die Frau, auf deren Schoß ich saß, roch nicht wie meine Mutter. Sie schwitzte stark, zwang meine Wange gegen ihr nasses Gesicht. Reflexartig wandte ich mich ab und versuchte, mich aus der Umarmung zu befreien. Bereits wütend, befahl sie mir zu lachen und versetzte mir einen Klaps auf den Hinterkopf, eine in letzter Zeit immer häufiger vorkommende Warnung, mich so zu verhalten, wie sie es forderte. Die Passbilder zeigen Mutter und Tochter. Lachend, aneinandergeschmiegt, ein Herz und eine Seele. Ich wusste: Es ist eine Lüge.

Mutters Wunsch, aufs Land zu ziehen, könnte man positiv interpretieren: In einem Anfall von Vernunft versuchte sie, sich jenen Risiken und Gefahren zu entziehen, die in Stadtnähe lauerten. Doch sie fürchtete die soziale Kontrolle, denen das zunehmend seltsame Verhalten der dunkelhäutigen Nachbarin nicht entging. Das winzige Dorf befand sich im Berner Oberland: Nur wenige Höfe lagen verstreut in grüner Landschaft, Molkerei, Gartenwirtschaft, der kleine Einkaufsladen säumten den Hauptplatz. Kein Postauto existierte, das Fremde hierher- oder die Einheimischen aus dem Dorf wegführte. Das uralte Bauernhaus stand in ländlicher Idylle in einem kleinen Weiler. Um zwei Wohneinheiten zu gestalten, hatten die Besitzer eine Holzwand durch das verschachtelte und nun geteilte Gebäude mit den vielen kleinen Zimmern gezogen, die sich über mehrere Stockwerke verteilten.

Anfänglich waren uns die Nachbarn freundlich gesinnt, doch im Verlauf der folgenden Jahren wurden sie Zeugen von unglaublichen Szenen und damit verbundenen Polizeieinsätzen, die sie in Schrecken und Unmut versetzten. Zwei Tage nach unserem Einzug strich Mutter die Küche gelb. Es blieb in meiner Wahrnehmung die einzige häusliche Intervention dieser Jahre. Anfänglich gab es noch Routinen und einige Regeln, der Fernsehkonsum war beschränkt, ich trug saubere Kleidung, musste mir die Zähne putzen. Vater und Mutter achteten darauf, dass ich mich im Umgang mit anderen manierlich verhielt, jedoch – daran erinnere ich mich jetzt – hielt es Mama für wichtig, dass Erwachsene nicht unhinterfragt als Autoritätspersonen akzeptiert werden, auch Kinder ein Recht auf Widerspruch und eigene Gedanken haben und in diesem Sinn auch Kritik äußern dürfen.

In dieser Haltung ermutigte sie mich, bei anderen Gelegenheiten wies sie mich scharf zurecht: Einmal riss ich einer Fliege die Flügel aus. Mutter nahm mich entsetzt zur Seite, zupfte mich an den feinen Härchen meiner Schläfe und fragte, ob sie ein Haar ausreißen solle, damit ich den Schmerz der malträtierten Fliege nachempfinden könne. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und beherzigte ihre Worte, künftig allen Lebewesen mit dem gleichen Respekt zu begegnen. Solche Erinnerungen lösen eine brennende Sehnsucht in mir aus, weil sie die Persönlichkeit meiner Mutter offenbaren und ihren damaligen Wunsch, mir Werte zu vermitteln.

Ihr späterer Lebenswandel trug nicht zur Verbesserung der Toleranz einer Dorfgemeinschaft bei, in der keine anderen Ausländer lebten und familiäre Probleme hinter den urchigen Haustüren ausgetragen wurden. Aber bereits bevor die Dinge zu Hause außer Rand und Band gerieten, sorgten die Zugezogenen für Geschwätz. Welche unfreundlichen Vermutungen und Urteile man zu den beiden exotisch anmutenden weiblichen Familienmitgliedern anstellte, wurde mir ungefiltert durch den Nachwuchs vermittelt, und bereits im Kindergarten blieb ich – zusammen mit dem zweiten Außenseiter, einem Jungen, der sich am liebsten in der Puppenecke aufhielt – immer allein. Schließlich weigerten sich die anderen Kinder, mich zu berühren. Das Argument lautete, ich sei schmutzig. Der Beweis? Meine dunkle Hautfarbe.

Diesen Vorfall erzählte ich Mutter, und bei dieser Gelegenheit verteidigte sie mich sogar, indem sie am nächsten Tag im Kindergarten vorstellig wurde, alle zum Lavabo zitierte und ihre eigenen Hände mit Seife einschäumte. Die Mädchen und Buben taten nun, was ihnen die fremde Frau befahl. Sie versuchten, Mutters Hautoberfläche vom Schmutz zu befreien, und stellten dabei fest: Der vermeintliche Dreck war offenbar auch mit viel Seife nicht abwaschbar, der Grund für die dunkle Hautfarbe musste also ein anderer sein. Der so erbrachte Beweis für meine Sauberkeit führte dazu, dass die anderen nun manchmal mit mir spielten. Die Abneigung einiger Dorfbewohner blieb intakt, und den später stattfindenden Attacken von manchen Mitschülern blieb ich bald ohne mütterlichen Schutz ausgeliefert.

Vater arbeitete zehn Stunden pro Tag. Mutter blieb fordernd und anmaßend in ihren Wünschen nach einem Mann, der viel Zeit mit der Familie verbringt, andererseits genügend Geld verdient, ein sorgloses Leben zu ermöglichen. Im zweiten Jahr auf dem Land erinnere ich mich nur bruchstückhaft an ihre Präsenz im Alltag und sehe sie mehrheitlich schlafend vor mir; in einem ewigen Dämmerzustand, zu keiner Handlung mehr fähig, trank sie nun regelmäßig Sirup aus einem winzigen Becher. Es handelte sich um die Ersatzdroge Methadon, ein synthetisch hergestelltes Opioid, das auch viele andere Süchtige nicht davon abhalten konnte, weiterhin oder erneut harte Drogen zu konsumieren, wie ich heute weiß. Die Bewegungen wie in Zeitlupe, die Sprache unklar und der bisher so scharfe Blick aus schwarzen Kirschaugen verschwommen, schlief Mutter nun während einer Tätigkeit mitten in der Bewegung ein. Wenn ich sie weckte, mit der kindlichen Forderung nach Beschäftigung, weil ich hungrig oder durstig war, reagierte sie ungehalten, und stets bestritt sie vehement, geschlafen zu haben, eine Behauptung die mit der Forderung verbunden war, Papa auf keinen Fall von ihrer Untätigkeit zu berichten. Ich wurde zur stillen Mitwisserin ihrer unendlichen Müdigkeit, die in meiner Wahrnehmung vieles weniger werden ließ: ihre Zuneigung, ihre Fürsorglichkeit, ihr Lachen, ihre Lebendigkeit und ihre Schönheit.

Und doch war dies mein Zuhause und die Art, wie Mutter agierte, meine Normalität und meine Wahrheit. Die Überzeugung, dass dies ein normales Familienleben sei, die Welt aller Erwachsenen so oder ähnlich funktioniere, begleitete mich lange Zeit. Es gab wenig Möglichkeiten, um zu vergleichen; wie andere Menschen lebten, welchen Regeln und Routinen sie folgten, wie sie miteinander umgingen, wusste ich nicht, da wir kaum Kontakt zu den anderen Dorfbewohnern pflegten. Was ich im Kindergarten feststellte: Die anderen trugen kleine Taschen umgehängt, in denen sich verpackte Brote oder Kuchenstücke befanden, die sie in der Pause verzehrten. Meine Umhängetasche war meist leer. Der zweite Unterschied betraf die Frisuren der Mädchen. Die glatten blonden oder braunen Haare der Mädchen, zur frühmorgendlichen Stunde gescheitelt, mit einem nassen Kamm glatt gekämmt und von den Müttern zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten, beeindruckten mich. Meine Mähne hing meist ungekämmt über die Schultern. Um dem allgemeinen Bild zu entsprechen, vielleicht auch, um eine Fürsorglichkeit vorzutäuschen, die nur noch selten existierte, begann ich mich später selbst zu frisieren. Das Resultat – ein Zickzackscheitel, schiefe Zöpfe und verschiedene Spangen, die ich mir willkürlich in das Haar geklemmt hatte – sorgte bei meiner Rückkehr am Mittag für wenig Begeisterung. An der Schwelle zu einem Wutausbruch, begann Mutter das Kunstwerk schweigend aufzulösen und ab der Kopfmitte grob durchzukämmen: bei dichter und lockiger Haarqualität handelt es sich dabei um ein schmerzhaftes Prozedere, wie sie selbst nur allzu gut wusste. Ich spürte ihre Verärgerung hinter dieser Aktion und spürte instinktiv, dass sie mich für ihre eigene Unzulänglichkeit bestrafen wollte.

Ihre Gedankengänge und Reaktionen wurden zunehmend unberechenbar. Als kleines Kind konnte ich dies so nicht benennen, doch immer öfters ergriff mich Unsicherheit und Angst, wenn Mutter in meiner Nähe war. Unordnung und Abfall breiteten sich im Haus aus, geputzt wurde nur noch selten. Die Katzen warfen ihre Jungen am einzigen Ort, der ihnen reinlich genug erschien: in meinem Kleiderschrank. Noch wiegte sich Vater in der falschen Hoffnung, das Schreckliche möge nicht wahr sein, und konzentrierte sich auf die offensichtlichen Verfehlungen seiner Frau, die eine ausgeprägte Kaufsucht entwickelt hatte. Trotz Ermahnungen und inständiger Bitten konsumierte sie während Monaten beinahe wahllos, was die freie Warenwelt zu bieten hatte. Sie beteiligte sich an Schneeballsystemen, orderte via Teleshopping Unbrauchbares in großen Mengen: Ob der Brusteinlagen, Staubwedel, elektrischen Rührbesen und exotischen Haarteile in allen Farben quoll das Häuschen bald über, während es am Lebensnotwendigen zunehmend fehlte. Einmal entdeckte mein Vater fünfzig Flaschen Markenparfüm in einem Versteck, zwei Wochen später lieferte ein Lastwagen dreihundert Portionen Katzenfutter an.

Papa war außer sich, vor allem, weil im Kühlschrank bis auf ein paar verschimmelte Kartoffeln nun meist gähnende Leere herrschte, er nach der Arbeit immer öfters zu Putzzeug und Pfannen greifen musste, um mir einen Teller Reis oder Teigwaren zu kochen und danach mein kindliches Bedürfnis nach Liebe und Aufmerksamkeit zu stillen. Nur noch selten fabrizierte Mutter eine Mahlzeit, mit meist ungenießbarem Resultat. Einfachste Verrichtungen, das Zusammenfalten eines Kleidungsstückes, das Einstecken des Staubsaugers oder das Streichen eines Butterbrotes, aber auch Wichtigeres erwiesen sich als Aufgaben, denen sie nicht mehr gewachsen war. Jahre später las ich von einem wissenschaftlichen Experiment in den frühen Achtzigerjahren: Einer gesunden Spinne, die bis anhin perfekte, wundervolle Netze wob, wurden winzige Mengen Heroin verabreicht, die im Mengenverhältnis dem menschlichen Konsum entsprachen. Bald wies das neu gesponnene Netz Unregelmäßigkeiten auf, war löchrig, und nach wenigen Wochen schuf das Tier nur noch ein chaotisches Fragment aus wenigen, ungeordneten Speichelfäden, ein trauriges Gebilde. Zur Nahrungsbeschaffung komplett untauglich, verursachte es den sicheren Tod der Spinne – und ihrer Nachkommen. In dieser Zeit starb ich beinahe an einer schweren Blutvergiftung. Extreme Schmerzen und starke Übelkeit relativierte Mutter tagelang als Simulantentum. Endlich im Krankenhaus, breitete sich die Vergiftung bereits in der Hüfte und dem dortigen Lymphsystem aus. Die Notfallärzte herrschten die Eltern an, ich hätte die nächste Nacht nicht überlebt. In den folgenden Tagen musste ich ohne Narkose mehrere Kniespülungen über mich ergehen lassen. Ich litt Höllenqualen, und meine Schreie führten dazu, dass Mutter vor Publikum unter Wehklagen in Ohnmacht fiel.

Das Böse bahnte sich unaufhaltsam den Weg in unser Leben. Im Nachhinein kann ich sagen: Mutter wehrte sich nicht. Nicht für sich und nicht für uns. Sie verfügte über Erfahrungen mit harten Drogen, wusste, dass sich das Ausmaß der Katastrophe mit Verzug entfaltet, in der Schonfrist Narrenfreiheit herrscht, weil sich alles leugnen und vertuschen lässt, auch wenn das Offensichtliche bereits auf der Hand liegt. Sie wusste, dass man sich den Anfängen mit aller Kraft entgegenstellen muss, ansonsten ein Unglück droht, das alles auflösen wird: die Menschlichkeit und die Fürsorglichkeit, den Anstand und die Moral. Sie wusste es, als sie sich mit den immer gleichen Rechtfertigungen vor sich selbst und in stillen Vorwürfen, die meinen Vater schuldig sprachen, einen ersten Schuss setzte, dem tausend weitere folgten. Man kann jene, die an einen glauben und das Schreckliche nicht wahrhaben wollen, lange Zeit belügen, betrügen, bestehlen. Nicht um meinen Vater zu schonen, sondern um sich seiner Kritik zu entziehen, vertuschte Mutter die Tatsachen so lange, bis es zu spät war. Auch für mich, die sie in den Abgrund mitriss, uneinsichtig und mitleidlos.

Heroin, das stärkste Opiat überhaupt, ist eine Droge, die so süchtig macht, dass Menschen, die ihr verfallen, ihre Kinder verhungern und verdursten lassen, für einen Schuss zu Mördern werden, sich für zehn Franken prostituieren. Die Belohnung ist ein Zustand, der als göttliche Erfüllung beschrieben wird, mit einem Aufenthalt im Mutterleib vergleichbar oder mit einem hundertmal größeren Glück, als man es jemals zuvor empfand. In Wirklichkeit entspricht diese Sucht dem Bedürfnis nach einem gefühllosen Zustand, der völligen Loslösung von der Umwelt und dem Verlust aller Wahrnehmung, die einem mit dem Leben und seinen Forderungen verbindet. Nur die Schwächsten finden dies erstrebenswert, jene, denen ein fünfminütiges Ausharren in der Wirklichkeit so unerträglich erscheint, dass sie dieser Angst ihre Existenz opfern.

Neuere Studien besagen, dass neurologische Voraussetzungen die Suchtpersönlichkeit steuern, ein Mangel an Glückshormonen für die Abhängigkeit verantwortlich sei, die als Folge von gestörten Regulationsvorgängen im Belohnungssystem mit Auswirkungen auf Motivation, Gedächtnis und Impulskontrolle betrachtet werden müsse. In diesem Sinn bestimmte die WHO (World Health Organization), dass unter dem Abhängigkeitssyndrom leidenden Menschen keine Willensoder Charakterschwäche unterstellt werden dürfe. In meiner Logik heißt es, dass die Süchtigen keine selbstverantwortlichen Individuen sind, denen man paradoxerweise aber die Kindererziehung überlässt. Vermutlich lebten jene, die diese Definitionen ausarbeiteten, auch nicht jahrelang mit einem drogenabhängigen Menschen zusammen. In meiner Wahrnehmung opferte Mutter dem Zustand des Nichtseins – freiwillig und mit großer Entschlusskraft – alles.

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