Читать книгу Platzspitzbaby - Franziska K. Müller - Страница 9
Sonntagabend
ОглавлениеEs ist Sonntagmorgen. Ich fürchte mich. Ich fürchte mich vor dem Abend und der Rückkehr in ein Dasein, das monatlich durch einen zweitägigen Besuch beim Vater unterbrochen wird. Die Angst steigert sich über den Tag, wir schaukeln auf dem Spielplatz gemeinsam in die Höhe, und beim Spaziergang hält sie meine Hand. Im Sommer sehe ich Familien mit nassen Haaren und Gummibooten unter den Armen auf dem Nachhauseweg. Im Herbst wirbeln Blätter durch die Luft. Jetzt liegt Schnee im Randstein, feine Eisplättchen bedecken die zugefrorenen Pfützen. Beim Abschied vom Vater streicht mir die Angst durch das Haar.
Ich greife im Milchkasten nach dem Schlüssel, laufe durch das Treppenhaus und betrete unsere Wohnung. Schmutz und Chaos, die mit Blut besprenkelten Wände sind nur undeutlich erkennbar. Es ist sehr still. Überall brennen weiße Kerzen. Auf der Ablage liegen Briefumschläge. Für Andreas. Für Michelle. Ich will wegrennen, ich will flüchten, doch Panik und Entsetzen halten mich fest. Als ich Mutter entdecke, ist sie ohne Bewusstsein, im abgebundenen Arm steckt die Spritze, Fingerspitzen und Lippen sind bläulich verfärbt. Wie eine kaputte Puppe liegt sie vor mir, die Kleidung schmutzig, der wilde Haarschopf ungekämmt, die Augen sind verdreht und halb geschlossen. Ich halte sie für tot. Ob Sekunden oder Minuten verstreichen, weiß ich nicht mehr. Als ich aus dem Schock erwache, streiche ich Mutter über das blasse Gesicht, schüttle sie an den Schultern, hämmere schließlich mit den Fäusten auf sie ein. Sie zeigt keine Reaktion. Sekunden später glaube ich einen schwachen Pulsschlag wahrzunehmen, halte ihr einen Spiegel unter die Nase. Er beschlägt sich nicht. Ich flüstere Worte, die ich seit Jahren nicht mehr sagte: »Mama, ich liebe dich doch und mache alles, was du willst, wenn du nur wieder aufwachst.«
Sanitäter und Arzt sind innerhalb weniger Minuten da. Meine Bemerkung, man müsse Mutter vor einem allfälligen Erwachen fixieren, da sonst gewalttätige Übergriffe zu erwarten seien, geht im allgemeinen Tumult unter. Man schiebt mich aus dem Zimmer. Sie denken wohl, diese Szene sei zu viel für ein Kind. Seit ich vor ein paar Wochen miterleben musste, wie Serge an einer Überdosis verreckt ist, man kann es leider nicht anderes formulieren, hat sich das Entsetzen über dieses Leben dauerhaft in meiner Seele eingenistet, und schockieren kann mich nicht mehr viel. Die Notfallärzte injizieren Mutter Adrenalin, und plötzlich ist sie – unüberhörbar – wieder zum Leben erwacht. Sie verwandelt sich im Bruchteil einer Sekunde in eine Furie, verflucht ihre Lebensretter, wirft mit Gegenständen um sich, schreit sich die Seele aus dem Leib. Mittlerweile ist auch die Polizei eingetroffen. Die Aggressivität dieser Frau macht die Beamten sprachlos. Sie wollen mich aus der Gefahrenzone bringen, schieben mich durch den Korridor Richtung Ausgang. Mutter ist längst wieder bei enormen Kräften, reißt mich ins Badezimmer, will die Tür zuknallen und verriegeln, doch eine mutige Beamtin stellt einen Fuß in die Tür. Da ich mich bereits eines Vergehens schuldig gemacht habe, das mir unter Androhung der Todesstrafe verboten ist – nämlich offizielle Stellen auf uns aufmerksam zu machen –, händige ich Mutter die geforderte Dose Haarspray aus, deren Inhalt sie, tobend noch immer, der Polizistin ins Gesicht sprüht. Ordnungshüter samt Arzt und Sanitäter treten den Rückzug an. Sie fliehen wortlos. Sie lassen mich allein. Im Moment, als mich Mutter grün und blau schlägt, fällt die Angst dieses Sonntags von mir ab. Ich bin zehn Jahre alt und werde weitere drei Jahre in dieser Hölle leben, denn auch dieser Vorfall hat keinerlei Konsequenzen, und niemand kommt jemals vorbei, um mich zu retten.
Die wiederkehrende Drohung, sich umzubringen, und Suizidversuche terrorisierten mein Dasein, seit ich ein kleines Kind war. Mutter sprach mich früh schuldig für das sich selbst zugefügte Leid. Mein Verhalten richtete ich stets danach aus, dass sie ihre furchtbaren Ankündigungen nicht wahr machen möge. So kam es zu fatalen Situationen, die mich jahrelang Qualen und Gefahren aussetzten. Manche Menschen, darunter Beamte und Sozialarbeiter, Polizisten und Ärzte, waren stille Mitwisser: Sie wollten mein Elend nicht sehen, gaben Mutters Drohungen nach, schützten ihre Existenz, indem sie mich aufs Spiel setzten. Mein Überleben grenzt an ein Wunder. Jetzt bin ich 28 Jahre alt und mache meine Geschichte öffentlich. Im Willen, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Aber auch um verhindern zu helfen, dass andere Kinder ein ähnliches Schicksal erleiden müssen.
Rund viertausend Mädchen und Jungen leben gegenwärtig in der Schweiz in Familien, in denen zumindest ein Elternteil harte Drogen konsumiert, in Deutschland spricht man von vierzig- bis sechzigtausend betroffenen Kindern. Die Dunkelziffern gelten in beiden Ländern als hoch. Studien und Untersuchungen sprechen von zahlreichen Gefahren, denen diese Kinder ausgesetzt sind, doch Hilfe erhalten bis heute die wenigsten in irgendeiner Form. Für Aufmerksamkeit und Empörung sorgen sie, wenn es zu spät ist: Eine verhungerte Jessica. Eine verdurstete Lara Maria. Ein zu Tode geprügelter Kevin. Eine neunmonatige Tamara, die durch Heroin und Kokain im Milchschoppen getötet worden sein soll. Ihre Mutter wurde von einem Gericht in der Schweiz freigesprochen, da sie – unglaublich, aber wahr – glaubhaft versichern konnte, sie habe ihr Baby geliebt. Nicht nur an diesem Beispiel lässt sich ein Missstand erkennen: Das Wohl der Süchtigen wird über dasjenige ihrer Kinder gestellt, und ob die drogenabhängigen Mütter und Väter ihre Verantwortung als Eltern wahrnehmen, wird durch das professionelle Hilfesystem noch immer nicht infrage gestellt. Auch zum Nachteil jener Kinder, die ihr Unglück verschweigen: aus Angst vor den Drohungen der Eltern, aber auch weil sie ihre Mütter und Väter – trotz allem – lieben.
Das Risiko besteht, dass Mutter eine Kurzschlusshandlung begeht, wenn sie dieses Buch liest: Es ist eine Verantwortung, die ich auf mich nehme. Keine Ahnung, welch dunkle Schutzengel sich stets um sie scharten: Dem Tod sprang sie unzählige Male von der Schippe, und während Tausende aus der Platzspitz-Generation längst gestorben sind, lebt sie heute in einer kleinen Wohnung in einem Alltag, in dem der Gang zur kontrollierten Drogenabgabe und das Methadonprogramm das Wichtigste sind. Manchmal ist sie erneut wochenlang nicht erreichbar, und ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Sie leidet als Folge des jahrzehntelangen Drogenmissbrauchs unter einer beginnenden Demenzerkrankung und ist an Aids erkrankt. Ich erzählte ihr nichts von meinen Plänen, das jahrelang erzwungene Schweigen zu brechen. Vermutlich würde sie das Gesagte zur Kenntnis nehmen, um es in der nächsten Sekunde wieder zu vergessen. Und doch muss ich damit rechnen, dass sie diese Geschichte in einem lichten Moment liest oder von ihr vernimmt. Sie wird das Geschilderte in jedem Fall als Angriff erleben. Auf meine späte Frage – »Wieso hast du dich für die Drogen und nicht für mich entschieden?« – erhielt ich keine Antwort, und wenn ich sie an die schrecklichen Details meiner Kindheit erinnerte, bezichtigte sie mich der Lüge. Sie wird sich auch heute keinen einzigen Gedanken zum Unglück machen, das sie mir, meinem Vater und anderen Menschen auferlegt hat, so wie sie stets bestritten hat, etwas falsch gemacht zu haben. In einem Leben, das auch für sie schlecht startete und nicht einfach war. Entlasten missliche Umstände eine Existenz, die vollumfänglich auf Kosten anderer verläuft? Nein. Weil Menschen freie Entscheidungen treffen und somit die Verantwortung für ihre Handlungen tragen.
Meine Mutter und ihre Schwester gehörten zu den ersten Mischlingskindern der Schweiz: Ihre Eltern lernten sich Ende der Fünfzigerjahre in Paris kennen. Es muss eine stürmische Liebesgeschichte gewesen sein, eine für die damalige Zeit unmögliche Liaison, wie sich allerdings erst nach der Rückkehr in die Schweiz herausstellen sollte. Im 19. Arrondissement von Paris existierte bereits eine große afrikanische Gemeinschaft. Gemischtethnische Ehen und daraus hervorgehende Kinder waren im Schmelztiegel von Belleville nicht gerade an der Tagesordnung; in einem Quartier jedoch, in dem sich Immigranten aus aller Welt, vor allem aus den ehemaligen französischen Kolonien, niedergelassen hatten, stand man dem Profiboxer aus dem Senegal und seiner schneeweißen Schweizer Ehefrau keineswegs feindselig gegenüber. Eine erste Tochter wurde in Frankreich geboren. Die zweite Tochter – meine Mutter Sandrine – erblickte 1961 in der Schweiz das Licht der Welt. Ihre Wurzeln konnten die beiden Schwestern nie verleugnen: Die Mädchen hatten eine dunkle Hautfarbe, und ihre kantigen Gesichtszüge mit den markanten Wangenknochen ließen in späteren Jahren ihre westafrikanische Abstammung gut erkennen.
Opas Hautfarbe, so schwarz wie Ebenholz, erwies sich als Hinderungsgrund, um sich in der Schweiz zu integrieren. Heute ist es unvorstellbar: Der Zutritt in manche Restaurants blieb Großvater verwehrt, und seine ihn begleitende Ehefrau, meine Großmutter, wurde auf offener Straße angespuckt und als Hure bezeichnet. Babou arbeitete als Pneuwechsler, und obwohl er sich anfänglich um Integration bemühte, weckte die gesellschaftliche Zurückweisung nicht seinen Kampfgeist, sondern sie schuf ihm gute Gründe, um so zu sein, wie er eben ist: afrikanisch. Ich erinnere mich daran, dass er wegen wiederholt unerlaubten Fischens verwarnt worden war. Dies kümmerte ihn wenig, und das offizielle Vorgehen, über den Amtsweg ein Patent zu erlangen, erschien ihm widersinnig. Er fuhr fort, das Abendessen für die Familie gelegentlich auf diesem Weg zu beschaffen. Seine Rechtfertigung lautete: »Wenn man im Senegal genug intelligent ist, um einen Fisch an Land zu ziehen, darf man ihn auch essen.« Die europäische Denkweise und die hiesigen Kodexe blieben ihm ein Buch mit sieben Siegeln.
Je stärker sich der Ehemann auf seine afrikanischen Eigenheiten berief, umso vehementer negierte seine Frau alles, was mit dieser Identität in Verbindung stand. Die Ehe der Großeltern wurde aus diesen und anderen Gründen instabil, worauf man die jüngere Tochter als Vierjährige in einem Kinderheim unterbrachte. Meine Mutter berichtete von zahlreichen gewalttätigen Übergriffen, die sie in diesem Umfeld erleiden musste. Sie stand ihnen machtlos gegenüber, da Rückhalt und Trost auch in den zunehmend zerrütteten Familienverhältnissen, in die sie an manchen Wochenenden zurückkehrte, nicht mehr zu finden waren. Meine Großmutter musste die Familie bald aus eigener Kraft durchbringen. Als tatkräftige und dominante Frau schaffte sie dies mit einer erfolgreichen Hundezucht. Gleichzeitig verfiel sie dem Alkohol, wurde medikamentenabhängig, und bei den seltenen Besuchen der jüngeren Tochter zu Hause verprügelte sie diese wegen Nichtigkeiten. Mit der willkürlichen Machtausübung jener, die einen noch Schwächeren auswählen und ihn grundlos misshandeln, wurde meine Mutter nicht nur im Heim, sondern auch daheim konfrontiert.
Weder kulturell noch religiös wurde den Kindern der Bezug zu jenem Kontinent erlaubt, aus dem beide so offensichtlich für jedermann stammten. Das afrikanische Temperament von Sandrine – ungestüm und herzlich – wurde im Heim, aber auch von ihrer Mutter negiert, die damit verbundenen Eigenschaften als negativ qualifiziert. Man muss kein Psychologe sein, um in dieser Kombination etwas Ungutes zu erahnen: eine vergebliche Suche nach Zugehörigkeit, ein nicht erfülltes Bedürfnis nach Anerkennung, das jedem minderen Selbstwertgefühl zugrunde liegt. Es gibt ein Schulbild aus jener Zeit: Dreißig weiße Kinder lächeln in die Kamera, und mittendrin sitzt die schwarze Sandrine mit wildem Haarschopf und verstocktem Blick aus schwarz glänzenden Kirschaugen. Bereits in der Überzeugung, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden, jenen der Mutter nicht, jenen des Umfeldes nicht, fiel sie ab dem Primarschulalter als trotzig und unangepasst auf. Sie antwortete auf die Boshaftigkeit der Welt, indem sie sich selbst schlecht zu verhalten begann. Gleichzeitig eignete sich meine Mutter bereits als Kind eine fatale Haltung an, die sie nie mehr loswurde: Als Opfer schuf sie sich die moralische Legitimation, um sich selbst und anderen Schaden zuzufügen.
Sechzehnjährig, fand sie eine Lehrstelle als Coiffeuse, lebte auf sich allein gestellt in einer winzigen Wohnung. Nach Monaten, in denen sie Haare shampooniert und tausend Frotteetücher zusammengefaltet, Staub gewischt und Lockenwickler auf Perücken gedreht hatte, durfte sie einer Kundin das Färbemittel auftragen. Während eines diffizilen Vorgangs, der eine genaue Beobachtung verlangt hätte, schlief Sandrine ein, worauf die giftige Substanz Frau Bögli in die Augen rann, man heilfroh sein musste, dass sie keinen bleibenden Schaden davontrug. Um der Empörung Nachdruck zu verleihen, wurde der Lehrtochter fristlos gekündigt. Diese musste bereits zu diesem Zeitpunkt mit Drogen experimentiert haben, denn keine Sechzehnjährige schläft am helllichten Tag stehend ein, außer sie leidet am chronischen Müdigkeitssyndrom.
Das Leben meiner Mutter geriet – genauso wie dasjenige Tausender anderer Jugendlichen Ende der Siebzigerjahre – aus den Fugen. Harte Drogen überschwemmten auch die Schweiz. Das Land wurde mit einer Problematik konfrontiert, die man zuerst nicht erkannte und später nicht wahrhaben wollte. Es war auch die Absturzzeit von »Christiane F.«, die ihren Alltag als minderjährige Heroinsüchtige und Prostituierte im später millionenfach verkauften Bestseller »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« schilderte. Das hübsche und kluge Mädchen geriet zur Symbolfigur für die Verbreitung des Drogenmissbrauchs, figurierte aber auch als Antiheldin einer Generation, die mit dem Konsum von Heroin nicht nur Elend und Tod, sondern auch eine Subkultur verband, die sich über die Mode, die Musik, die Sprache definierte. Der Heroin-Chic als glamouröses Gut und die Junkies als gleichberechtigte Gemeinschaft, in der es Zusammenhalt und Liebe gibt? Das halte ich für ein unrealistisches Bild. In Berlin wie in Zürich funktionierte die Szene durchaus hierarchisch. Unterschieden wurde zwischen den Coolen und den Uncoolen: zwischen jenen, die den Absprung noch rechtzeitig schafften, aus eigener Vernunft oder weil sie Hilfe beanspruchten, und den anderen, die von Anfang an in die schwerste Abhängigkeit steuerten.
Meine Mutter gehörte der zweiten Gattung an. Bereits als Jugendliche verkehrte sie im Kreis jener Unglücklichen, die später zu Tausenden auf dem Platzspitz und dem Letten endeten. Sie fühlte sich zu jenen hingezogen, die schwach und verloren waren, liebesbedürftig und Geborgenheit suchend, so wie sie selbst. Die im Kokain eine Krücke für ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein fanden und im Heroin eine Möglichkeit, all ihre Gefühle zu tilgen. Was aus den Berliner Junkies wurde, die vor dreißig Jahren noch der Glanz der Jugendlichkeit und der Schönheit umgab, was Verwahrlosung, Krankheit und Tod aus ihnen machten, erfuhr man nicht mehr. Dass die Elenden Nachwuchs zeugten, Kinder, die sich jahrelang in ihrer Obhut befanden, während ihr Leben auf der Gasse außer Rand und Band geriet, schien niemanden zu interessieren. Christiane F. blieb in den Schlagzeilen, und ihr Sohn stand aufgrund der Prominenz seiner Mutter unter erhöhter Beobachtung. Er wurde ihr weggenommen. Ein Glück, das viele andere Kinder nicht hatten.
Das Schicksal war Sandrine nicht wohlgesinnt, und bereits in ihren Teenagerjahren kumulierten sich die Ereignisse, die auf eine Existenz hinsteuerten, in der anderes bereits wichtiger war als die eigene Unversehrtheit. Eine Geschichte erzählte sie mir später unzählige Male, wenn sie auf einem Herointrip in den negativen Erinnerungen und im Selbstmitleid hängen blieb. Als Jugendliche reiste sie per Autostopp nach Paris, geriet in die Fänge einer Menschenhändlerbande, die junge Mädchen mit Drogen vollpumpte, ihnen Pässe und Geld abnahm, um sie später an verschiedene Bordelle in ganz Frankreich zu verkaufen. Nach längerer Gefangenschaft – Mutter sprach nie darüber, was in diesen Wochen geschah – gelang es Sandrine, mit handgeschriebenen Zetteln, die sie dutzendfach aus dem Fenster warf, auf sich aufmerksam zu machen. Sie und drei andere Mischlingsfrauen wurden durch Interpol befreit, die Verantwortlichen verhaftet. Später wurden deren Machenschaften im preisgekrönten Kinofilm »96 Hours« thematisiert, und Mutter schien beinahe stolz, Teil des dramatischen Geschehens gewesen zu sein.
Über die folgenden Jahre ihres jugendlichen Lebens weiß ich wenig. Vermutlich geriet sie in eine sich schnell drehende Abwärtsspirale aus Heroinkonsum und Beschaffungsstress. Ein Teufelskreis, der durch das Auftauchen meines Vaters unterbrochen wurde: Sie lernten sich im Rotlichtmilieu von Zürich kennen. Mama war 22-jährig, mein Vater ein Jahr älter. Der Bauernsohn aus dem Kanton Thurgau galt bereits in jungen Jahren als rechtschaffener Mann. Er stammte aus einfachen, aber geordneten Verhältnissen, in denen Tugenden wie Ordnung, Fleiß und Pflichterfüllung an oberster Stelle standen. In seinem Elternhaus lebten verschiedene Generationen unter einem Dach. Der verantwortungsvolle Umgang mit anderen genoss in seiner Familie einen hohen Wert. Geschlagen wurde nicht, es gab Liebe und Fürsorglichkeit, jedoch bestimmten verbindliche Regeln den streng strukturierten Alltag. Sein Vater arbeitete ein Leben lang hart; zuerst als Bauer, dann dreißig Jahre lang in einem Autohaus. Die Früchte seines Fleißes kamen der Familie zugute. Man bezahlte die Rechnungen ohne Verzug und konnte sich in bescheidenem finanziellem Rahmen etwas leisten: Der Junge fuhr ein Motorrad, später durfte er die Autoprüfung machen. Sein Leben verlief – bevor er auf meine Mutter traf – gradlinig. Es gab in seiner Biografie keinerlei tragische Brüche.
Was Andreas plante, führte er zu Ende, und zwar mit Erfolg. Nach der abgeschlossenen Lehre fand er sofort eine Anstellung als Maurer und bezog eine eigene Wohnung. Er liebte Rockmusik, trug bunte Hosen mit Schlag und in Anlehnung an seine Bewunderung für die Hells Angels ein schwarzes Ledergilet, das mit den Abzeichen seiner Lieblingsbands geschmückt war. Nach der Arbeit trank er ein Glas Bier, und manchmal rauchte er eine Zigarette. Der Exzess war ihm fremd, da er grundsätzlich über einen maßvollen Charakter verfügte. Seine einzige Extravaganz, das Faible für schöne Mischlingsfrauen, wurde ihm prompt zum Verhängnis: Die groß gewachsene Sandrine, feingliedrig und doch so kräftig wie eine afrikanische Stammeskriegerin – in Gestalt und Glanz jenen geschnitzten Statuen nicht unähnlich, die als stumme Mitbringsel von einer Keniareise tausendfach Schweizer Wohnwände zieren –, verzauberte meinen Vater auf der Stelle.
Obwohl oder gerade weil meine Mutter über ein angeschlagenes Selbstwertgefühl verfügte, blieb ihr Auftreten auch in den schlimmsten Absturzzeiten beeindruckend dominant, herrisch und von einer dermaßen übertrieben zur Schau gestellten Arroganz, dass sie andere leicht in Angst und Schrecken versetzen konnte. In jungen Jahren war diese künstliche und durch das Kokain noch gesteigerte Selbstüberschätzung weniger ausgeprägt, doch ein gefügiges Lamm war sie auch damals nicht. Als leicht geschürzte Table-Dancerin in einem Cabaret-Klub beschäftigt – in den hinteren Zimmern wurde heimlich animiert –, unterhielt sich die exotische Schönheit im breitesten Zürcher Dialekt mit dem Bauernsohn aus dem Kanton Thurgau. Sie symbolisierte das Gegenteil von allem, was er kannte. Sie eröffnete ihm eine neue Welt: Freiheitsliebend, chaotisch und risikobereit, akzeptierte sie keine Regeln, und die Werte einer gutbürgerlichen Erziehung hatte sie nicht nur ungenügend kennen gelernt, sie waren ihr inzwischen auch komplett egal. Ihr damaliges Temperament, laut, herzlich und unverfroren, nahm ihn ebenso wie ihre Schönheit gefangen, erzählte mir Vater später.
Ob und bei welcher Gelegenheit Papa ihre Drogensucht bemerkte, ist nicht überliefert. Beim ersten Treffen mit seiner Mutter schien die Geliebte allerdings nicht bei klarem Verstand zu sein, stürzte im alten Bauernhaus kopfüber die große Kellertreppe hinab und brach sich beinahe das Genick. Oma soll ihren Sohn daraufhin sorgenvoll angeblickt haben, und in böser Vorahnung sprach sie den Satz: »Willst du dir das wirklich antun?« Er wollte, und zwar um jeden Preis. Diese Liebe erkannte er nicht als fatal, sie war für ihn eine Aufgabe, eine Lebensaufgabe. So wie man eine Ausbildung beendet oder einen Marathon durchstehen kann, vertrat er die Meinung, dass auch einer Drogensucht mit dem Willen beizukommen sei. In seiner maßlosen Verblendung ging er so weit, dass er selbst exzessiv Kokain zu konsumieren begann, allein um die Frau seines Lebens Monate später im Entzug begleiten zu können. Die Dosis wurde fortan unter seiner Aufsicht täglich verringert, so lange, bis beide abstinent waren.
Dies glaubte zumindest mein Vater, und beflügelt von diesem Erfolg, der für ihn wie ein Versprechen an die gemeinsame Zukunft klang, befreite er seine Verlobte in einer halsbrecherischen Aktion endgültig aus den Verpflichtungen des Rotlichtmilieus. Nun war sie in Sicherheit, nun gehörte sie ihm allein. Meine Mutter, ebenfalls verliebt, jedoch auch gerissen, wenn es um ihre eigenen Vorteile ging, wie ich heute weiß, erkannte in diesem Mann eine Chance, packte den so unvermutet zugeworfenen Rettungsanker mit beiden Händen und verhakte diesen fest in ihrer brüchigen Existenz. Ein Jahr nachdem sich das ungleiche Paar zum ersten Mal begegnet war, stand Sandrine hochschwanger auf dem Standesamt und antwortete: »Ja, ich will.«