Читать книгу Platzspitzbaby - Franziska K. Müller - Страница 11
Frühe Schicksalsjahre
ОглавлениеSechsjährig, machte ich einen folgenschweren Fund. Unsere Möbeleinrichtung stammte aus diversen Brockenhäusern, und manch gut erhaltene Stücke erhielten meine Eltern von Kollegen. Beim Prunkstück des gemütlichen Mobiliars handelte es sich um eine weiß lackierte Wohnwand mit stuckaturverzierten Spiegeln. Die wie aus Zuckerguss hingespritzten Ranken und Rauten begeisterten mich ebenso wie die in den einzelnen Fächern untergebrachten Errungenschaften: ein Videogerät und ein CD-Player. Als Kleinkind schuf mir ein erstes Baby-Kassettengerät mit einem pinkfarbenen Mikrofon eine musikalische Grundlage, die sich später als wertvoll erweisen sollte. Meine damals tausendfach aufgenommene und wieder abgespielte Stimme schulte mein Gehör früh, und noch heute erkenne ich den gesungenen Misston sofort. Irgendwann wurden die Batterien meines Lieblingsspielzeugs nicht mehr ersetzt, und nach Jahren, in denen ich Papas Schellackplatten aus den Plattenhüllen gezogen, heimlich auf den Plattenteller platziert und die Nadel vorsichtig daraufgesetzt hatte, um die Klänge von Led Zeppelin und Tina Turner in mich hineinsickern zu lassen, eröffneten mir die neuen, silberfarbenen Scheiben den Zugang zur rätselhaften Gefühlswelt der Erwachsenen. Hymnen wie »Stairway to Heaven« oder David Bowies »Moonage Daydream« sind für mich bis zum heutigen Tag mit dem Niedergang meiner Familie verbunden.
Wie so oft schob ich an diesem späten Nachmittag eine Haarspange in den Videorecorder. In der kindlichen Hoffnung, die Silhouette des Objektes möge bald auf dem schwarzen Bildschirm erscheinen, vertrieb ich mir mit diesem Spiel regelmäßig die Zeit. Das Vorhaben misslang, und da es mir eigentlich verboten war, mit den technischen Gerätschaften der Erwachsenen zu hantieren, musste die Klammer auch wieder entfernt werden, was sich diesmal als schwierig erwies. Ich zog die schwarze Box hervor, drehte, wendete und schüttelte sie so lange, bis die Klammer zu Boden fiel – und mit ihr ein mir unbekannter Gegenstand, den ich sofort als Geheimnis erkannte, das ich aus seinem Versteck befördert hatte. Zwei Stufen auf einmal erklimmend, rannte ich ins elterliche Schlafzimmer im oberen Stockwerk, weckte meinen Vater, der sich kurz hingelegt hatte, und hielt ihm meine Entdeckung vor das Gesicht. Ich sehe Papa noch heute vor mir, wie er sich mit einem gewaltigen Ruck aufsetzte, mir das Fundstück langsam aus der Hand nahm und es sekundenlang mit versteinerter Miene betrachtete: In seiner Hand lag ein Kanülendeckel. Ein durchsichtiger Plastikschutz, in dem eine Injektionsnadel steril und sicher aufbewahrt werden kann. Er schwieg. Fassungslos. Die Hoffnung auf einen Schlag zerstört, alle Beschwichtigungen als Lüge enttarnt: Schluchzend bestätigte Vater meine Befürchtung, dass etwas sehr Schlimmes geschehen war.
Was ich bis anhin als beängstigende, für mein kindliches Verständnis aber auch als normale Zustände wahrgenommen hatte, erwies sich als Auftakt einer Katastrophe, die sich im grellen Licht der Wahrheit unbändig verhielt. Gewohnt, einen Fehler gutzumachen, indem man sein Verhalten zu ändern versucht, stellte ich fest, dass der schreckliche Fund bei meiner Mutter das Gegenteil bewirkte: Sie agierte von nun an entfesselt und wie befreit. Heute weiß ich: Sie ließ sich abermals in ein Methadonprogramm aufnehmen, aber wie die meisten Süchtigen jener Zeit verscherbelte sie die Ersatzdroge bald auf dem Zürcher Platzspitz, um an Bargeld zu gelangen, oder sie konsumierte das Methadon in einem lebensgefährlichen Mix mit anderen harten Drogen: Heroin und Kokain. Diese selbstmörderischen Cocktails trieben sie später in psychotische Zustände, an den Rand des Wahnsinns und in den folgenden Jahren unzählige Male beinahe in den Tod.
Innerhalb weniger Monate veränderte sich ihre Persönlichkeit. Während ihr Äußeres in hübsche Kleider gehüllt blieb, die Lippen manchmal noch rot schimmerten, die Augen mit Kajal umrandet waren, wurde sie krankhaft egomanisch und zunehmend unberechenbar im Umgang mit Vater und mir. Wie die meisten Junkies schreckte sie vor keiner Lüge, keinem Diebstahl und keinem Verrat zurück, um ihre Sucht zu befriedigen. Die Ersparnisse längst heimlich für den Drogenkauf entwendet, betrog sie Vater in den folgenden Jahren um den hart erarbeiteten Lohn und meine Großmutter um Zehntausende von Franken. Oma tolerierte das längst auffällige Verhalten ihrer Schwiegertochter, damit die Verbindung zu Sohn und Enkelin nicht abbrechen möge. Sie blieb nebst meinem Vater die einzige verlässliche Bezugsperson in meinem Leben. Die wenigen verbliebenen Kontakte zu Erwachsenen brachen in den folgenden Monaten ab, sogar Mamas geliebte Schwester, die es trotz der widrigen Umstände in der Kindheit zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte, distanzierte sich von uns. Den Kindern im Dorf wurde der Aufenthalt bei mir zu Hause bald verboten, und ich selbst war kein gern gesehener Gast mehr bei meinen Kollegen. Die desolaten Zustände im Hause Halbheer drangen immer öfter nach außen und setzten offensichtlich auch den Hartgesottenen zu, vielleicht distanzierten sie sich auch aus Angst, Faulheit oder Feigheit.
Allein Oma hielt zu uns. Sie litt für mich und für ihren Sohn, dem das Leben ebenfalls entglitt, dessen Kraft nach arbeitsreichen Tagen kaum ausreichte, um das Kind zu versorgen, die Frau zu zähmen, die jetzt auch tagelang verschwand. Einmal reinigte Großmutter die in Chaos und Dreck versinkende Wohnung. Zehn Stunden lang. Mutter duldete diese Hilfeleistung so lange, bis die letzte Mülltüte entsorgt und die Putzeimer scheppernd verstaut waren. Danach erschien sie verschlafen und mit wirrem Haar auf dem Treppenabsatz, beschuldigte, beleidigte und bedrohte Großmutter so ausgiebig, bis diese heftig schluchzend das Haus verließ. Doch sie kam wieder. Oma blieb mein Ein und Alles. Sie entschädigte mich für vieles: Falsches Mitleid für meine Situation kannte sie nicht. Sie half mir durch ihre schnörkellose Präsenz, zeigte mir, was Menschlichkeit und Empathie bedeuten. Sie erzählte mir Geschichten und kochte mein Lieblingsessen. Sie tat, was ich später verlernte und wofür mir bereits als kleines Kind die innere Ruhe fehlte: Sie spielte mit mir und ermunterte mich, eigene Fantasiewelten zu kreieren. Sie gab mir damals die Stärke, um alles, was noch kommen sollte, durchzustehen, und im Nachhinein betrachtet, ist es auch ihrer Liebe zu verdanken, dass ich meine Kindheit überlebte. Die einzige Unterstützung wurde mir – ein Jahr nach dem folgenschweren Fund – durch jene Person geraubt, der ich inzwischen gleichgültig zu sein schien.
Mein siebter Geburtstag wurde mit einer Torte nachgefeiert, die nicht Mama gebacken hatte, und das entsprechende Bild in meinem Album lässt nicht erahnen, was sich wenige Tage zuvor ereignet hatte: Oma war mit mir in die nächstgelegene Stadt gereist. In den Auslagen des teuersten Schuhgeschäfts lagen winzige Lackschuhe mit goldenen Schnallen, Stiefeletten mit Knöpfen und Pantoffeln aus purpurfarbenem Plüsch. Im Stuhl sitzend, blickte ich auf meine zerschlissenen Turnschuhe. Scham und Vorfreude mischten sich bei der Anprobe weißer Riemchensandalen, die mit ausgestanzten winzigen Schmetterlingen aus echtem Leder verziert waren. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen. Ich bezweifelte, ob ein solcher Luxus für mich bestimmt sein könnte. Doch Großmutter bestand auf den Kauf, und als wir nach Hause fuhren, trug ich das kostbare Geschenk bereits an den Füßen. Daheim angekommen, verstrichen keine fünf Minuten, als draußen eine Autotür knallte. Mutter verfügte über einen siebten Sinn, wenn mir etwas Gutes geschah, das sie mir nicht bieten wollte und mir in der Folge immer häufiger auch verdarb. Die Gründe für ihre unberechenbaren Zustände ließen sich auch mit viel Erfahrung nicht entschlüsseln, da sie längst keinen verbindlichen Regeln mehr folgten. Was ich hingegen blind erkannte, war ihre Aura, wenn sie Ungutes erahnen ließ, was sich in einer übermäßig aufrechten und ausladenden Körperhaltung zeigte, an ihren durchgestreckten Beinen und akustisch am harten Aufschlag ihrer Schritte. Im Wissen um diese Vorwarnung versteckte ich mich jeweils sofort: zu Hause hinter meinem Hochbett, bei Großmutter hinter diversen Möbelstücken. In Anwesenheit von anderen fasste mich Mutter nicht an. Blaue Flecken oder Striemen verbarg ich unter entsprechenden Kleidungsstücken, und aus Angst vor den angedrohten weiteren Bestrafungen erzählte ich niemandem von diesen Züchtigungen, die in der Abwesenheit von Papa stattfanden.
Nun riss Mutter die Haustür auf, schrie meinen Namen, zerrte mich hinter einer Kommode hervor, und obwohl ich auf einiges gefasst war, überraschte mich die Heftigkeit ihrer Wut, die der Blick auf meine Füße provozierte. Die Beschimpfungen steigerten sich zu einem rasenden Tobsuchtsanfall, und schreiend beschied sie ihrer Schwiegermutter, diese habe nicht zu entscheiden, welches Schuhmodell ich zu tragen hätte. Der wahre Grund für die cholerischen Ausfälligkeiten war mir klar: Mutter hatte die hundert Franken für einen anderen Kauf als neue Sandalen für mich einkalkuliert. Da sich Großmutter dem Befehl widersetzt hatte, ihr das Geld in bar auszuhändigen, riskierte Mutter in den kommenden Stunden, auf den »Aff« zu kommen, wie man jenen zitternden und schwitzenden Zustand nennt, wenn der Körper auf Entzug ist. Ihn fürchtet ein Junkie mehr als alles andere, denn die Drogenbeschaffung wird in dieser extremen Verfassung beinahe unmöglich. Der Streit eskalierte in Anwesenheit meines Vaters, und ich realisierte zum ersten Mal, dass meine irrsinnige Mutter nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für uns darstellte. Schließlich musste die Polizei alarmiert werden, aber anstatt die offensichtlich unter Drogeneinfluss stehende Frau zur Räson zu bringen, die kurz zuvor verkündet hatte, sie nehme mich mit nach Zürich, auf die Gasse, entschieden die Ordnungshüter anders: Ohne Befugnis, wie ich heute weiß, sprachen sie an Ort und Stelle eine definitive Kontaktsperre aus. Zum einzigen Menschen, der mir in Abwesenheit von Papa bisher Trost und Sicherheit vermitteln konnte: Oma.
Bald verbrachte ich die Tage mehrheitlich auf mich allein gestellt. Papas Idee, mich auf die Baustelle mitzunehmen und in den Unterkünften der Arbeiter unterzubringen, erwies sich nicht als dauerhafte Lösung, und manche Fragen forderten Antworten, die er nicht geben konnte: Wo ist deine Frau? Nach wochenlanger Abwesenheit kehrte sie jeweils in desolatem Zustand zurück, den ich nicht zu deuten wusste, der für mich aber nichts mehr mit meiner Mutter zu tun hatte. Trotzdem liebte ich sie weiterhin und geriet – wie ich im Nachhinein sagen muss – in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis, blieb ihren Manipulationen, den Drohungen, der Vernachlässigung machtlos und lange Zeit unfähig zur Kritik ausgeliefert. Jahrelang glaubte ich, die Hauptschuld an einem Unglück zu tragen, von dem ich nicht wusste, ob es tatsächlich existierte, und hätte ich den Verrat begangen und meinen Kummer hinausgeschrien: Der Preis für mein Wohlergehen wäre der Tod derjenigen gewesen, die mich geboren hatte.
Schweizer Zeitungen berichteten schon früher regelmäßig von den katastrophalen Zuständen auf dem Platzspitz, und nachdem ausländische Medien auf die offene Drogenszene mit Tausenden von verelendeten Schwerstsüchtigen aufmerksam geworden waren, sorgte der »Needle-Park« auch weltweit für Entsetzen. Mutter hatte in dieser Hölle gefunden, was sie zum Leben benötigte: Sämtliche Drogen waren rund um die Uhr erhältlich und konnten an Ort und Stelle sofort konsumiert werden. Die Abgabe steriler Spritzen war von einem politisch bürgerlichen Lager indes heftig bekämpft worden. Einen solchen Akt betrachtete man als offizielle Anerkennung einer Problematik, der man überfordert gegenüberstand und mit Repression beizukommen versuchte. Mit schlimmen Konsequenzen für jene, die längst durch alle sozialen Raster gefallen waren. Die stumpfen Spitzen der hundertmal verwendeten Injektionsnadeln wurden an einem Schmirgelpapier angeschliffen, danach fanden sie Verwendung in Dutzenden von Armbeugen und Kniekehlen. Die Übertragung von lebensbedrohlichen Krankheiten als Folge dieser Praxis bezeichnete man später als Kollateralschaden einer ratlosen und verfehlten Drogenpolitik, genauso wie die vielen Fixer, die inzwischen tot waren.
Die bedrohlichen und desolaten Zustände in der offenen Drogenszene schlugen sich auch in den damaligen Statistiken nieder: Bis zu dreitausend Mal jährlich führten ambulante Sanitäter in jener Zeit Wiederbelebungsversuche durch, oft vergeblich. Überdosen, Atemstillstände und andere Begleiterscheinungen des Konsums führten dazu, dass illegale Drogen in der Schweiz zur häufigsten Todesursache bei Männern zwischen 35 und 45 Jahren avancierten. Die Räumung des Platzspitzes fand 1992 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion statt. Die Vertreibung der Schwerstsüchtigen geschah ohne die Schaffung eines entsprechenden Hilfsangebots. Vorübergehend entstand in Hinterhöfen und Häusern rund um das Zürcher Langstraße-Quartier eine versteckte Szene, später formierte sie sich beim stillgelegten Bahnhofareal Letten, mit ähnlich desolaten Zuständen wie vorher auf dem Platzspitz.
Nebst dem Methadon konsumierte Mutter bald täglich Heroin oder Kokain, oft auch beides miteinander, und obwohl die Preise in der Zwischenzeit gefallen waren, bedeutete dies monatliche Ausgaben in der Höhe von rund sechstausend Franken. Der Zerfall ihrer Schönheit schritt voran und brannte sich für immer in meinem Herzen ein: Ihr Gesicht verlor die scharfen Konturen von einst. Der Blick, den ich geliebt hatte, früher war er aufgeweckt und neugierig, dann aggressiv und nervös, war nun immer öfter von einer irritierenden Teilnahmslosigkeit. Müsste ich sie heute mit einem Wort beschreiben, ich würde ihren Zustand als »leer« bezeichnen. Befreit von allen Gedanken und Gefühlen, nur noch einem einzigen Bedürfnis verpflichtet: dem Heroin. Ich verlor meine Mutter, erkannte in ihr den Menschen nicht mehr, dem ich als Zweijährige als Zeichen meiner ewigen Liebe ein selbst gepflücktes Blümlein überreicht hatte. Doch die Selbstzerstörung, der mangelnde Respekt dem eigenen Leben gegenüber, hatte den Tiefpunkt noch lange nicht erreicht. Im Nachhinein entpuppten sich diese frühen Jahre als harmloser Auftakt für alles, was noch kommen sollte.
Mutter verschwand immer häufiger. Zu Fuß oder per Autostopp, entschied sie, bei Wind und Wetter, auch in tiefster Nacht, wegzugehen. Wenn sich meine Eltern erbitterte Kämpfe lieferten, fiel nun öfter der Begriff Letten. Ich kannte die Bedeutung nicht, ahnte aber, dass Mutters Abwesenheit – und ihre Rückkehr – mit diesem magischen Wort verbunden sein musste. Vater suchte sie. Nacht für Nacht. In den frühen Morgenstunden kehrte er zurück, arbeitete anschließend zehn Stunden auf dem Bau, versuchte am Abend für mich zu sorgen, um Stunden später erneut wie eine ferngesteuerte Marionette aus dem Haus zu laufen und wegzufahren: Richtung Zürich. Richtung Letten. Die offene Drogenszene und die dort herrschenden unvorstellbaren Zustände wurden zu einem Teil seines Lebens. Was er hasste und fürchtete, musste er genau beobachten, weil es sich bei jeder dieser Gestalten um seine Frau hätte handeln können. Die erzwungene Konfrontation mit den Details einer Hölle, die an Verwahrlosung und Grausamkeit nicht zu überbieten war, veränderte auch sein Wesen für immer. Die Aktionen verliefen fast immer erfolglos, und im Gegenzug begann die verzweifelt Vermisste ihren ganzen Hass auf jenen Menschen zu lenken, der ihr Tun nicht kritiklos akzeptierte, ihre Raserei nicht einfach in Kauf nahm, sich ihrem kompletten Zerfall mit allem, was er zu bieten hatte, entgegenstellte, sie kontrollierte, ihr nachspionierte und das offenbar Unmögliche – die Abstinenz – forderte.
Dem Aufeinanderprallen meiner Eltern gingen nun unmenschliche Kraftanstrengungen voraus. Mutter bezog die dafür notwendige Energie aus den Drogen und der wahnsinnigen Gier nach dem nächsten Schuss. Mein Vater begann in dieser schrecklichen Zeit seine seelische und körperliche Gesundheit aufs Spiel zu setzen: Um mich zu retten, aber auch, weil er sich eine Niederlage nicht eingestehen konnte, vielleicht selbst eine Abhängigkeit entwickelte, zu einem Leiden, das ihn ganz und gar gefangen nahm. Im Rausch entwickelte Mutter unglaubliche Aggressionen, und die Handgreiflichkeiten arteten immer häufiger aus. Unter meinem Hochbett versteckt, hielt ich mir die Ohren zu, doch die Schreie der Eltern hallten tagelang in meinem Innern nach, als wäre meine Seele der Resonanzboden eines Instrumentes.
Mehr als einmal gerieten gewalttätige Kämpfe außer Kontrolle: Durch die verzweifelten Hilferufe meines Vaters alarmiert, lief ich eines Nachts ins Elternzimmer und verständigte auf sein Geheiß die Polizei. Während die Tochter eines senegalesischen Profiboxers im Hintergrund weiter randalierte und meinen Vater mit einem gezielten Faustschlag zu Boden schlug, heulte ich die Adresse in den Telefonhörer. Als die Beamten endlich auftauchten, flaute der Streit bereits ab, doch das verwüstete Zimmer sprach Bände, und Vater lag übel zugerichtet auf dem Bett. Mutter lamentierte tränenreich, tischte den Polizisten unglaubliche Lügengeschichten auf und verlangte – ohne dass sie ein gekrümmtes Haar vorweisen konnte – die sofortige Inhaftierung des Gewalttäters. In Erinnerung an die eindeutige Geräuschkulisse während meines Anrufes, wurde sie dieses eine Mal in die Schranken gewiesen. Bei allen anderen Gelegenheiten gaben die Ordnungshüter dem gepeinigten Geschlechtsgenossen zu verstehen, er sei selbst schuld, wenn er eine solche Furie geheiratet habe. Vater wollte sich auf keinen Fall auf das Niveau seiner süchtigen Frau einlassen, dies auch im Wissen, dass eine einfache Ohrfeige sofort zu einer erfolgreichen Strafanzeige gegen ihn geführt hätte. Meine ganze Kindheit hindurch machte ich die Erfahrung, dass manche Behörden und Helfer einer Frau, die behauptet, es sei ihr Unrecht geschehen, blind Glauben schenken und im Mann ebenso kritiklos den Schuldigen sehen.
In jener Nacht verschwand Mutter einmal mehr und kehrte erst Tage später zurück. Meine Erleichterung vermischte sich mit Entsetzen: Verdreckt, nach Urin stinkend, die Haare verfilzt, das Gesicht aufgedunsen, konnte sie sich kaum auf den Beinen halten, wankte ins Bett und schlief zehn Stunden am Stück. Die folgende Woche verbrachte sie Ruhe suchend – mit einem gebunkerten Drogenvorrat und einer Familienpackung Joghurt – im abgedunkelten Schlafzimmer. Unansprechbar. Sie nahm nichts mehr wahr, und wenn sie mich bei seltenen Gelegenheiten anschaute, glaubte ich in ihrem Blick eine größer werdende Abneigung wahrzunehmen. Ich wurde zu einem Übel, das bereits Dankbarkeit empfand, wenn es ignoriert wurde. Denn genauso unbegründet und maßlos, wie ihr Missfallen über mich hereinbrach, fielen ihre Liebesbezeugungen aus. Sie küsste mich ab, hielt mich mit eisernem Griff umschlungen, flüsterte Koseworte in mein Ohr. »Du bist mein Liebstes, und wenn du nicht mehr bei mir bist, gibt es für mich keinen Grund mehr, zu leben.«
Vater versuchte zu retten, was zu retten war, eine Trennung kam für ihn nicht infrage. Er wusste, Mutter würde alles daransetzen, um mich in ihre alleinige Obhut zu bringen. Nachdem er sich eines Nachts – Mutter hatte den erneuten Gang in die Szene angekündigt – mit seinem Armee-Sturmgewehr im Badezimmer verschanzt und, einem Nervenzusammenbruch nah, damit gedroht hatte, er schieße sich eine Kugel in den Kopf, wenn sie gehe, realisierte ich zum ersten Mal bewusst, dass ein Leben ohne meinen Vater zu einer Gefahr für mich werden würde. Schluchzend und bettelnd saß ich vor der Tür, versprach ihm sogar den Plüschbären und war auch nicht zu beruhigen, als er unversehrt in den Korridor trat, mich in den Arm nahm, mich zu trösten versuchte.
Mein Vater nahm nun seine Suchaktionen erneut auf, und eines Tages beschloss er, mich mitzunehmen. Über den mit dieser Entscheidung verbundenen Erziehungsversuch kann man sich vielleicht streiten. Andererseits trug der ungeheure Schock, den ich als Neunjährige erlitt, vielleicht dazu bei, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, die bei abhängigen Elternteilen aufwachsen, nie in die harten Drogen abgestürzt bin. Schweigend rasten wir die Autobahn entlang, vorbei an Wäldern, die sich schemenhaft im strömendem Regen abzeichneten, und beinahe unvermittelt tauchten wir in den Glanz der Großstadt ein. Vater kannte den Weg blind. Ich hörte das Rauschen des Flusses, als er mich, fest umschlungen in seinen Armen, zielstrebig zur Brücke trug. Wir blickten nach unten: Auf dem mir riesig scheinenden Brachland herrschte emsiges Treiben. Zerlumpte Gestalten bahnten sich murmelnd und schimpfend den Weg durch Müll und Dreck. Menschen, die in meiner Wahrnehmung wie Bettler aussahen, stachen sich Nadeln in die Arme, andere starrten mit leerem Gesicht in ein Feuer. Später fiel mein Blick unvermittelt auf einen Mann und eine Frau. Mein Vater zwang mich, genau hinzusehen: Seltsam verrenkt lagen die beiden im Dreck, und zu meinem Entsetzen liefen zwei Ratten zögerlich schnuppernd über die besinnungslosen oder toten Menschen, die niemanden zu interessieren schienen. Schwindel und Übelkeit ergriffen mich. Hatte ich mein eigenes Sterben verpasst und befand mich nun bereits im ewigen Fegefeuer, das den Menschen unsägliche Qualen auferlegt, wie ich es in der Sonntagsschule gelernt hatte? Die Antwort längst wissend, fragte ich: »Macht Mama das auch?« Vater nickte. Er weinte. Er sagte, ich dürfe niemals so enden und müsse mit ihm über alles sprechen, sollte ich jemals in Versuchung geraten. Ich versprach es. An diesem Tag fanden wir Mutter. Mein inständiges Flehen und Betteln bewog sie dazu, ins Auto zu steigen und mit uns nach Hause zurückzukehren.