Читать книгу Das blaue Sternenschloss - Franziska Pelikan - Страница 2
Оглавление1. Aufregung auf der Polizeiwache
„Herr Kriminalkommissar! Herr Kriminalkommissar!” Ein Soldat in Uniform stürmte in das Büro des Inspektors.
„Herr Degener, was ist passiert?” Der Kommissar sah von seinem Schreibtisch auf.
„Wir waren dabei den Wald zu durchsuchen. Dabei haben wir einen Kameraden verloren. Es schien mir, als ob er verrückt geworden sei. Wir versuchten ihn zurückzurufen, aber er hat nicht auf uns gehört.” Der Soldat war ganz außer Atem.
„Setzen sie sich erst einmal. Dann können sie mir noch mal alles in Ruhe erzählen. Wollen sie einen Kaffee?”
„Oh ja, das wäre jetzt gut.”
Der Kommissar schenkte ihm aus einer Kaffeekanne in eine saubere Tasse ein.
„So, jetzt noch einmal ganz langsam von vorn.”
„Also gut-, das war so: Wir haben den Wald bis zu einer bestimmten Stelle durchforscht. Plötzlich ging es nicht weiter. Nur einer unserer Kameraden, Herr Thomas Teichert kam weiter. Es schien, als währe eine Mauer zwischen ihm und uns. Wir haben ihn gerufen, aber er hat uns nicht gehört. Er war der einzige, der dort hindurchkam. Einige von uns haben versucht zu schießen, aber es löste sich keine Kugel aus der Pistole. Es war so seltsam!”
Eine Pause trat ein. Der Kriminalkommissar notierte sich alles und rieb sich dann nachdenklich das Kinn. „Mmh”, machte er. „So etwas Ähnliches hat mir auch so ein seltsamer Junge erzählt. Ich denke, langsam muss ich seiner Geschichte Glauben schenken.”
„Und was sollen wir jetzt machen? Wir kommen nicht weiter. Hinter der unsichtbaren Mauer muss sich das Geheimnis verbergen.”
„Erst einmal müssen wir warten. Vielleicht taucht Herr Teichert ja wieder auf.”
„Das bezweifle ich.”
Der Inspektor musste sich eingestehen, dass auch er nicht daran glaubte. Hatte der Sven Möhler sie nicht in diese Richtung gehen sehen? Kam nicht auch er nicht weiter? Nur war es bei ihm etwas anders. Er konnte zwar laufen, kam aber nicht voran.
„Ist ihnen sonst noch etwas aufgefallen?” Der Kommissar hatte ein seltsames Gefühl in seiner Magengrube.
Der Soldat überlegte. „Nicht das ich wüsste.” Doch plötzlich erinnerte er sich an etwas, das ihm aufgefallen war. Im Wald hatte er es nicht sonderlich beachtet, aber jetzt schien es ihm entscheidend. „Doch, mir ist schon etwas aufgefallen. Dort wo Herr Teichert entlang ging, war der Waldboden wie ein Trampelpfad festgetreten worden.”
Es war, als ob der Hammer auf den Amboss schlug. - Sie hatten eine Spur.
Auf der Insel war es kalt geworden. Die Diener schürten jetzt jeden Tag das Feuer in den Kaminen. Es war schwer die großen Räume zu heizen, denn es dauerte lange, bis sie warm wurden.
Nasmil die Zofe von Angelina und Joe der Lakai von Dario stranden morgens schon früh auf, um die Gemächer ihres Herrn und ihrer Herrin zu heizen. Schnee fiel noch nicht und die Insel sah lustig aus mit ihren bunten Bäumen und den grünen dazwischen. Die Diener hatten auf Elisabeths Geheiß, Obst und Gemüse aus dem Wald geerntet. Sie hatte es entweder getrocknet oder eingekocht. Einen Kühlschrank gab es ja nicht. Die Fischer trafen auch Vorbereitungen für den kommenden Winter. Sie räucherten Fisch und trockneten ihn. Manchen legten sie auch einfach nur in Salzlauge ein.
Angelina war jetzt im dritten Monat schwanger. Man konnte ihren Bauch schon langsam erkennen. Dario und sie freuten sich sehr auf das Baby. Sie konnten es kaum noch erwarten.
Heute saßen sie beide am Mittagstisch, als plötzlich ein Butler in den Speisesaal trat.
„König Dario, eure Majestät wird im „Roten Zimmer” erwartet. Er verbeugte sich und schritt wieder hinaus.
Das „Rote Zimmer” ist ein Aufenthaltsraum für Gäste. Wenn sie gerade erst auf die Insel kamen, wurden sie dort aufgenommen, bis der König oder jemand anderes kam, sie zu holen.
Dario sah Angelina an. „Iss du ruhig weiter. Ich gehe nachschauen wer es ist.”
Er erhob sich.
Das „Rote Zimmer” befand sich, wenn man im Flur vor der Schlosstür stand, vor der Treppe links. Hier war eine Tür. Dario öffnete sie und gelang in einen langen Korridor. Gleich die erste Tür rechts von ihm, befand sich der Aufenthaltsraum für die Gäste.
Er trat in einen etwa acht Meter langen und breiten Raum. Auf den Holzdielen in der Mitte des Raumes lag ein roter Läufer. An beiden Enden war er mit grünen und roten Fransen versehen. Auf dem Läufer stand ein kleiner quadratischer Tisch. Er war aus dunklem Holz und mit einer roten Tischdecke bedeckt, auf der eine Vase mit ebenfalls roten Blumen stand. Um ihn herum befanden sich vier Stühle. Sah man geradeaus, erblickte man ein Fenster, vor dem ein roter Vorhang hing. Er verdeckte es nicht ganz, sondern hing oben in einem Halbkreis und an den Seiten herunter. Links stand ein Schrank, welcher von Tassen und Tellern aus Porzellan verziert wurde. Er war aus dem gleichen dunklen Holz, wie der Tisch und die Stühle. Etwas weiter entfernt, nahe der Tür, hatte man einen mit roter Farbe verzierten Kamin gebaut. Jetzt prasselte darin ein kleines Feuer. Vor ihm stand ein Hocker. Auch er war rot bemalt mit grünen Füßen. Zwischen dem Kamin und dem Schrank stand ein Stuhl, auch und in den Ecken rechts der Tür. Dazwischen befand sich ein niedriger Schrank, auf dem eine gehäkelte, rote Spitzendecke lag. Dieses Zimmer sah sehr gemütlich aus und war größer, als es aussah.
Derjenige, der Dario erwartete, saß auf dem Stuhl zwischen dem Schrank und dem Kamin und wärmte seine Hände am Feuer. Dario kannte ihn nicht. Er hatte ihn auch noch nie gesehen. An dem Tisch saß einer der Wachen. Beide standen auf, als Dario eintrat und verbeugten sich. Der Fremde war in Soldatenuniform gekleidet.
„Herr Thomas Teichert, Soldat, Majestät”, stellte die Wache ihn vor. „Er hat euch etwas zu berichten, Hoheit.”
Dario forderte ihn durch ein Nicken auf, loszulegen.
„Wie schon gesagt, Majestät, ich bin Thomas Teichert. Von Beruf Soldat. Wir wurden von dem Kriminalkommissar Kunz in Kirbeck aufgefordert, ihren Wald auf dem Festland zu durchsuchen. Dabei sind wir an eine komische Stelle gelangt, die nur ich betreten konnte. Ich wollte es eigentlich gar nicht, aber es war wie ein Sog. Ich konnte nicht anders. Ich musste dem Sog folgen. Die anderen standen hinter mir. Es schien mir, als befänden sie sich vor einer unsichtbaren Mauer. Als ich mich umdrehte sah ich, sie riefen mir etwas hinterher, doch ich konnte sie nicht verstehen. Jetzt kennen sie die Fährte, der sie folgen müssen, um zum See zu gelangen, nur können sie, sie nicht betreten. Nach etwa einer Stunde traf ich auf ein Bootshäuschen. In ihm wohnte ein Bootswart, der mich hierher brachte, nachdem ich auch ihm meine Geschichte erzählt hatte. Da er mit mir eure Sprache gesprochen hatte und ich sie verstand, wusste er, dass ich ein Auserwählter sei, wie er sagte. Majestät, könnt ihr mir erklären, was er damit meinte und was es mit all dem auf sich hat? Ich weiß jetzt, wo sich der Maler Rejan Ezat und all die anderen befinden. Hier, euer Hoheit. Was hat das alles zu bedeuten?”
Dario erklärte es ihm so kurz und bündig, wie es ihm gelang.
„Und ich muss jetzt auch hier bleiben, Majestät?”, fragte der Soldat verzweifelt. „Aber was ist mit meiner Freundin. Ich möchte nicht ohne sie leben. Ich möchte sehr gern hier bleiben, aber was wird aus all meinen Bekannten, Hoheit?”
„Mit ihrer Freundin lässt sich ganz vielleicht etwas regeln. Aber mit den anderen nicht. Wollen
sie hier bleiben, müssen sie alles, wie es auch die anderen getan haben, zurücklassen. Sind sie dazu bereit?”
„Wenn meine Freundin auch hier leben kann, ja, Majestät.”
„Dann werden sie zu den Wachen gehören. Zeigen sie Herrn Teichert, wo sein Zimmer sein wird”, wandte sich Dario an die Wache.”
Sie verbeugte sich und verließ mit Thomas Teichert, der sich ebenfalls verbeugt hatte, den Raum.
Dario ging zurück zum Speisesaal.
„Und? Wer war es?”, fragte Angelina neugierig.
„Ein Neuer. Der Kriminalkommissar in Kirbeck, hat Soldaten benachrichtigt, damit sie den Wald durchsuchen.” Dario erzählte ihr alles. Die anderen die mit am Tisch saßen, hörten aufmerksam zu.
„Mist!”, fluchte Angelina. „Dann kennen die jetzt den Weg hierher.”
Dario nickte: „Aber sie können ihm nicht folgen.”
„Ich frage mich noch immer, was das für ein seltsamer Zauber ist der Fremde abhält, zum Bootshäuschen zu gelangen”, wunderte Simeon sich, der mit im Speisesaal speiste.
Elisabeth hatte sich auch zu ihnen gesellt. „Das wüsste ich auch mal gern”, stimmte sie Simeon bei.
„Ich kann euch dazu auch nicht mehr sagen”, bedauerte Dario.
Am nächsten Tag kam der Leutnant der Soldaten in die Polizeiwache nach Kirbeck. Hitzig diskutierte er mit dem Kriminalkommissar.
„Wir haben jetzt zwar die Fährte gefunden, können ihr aber nicht folgen. Egal, was wir machen”, sagte der Leutnant.
„Last euch etwas einfallen. Ich will jetzt noch nicht aufgeben, wo wir doch eine sichere Spur haben.”
Der Leutnant nickte wütend mit dem Kopf. „Sehen sie einmal aus dem Fenster. Sehen sie es?”
„Was?”
„Na -, es regnet draußen. Und das jetzt schon längere Zeit. Sie können sich ja mal draußen zwölf Stunden lang aufhalten und versuchen, die unsichtbare Mauer, die sich obendrein immer wieder verändert, zu durchdringen. Mir kommt es vor, als ob Sie uns ärgern möchten. Denken wir es ist geschafft, war es nur unser Werkzeug, welches durchkam. Ziehen wir dann die Hand wieder zurück, fällt es herunter und bleibt hinter der Mauer liegen. Andauernd müssen wir uns neues besorgen und das schindet auch Zeit. Sie können ja mal die Kosten bezahlen, die dabei aufkommen.”
„Wieso versucht ihr nicht einfach mal, sie mit kleinen Panzern zu zerschießen.”
Der Leutnant tickte sich an die Stirn. „Kommen sie einfach mal mit und sehen sie sich das an. Dann müssen wir nämlich vorher den halben Wald abholzen lassen.”
Dem Kommissar kam eine Idee. „Wieso tun wir dies nicht einfach?”
Der Leutnant sah ihn sprachlos an. „Sie wollen die Natur also noch ein kleines Stück weiter zerstören!? Stellen sie sich mal vor, wenn jeder Polizist so denken würde, wo wären dann unsere Wälder, so viele Verbrecher wie es gibt?”
„Stellen sie sich nicht so an. Es denkt ja nicht jeder so wie ich.”
„Sie knallen wohl langsam durch”, sagte der Leutnant leise und schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
Der Kriminalkommissar wurde vor Wut rot. Ganz leise drohte er: „Noch eine Beschimpfung mir gegenüber und ich werde dafür sorgen, dass sie in den Knast wandern.”
„So einfach geht das aber nicht.”
„Ich frage mich, wie die Förster es schaffen, den ganzen Wald zu beobachten, wenn sie nicht weiter als ein paar Kilometer kommen”, überlegte der Kommissar laut. Er sah den Leutnanten an, als ob er eine Antwort erwartete.
Der sagte nichts.
„Ich bestehe weiter darauf, dass sie versuchen, die Stelle zu durchbrechen. Mir egal, wie sie dies anstellen. Ich werde morgen mit dem Förster sprechen.”
„Ich schlage ihnen noch einmal vor, sich die Stelle doch selber anzusehen.”
„Dafür habe ich nicht genügend Zeit.”
„Ach nein? Dann werden wir auch nicht mehr weitermachen. Wir streiken! Haben schließlich schon einen unserer besten Leute verloren.”
Der Kriminalkommissar lächelte. „Sie werden schon noch schön weiter arbeiten.”
Der Leutnant sah, er schenkte ihm keinen Glauben. „Das wollen wir einmal sehen”, waren seine letzten Worte, bevor er das Büro verließ.
Angelina und Dario saßen im Thronsaal. Dort befanden sie sich jetzt fast jeden Nachmittag. Es war die Zeit, in der die Schlossbewohner zu ihnen kommen konnten, um mit ihnen Dinge zu besprechen, die ihnen auf dem Herzen lagen. Es kamen nur selten mehr als sieben Bewohner. Die meiste Zeit saßen Dario und Angelina da und unterhielten sich. Heute war es anders. Dario hatte Luke Gunn zu sich rufen lassen, einer der Wachen, die in einem der Türme saß.
Rechts und links vor den Stufen, die zu den drei Thronen führten, standen zwei Wachen. Auch vor und hinter der Thronhallentür. Vor dem Schlosseingang passten auch noch einmal links und rechts je eine Wache auf, wer in dass Schloss wollte. Zwar glaubten Dario und Angelina nicht, dass sie jemals jemand töten wollen könnte, aber sicher war sicher.
Jetzt öffnete sich die Tür des Königssaales und herein trat Nicolai Moddos gefolgt von Luke Gunn. Der Butler verbeugte sich kurz vor Angelina und Dario und deutete mit der Hand auf Luke Gunn: „Hier ist Luke Gunn, nach dem ihr schicken ließet, euer königlichen Hoheit.” Er verbeugte sich noch einmal und verließ die Halle wieder.
Luke Gunn kniete sich ganz tief auf den Stufen vor Dario und Angelina nieder. Seine Stirn berührte sie. „Majestät, sie haben mich zu euch rufen lassen. Ich stehe ihnen zu Diensten.” Er richtete sich wieder auf.
„Danke, Herr Gunn”, sagte Dario freundlich. „Es handelt sich darum, dass die neue Wache Thomas Teichert eine Freundin in Deutschland hat. Sie sind der einzige, den niemand dort kennt und der sicher allein den Weg mit dem Boot dort hinfindet. Ich wollte sie bitten, dass sie sich bei Herrn Teichert erkundigen, wo sie wohnt. Dann fahren sie los und suchen sie auf. Aber nehmen sie sich in Acht. Es wimmelt in dem Wald nur so von Soldaten. Suchen sie sich einen anderen Weg aus ihm hinaus. Nehmen sie Li Nú mit sich. Der wird ihnen schon behilflich sein.”
„Jawohl, Majestät”, sagte Luke und verbeugte sich.
„Noch etwas”, fiel Angelina plötzlich ein. „Schauen sie bei meinen Eltern vorbei und bringen sie meiner Schwester, Miro das Kaninchen mit. Im Moment wird es von meinem Vater versorgt.”
„Jawohl, euer Hoheit”, sagte Luke Gunn und verbeugte sich aufs Neue. „War das alles?”
Dario und Angelina nickten. „Sie können gehen”, sagte Dario.
Luke Gunn verbeugte sich zum Abschied noch ein letztes Mal und schritt dann davon.
„Wo sollen wir das Kaninchen dann unterbringen?”, fragte Dario Angelina.
„Talia würde sich sehr freuen, es in ihrem Zimmer aufnehmen zu können”, antwortete sie ihm.
Er lächelte und küsste ihre Hand.
2. Die unsichtbare Mauer
Am nächsten Tag rief der Kriminalkommissar Kunz in der Försterei an. Er sprach mit einem Herrn Hartmut Herold, einem kleinen, rundlichen Mann mit Vollbart, der immer freundlich und zu Witzen aufgelegt war. Ein lustiger kleiner „Waldzwerg”.
„Guten Tag, hier Kriminal Kommissar Kunz von der Polizeiwache Kirbeck”, meldete er sich am Telefon. „Ich wollte sie gern einmal sprechen. Wann haben sie heute wohl Zeit?”
Herr Herold am anderen Apparat war verunsichert. Hitzig überlegte er, was er wohl falsch gemacht haben könnte. Seine Hand zitterte, als er seinen Terminkalender zur Hand nahm und aufschlug.
„Heute, sagten sie? Um zwei Uhr bin ich bei ihnen im Büro.”
„OK. Um was es sich handelt, erfahren sie dann. Auf Wiedersehen.”
Der Förster legte auf.
„Wer war es denn?”, fragte seine Frau, die aus der Küche kam.
„Der Kriminalkommissar von Kirbeck.”
„Was wollte er von dir?”
„Ich weiß es nicht. Er meinte nur, ich würde es, wenn ich da bin erfahren. Ich kann mich nicht erinnern, etwas verbrochen zu haben.”
„Vielleicht will er dich ja nur etwas über den Wald fragen”, beruhigte seine Frau ihn. „Hast du mit verfolgt, was in den letzten Tagen für komische Dinge in der Zeitung standen?”
Er nickte. „Aber ich habe mit der Sache doch gar nichts zu tun.”
„Geh’ erst einmal hin, dann wirst du sehen, was er von dir möchte.”
Luke Gunn hatte sich auf den Weg gemacht. Er trug einen schweren mit Proviant gefüllten Beutel bei sich, den er mit einem Stock versehen hatte, um ihn besser über die Schulter hängen zu können. Da er keine andere Kleidung besaß, musste er seine Uniform mit dem gezackten Stern auf der rechten Brust anbehalten. Er erreichte den Strand. Ein kalter Wind wehte und die Wellen schlugen etwas kräftiger an den Strand, als es sonst der Fall war. Es war ein ungemütliches Wetter, kalt und feucht. Schwerfällig ließ er seinen Beutel von der Schulter gleiten und in eins der Boote fallen. Dann löste er es von seinem Strick, gab dem Ruderboot einen kräftigen Stoß und sprang hinein.
Vorsichtig, aber sicher lenkte er es aus der Bucht in die offene See. Sie war nicht mehr so ruhig und leise, wie noch drei Monate zuvor.
„So, guten Tag. Ich bin Herr Herold. Wir haben vorhin telefoniert.”
„Nehmen sie Platz.” Wie immer saß der Kriminalkommissar hinter seinem Schreibtisch. „Ich wollte ihnen ein paar Fragen zu dem Fall, den wir gerade zu lösen versuchen, stellen. Sie haben das doch sicher mitverfolgt, oder?”
Der Kommissar strahlte für den Förster von Anfang an etwas sehr Unsympathisches aus. Er mochte ihn nicht.
„Ist ihnen in ihrem Wald schon jemals etwas aufgefallen?”
„Was sollte mir aufgefallen sein?”
„Das sie an bestimmten Stellen zum Beispiel nicht weiter kommen.”
der Förster tat, als überlege er. Dann schüttelte er mit dem Kopf. Er hatte sich vorgenommen, diesem Mann keine genaueren Angaben zu machen. Außerdem lachte er sich heimlich ins Fäustchen. Der Kommissar wusste nicht, dass er an genau den Falschen geraten war.
„Befindet sich in ihrem Wald ein See?”
„Wenn sie das See nennen möchten.”
„Aber ihnen muss doch an bestimmten Stellen aufgefallen sein, dass sie nicht weiterkommen.”
Herr Herold sah ihn verwundert und mit listigen Augen an. „Ich komme überall hin.”
„Dann erklären sie mir bitte, warum wir nicht weiter als ein paar Kilometer kommen!”
„Wie soll ich ihnen das erklären, wenn es auf mich nicht einmal zutrifft? Sie müssen mir die Stelle einmal zeigen.”
„Moment. Ich rufe gerade jemanden, der mit ihnen dort hinfährt.”
„Nein. Ich möchte, dass sie mir das persönlich zeigen, ansonsten werde ich nicht dort hingehen.” Herr Herold hatte in der Zeitung auch gelesen, dass die Soldaten streikten, weil der Kriminalkommissar sich die ganze Sache dort, nicht einmal persönlich ansehen wollte. „Sicher waren sie schon mal dort, oder? Das muss man ja als Kommissar, der anderen eine bestimmte Aufgabe übergibt, die er nicht selber ausführen kann, weil er damit seine Grenzen überschreitet. Er muss ja wissen, wo er seine Leute hinschickt und was er anderen zumutet.”
Der Kommissar wurde rot. Aber schnell hatte er sich wieder in der Gewalt. „Natürlich war ich schon einmal dort. Ich schicke meine Leute doch nicht einfach irgendwo hin.”
„Gut, dann kennen sie sicher auch den Weg.”
„Ja, natürlich”, gab der Kommissar großzügig zurück. Seine Augen sahen panisch auf seinen Computer. Der Förster hatte ihn in die Enge getrieben.
„Schön! Dann können wir ja losfahren.” Herr Herold erhob sich.
„Nein! Moment!” Kommissar Kunz konnte seine Panik kaum noch verbergen. „Lassen sie uns morgen fahren. Heute habe ich noch zu viel zu tun.”
„Morgen habe ich keine Zeit. Da muss ich zu einer Fortbildung.”
„Dann kann ich ihnen auch nicht helfen.”
„Eher anders herum. Ich kann ihnen nicht helfen.”
Darauf wusste der Kommissar nichts zu sagen.
„Es hilft alles nichts. Entweder zeigen sie mir heute persönlich, wo die Stelle ist oder gar nicht und ich kann ihnen dazu nichts sagen.”
„Na gut. Sie müssen aber noch einwenig warten.”
„Wie lange?”
„Etwa fünfzehn Minuten.”
„Wo soll ich dann so lange warten?”
„Sie können hier bleiben. Ich koche ihnen gerade eine Tasse Kaffee.”
„Tut mir Leid. So ein alter Mann wie ich trinkt doch keinen Kaffee. Der ist doch schlecht fürs Herz.”
„Wie alt sind sie denn?”
„Eigentlich geht sie dies ja gar nichts an, aber ich will es ihnen trotzdem ungefähr sagen. Ich bin zwischen fünfzig und sechzig.”
„So habe ich sie auch eingeschätzt.” Der Kommissar verließ den Raum.
Luke Gunn hatte seine Probleme gegen die hohen Wellen anzukämpfen. Immer wieder trieben sie ihn in die Nähe der Felsen. Li Nú hatte sich unter der Bank auf der Luke saß verkrochen, da immer wieder Wellen so stark an die Wände des Ruderbootes schlugen, dass sich ein leichter Sprühregen über sie ergoss. Sie kamen langsamer als sonst voran. In der Nacht hatte Luke kaum geschlafen, weil er ständig von dem Kater geweckt werden musste.
„So. Jetzt können wir los. Ich habe meine Arbeit abgegeben. Es kommt noch jemand mit”, sagte Kommissar Kunz zu Herrn Herold.
„Och, dass wäre aber nicht nötig gewesen”, gab der Förster zurück, nachdem er sich erhoben hatte und grinste.
Der Kommissar zog sich seine Uniformjacke über und dann machten sie sich auf den Weg zum Wagen.
Ein Herrn Herold fremder Polizist, hatte schon einen Streifenwagen vor die Tür gefahren.
Der Kommissar öffnete die Beifahrertür. „So. Hier sind wir, Inspektor Scheingutt.”
Herr Herold biss sich auf die Unterlippe. „Mist”, dachte er. „Der Kriminalkommissar ist echt schlau. Hat mich tatsächlich ausgetrickst.” Er setzte sich auf die Rückbank.
„Scheiße!”, schrie Luke plötzlich auf. „Wie konnte mich König Dario nur bei diesem Wetter losschicken.” Das Boot war gegen einen Felsen geprallt. Nicht stark, aber dennoch hatte es eine gehörige Macke davon getragen. Etwas Holz splitterte ab. Luke geriet in Panik. Er war sich bewusst, wie viele Felsen es hier gab und würde das Boot zwischen zweien hindurch getrieben, käme er nicht mehr zurück. So hielten die Felsen noch ein paar Wellen ab oder brachen sie, aber hinter ihnen würde die See vollen Besitz über ihn ergreifen. Sogar Li Nú kroch aus seinem, vor Wasser geschützten Versteck hervor. Luke hatte noch nie gesehen, wie ein Kater, ohne es sehr deutlich zu zeigen, in Panik geraten konnte. Als er dieses feuchte, vor Angst zitternde Bündel Elend sah nahm er all seine Kraft zusammen und ruderte so fest er nur konnte von dem Felsen fort. Gleich darauf knallte er links und rechts gegen die nächsten. Er war zwischen die Felsen geraten.
Der Förster, der Kriminalkommissar und der andere Polizist hatten den Wald erreicht.
Langsam stapften sie zu der seltsamen Stelle. Vor ihr war alles von Soldaten niedergetreten worden. Von ihnen selber war nichts zu sehen.
„Sollten nicht die Soldaten hier sein?”, wollte Herr Herold wissen.
Der Kommissar antwortete ihm nicht. Dafür aber Inspektor Scheingutt. „Die streiken alle.”
„Wieso denn das?”
Kommissar Kunz starrte seinen Untergebenen warnend an.
„Die haben keine Lust mehr zu dieser Arbeit”, gab der Polizist zurück.
„Die müssen jetzt aber dabei sein, wenn sie mir zeigen wollen, wo die unsichtbare Mauer ist. Mit der kennen die sich bestimmt besser aus, als ihr.”
Der Kommissar wurde blass. „Wir können ihnen die Mauer auch zeigen.”
„Jaa-, aber die Sache ist die, ich muss genau wissen, worum es sich handelt. Das können mir nur die erklären, die sich näher mit dem Fall beschäftigt haben.”
Herr Scheingutt stimmte ihm durch Nicken zu.
„Ich kann ihnen sonst keine Einzelheiten erkläre”, fügte der Förster noch hinzu.
„Wenn sie das überhaupt können”, zischte Herr Kunz leise zwischen den Zähnen hervor.
Herr Herold tat, als hätte er diese Worte nicht verstanden.
„Soll ich den Leutnant anrufen?”, fragte der Inspektor.
Herr Kunz überlegte noch, aber es blieb ihm keine andere Wahl, als einzuwilligen.
Es dauerte nicht lange, da war der ganze niedergetrampelte Platz voller Soldaten, sogar der Leutnant war erschienen. Er trat auf Kommissar Kunz zu und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. „Ich habe es doch gewusst, dass sie sich unsere Arbeit ansehen werden. Schön sie hier zu sehen. Was gibt’s?”
Wie schon so oft an diesem Tag, lief der Kommissar rosa an. Dieses Mal aber, weil es ihm peinlich war. Schnell drehte er sich weg, bis sich sein Gesicht wieder normalisiert hatte.
Inspektor Scheingutt übernahm für Kommissar Kunz die Erklärung. Als er geendet hatte, meinte der Leutnant: „Dann wollen wir ihnen mal zeigen, wie weit wir in diesem Wald vorankommen können.” Er schickte einen seiner Soldaten los.
Dieser lief ein paar Meter, aber nichts geschah. „Hier war doch die Mauer”, sagte er verwundert und blieb an der Stelle stehen, wo er sie zu wissen glaubte.
„Nein”, meinte ein anderer. „Ich glaube, sie war noch ein Stückchen weiter.”
Der Soldat ging weiter. Alle anderen folgten ihm.
„Hier muss sie aber gewesen sein”, sagte noch ein anderer Soldat.
Der davor meinte wieder. „Nein. Wir müssen noch ein Stückchen weiter.”
Aber es kam noch immer keine Mauer. „Sie ist weg”, meinte der Soldat, der vorgehen sollte wieder.
„Wollt ihr mich etwa auf den Arm nehmen?”, fragte Herr Herold plötzlich. „Ich kann mir meine Zeit auch mit wichtigeren Dingen vertreiben.”
„Ach, geh’ mal zur Seite”, sagte der andere Soldat, der noch immer darauf bestand, dass die Mauer dort irgendwo sein müsse. Wütend drängelte er sich an die Spitze.
„Was ist denn das für ein Angeber”, dachte der Förster bei sich.
Plötzlich wurde der Soldat, der nun an der Spitze ging zurück geschleudert. Mit einem harten Aufschlag landete er auf seinem Steißbein. Ihm blieb die Luft weg. Ein paar andere gingen weiter und wurden ebenfalls auf den Waldboden geschleudert. Die anderen stolperten über sie. Nur der Förster, der Kriminalinspektor, Kommissar Kunz und der Leutnant blieben rechtzeitig stehen, weil sie ganz hinten liefen. Herr Herold lachte sich ins Fäustchen.
„Was gibt es da zu lachen?”, fragte der Leutnant verärgert.
„Da sieht man mal was passieren kann, wenn man solch ein Angeber ist, wie der Soldat mit der großen Klappe. Wäre er nicht so voreilig gewesen, sondern langsamer daran gegangen, wäre ihm das vielleicht gar nicht passier”, warf der Förster zurück.
„Das ist unerhört”, riefen die, die sich wieder aufgerappelt hatten. Sie waren über und über mit Schlamm bedeckt, da der Waldboden von dem Regen aufgeweicht worden war. „Das ist uns bis jetzt noch nicht passiert.”
„Die Wand hat einfach zurückgeschlagen, als wäre sie aus Gummi”, sagte einer von ihnen.
„Wo? Das möchte ich jetzt aber auch einmal erleben”, sagte Herr Herold plötzlich kichernd. Sich das Lachen verbeißend ging er auf die Wand zu. Aber er lief durch sie hindurch, als sei sie nicht vorhanden.
Kommissar Kunz und Inspektor Scheingutt sahen ihm verwundert nach.
Als der Förster wieder zurückkam meinte er scheinbar wütend, aber in seinen Augen spiegelte sich ein belustigender Glanz: „Das gibt es nicht, Kommissar Kunz. Die nehmen sie tatsächlich nur auf den Arm. Ich habe dort keine zurückschlagende Wand empfunden.”
Der Kommissar wurde sauer. „Dann werde ich mich selbst überzeugen. Und wenn das nicht stimmt, dann - dann könnt ihr alle etwas erleben.” Entschlossen schritt er los. Dann hörten sie plötzlich nur noch einen erstickten Schrei. Der Kommissar schien in etwas eingewickelt zu werden. Plötzlich flog er durch die Luft und landete inmitten einer tiefen Pfütze. Das Wasser spritzte nach allen Seiten davon. Er raffte sich auf und schüttelte sich ähnlich wie ein Hund.
„Lasst uns gehen”, sagte er nur zu den fragenden Blicken der anderen. „Versucht dieses Ding zu durchbrechen!” Dies war nach wie vor seine Meinung. Er sah sich nach dem Förster um, aber dieser war verschwunden. Es hatte ihn niemand gehen sehen.
„Na ja, auch egal”, sagte Kommissar Kunz zu seinem Inspektor, triefend vor Nässe und Schlamm. Er fror. Ohne noch ein Wort zu sagen, drehten sie sich um und verließen den Wald.