Читать книгу Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer - Franziska Schläpfer - Страница 5
Vorwort
ОглавлениеDie Überraschung meiner Paarrecherchen waren für mich die Frauen. Stark, klug, eigenständig, couragiert, ambitioniert – im Denken, im Handeln, im Begehren. Sinnlich die meisten, alle leidenschaftlich auf ihre Art. Frauen, die ziemlich genau wussten, wie sie leben wollten: Jenny Brown-Sulzer zum Beispiel als herrscherliche Haus- und Familienunternehmerin, als tüchtiges Zentrum einer wohlorganisierten grossbürgerlichen Ordnung. Bettina Hürlimann-Kiepenheuer mit «Löwenkräften für drei Verlage» und vier Kindern. Annemarie von Matt-Gunz als künstlerische Naturkraft. Nur Hausfrau zu sein, das konnte sich keine vorstellen. Neun Paare auf Augenhöhe – das war meine Vorstellung, das war auch die Vorstellung dieser Frauen, selbst jener drei, die noch das 19. Jahrhundert erlebt hatten. Im Alltag erfüllte sich der Lebensentwurf nicht bei allen: weil sie zwei Seelen in der Brust hatten, gesellschaftliche Anerkennung brauchten. Weil der Mann sich doch als Patriarch entpuppte, unbedingt Kinder wollte.
Auch manch ein Mann hatte sich das Leben zu zweit einfacher vorgestellt. «Ich kann nur jemanden lieben, dem ich die Freiheit lasse und der mir die Freiheit lässt», schrieb die Walliser Poetin Corinna Bille ihrem Freund Maurice Chappaz. Dieser dachte ebenfalls über Freiheit und Treue nach: «Es sollte natürlich keine Opfer, keine Verzichte geben, aber die Dinge gehören für mich zusammen, eins ist so wichtig wie das andere.» Die weltzugewandte Kabarettistin Elsie Attenhofer wollte ihrem Ehemann ein Gegenüber sein, keine Ergänzung. «Wir hatten uns auf ein Gentleman’s Agreement geeinigt: Jeder respektiert die Freiheit des andern.» Eine harte Prüfung für den introvertierten Literaturprofessor und ETH-Rektor Karl Schmid, der neben Beruf, Militär und allerlei Ämtern die Betreuung von Haushalt und Kindern organisierte. Vergleichbar die Konstellation, völlig anders die Haltung von Schauspielerin Anne-Marie Blanc und Filmproduzent Heinrich Fueter. «Nimm keine Rücksicht auf mich und die Kinder», schrieb er, «behalt uns nur lieb – auch mich». – Das tat sie. «Heini hat es verstanden, mich zu ersetzen, ohne mich je zu verdrängen.» – «Oft braucht man nicht denselben Mann für dasselbe», notierte Annemarie von Matt-Gunz, die in der katholischen Innerschweiz ein dramatisches Leben führte zwischen dem Bildhauer Hans von Matt und dem Priester Josef Vital Kopp.
Ja, das Aufregendste meiner Recherchen waren die Frauen. Rechtfertigt dies das Eindringen in intime Beziehungen, Paargeheimnisse, Familientragödien? Den Zugriff auf private Tagebücher, Aufzeichnungen, Notizen? Ich hoffe es – ganz im Sinn des alten Goethe, der seiner geliebten Marianne von Willemer kurz vor seinem Tod ihre Briefe zurücksandte und dazu schrieb: «Dergleichen Blätter geben uns das frohe Gefühl, dass wir gelebt haben …» Dieses frohe Gefühl wollen meine Porträts wecken. Sie bezeugen die Vielfalt der Möglichkeiten, mit dem Leben und der Liebe zurechtzukommen, ihnen etwas Höchstpersönliches abzugewinnen, etwas Originelles. Möglichkeiten, die Sehnsüchte nicht allmählich einschlafen zu lassen, sondern zu gestalten, und sei es auch nur sprachlich. Die Kunst des Briefeschreibens ist beeindruckend, bei Annemarie von Matt wird sie zur Literatur.
Es treten neun illustre Schweizer Paare auf, in neun Beziehungsformen, mit verschiedenen Tätigkeiten. So unterschiedlich die Lebenswelten, so divers die Quellen: die einen dürftig, gar nur einseitig, andere überfordernd, mit Hunderten, ja Tausenden Briefen. Silvia Bezzola und Ernst Scherz, unternehmerische Gastgeber im Grandhotel, arbeiteten ein Leben lang eng zusammen; sie hatten kaum Zeit und wenig Grund, sich Briefe zu schreiben. Die Verleger Bettina Kiepenheuer und Martin Hürlimann verfassten zwar je ihre Autobiografie, hüteten aber ihre Intimsphäre. Bei beiden Paaren wirkte die Liebe eher unterschwellig, wie eine freundschaftliche Grundmusik. Im Zentrum stand ihr Lebenswerk; ihre Zusammenarbeit brachte sie wechselseitig in Bestform. Die Engadiner Schriftstellerin Johanna Gredig und der Bergeller Zöllner Agostino Garbald sahen sich nach der ersten Begegnung im Herbst 1860 ein einziges Mal vor ihrer Hochzeit, unterhielten sich aber in der Zwischenzeit mit umwerfend spöttischen Briefen. Das Leben im engen Bergtal war dann weniger heiter, aber ihre weiblichen Romanfiguren stattete die Autorin so aus, wie sie gern gewesen wäre: «Das Mädchen soll nicht zum Fachmenschen, nicht zur Gattin, nicht zur Mutter erzogen werden, sondern vor allen Dingen sei das allgemein Menschliche in ihr auszubilden. Ihr Herz soll weit, ihr Verstand klar sein. Sie soll wissen, dass sie zuerst ein Ganzes für sich, nicht die Hälfte eines Andern ist. […] Sie soll allein stehen können.» Überraschend, wie wenig aus der grossbürgerlichen Welt des kunstsinnigen Industriellenpaars Jenny Sulzer und Sidney W. Brown nach aussen drang. Kein Hochzeitsbild, die Liebesbriefe verbrannt. Die Ehe lässt sich nur anhand von Jennys täglichen Notizen rekonstruieren. Umso mitteilsamer und streitlustiger waren die Revolutionäre im Ärztekittel: Meistens getrennt, verständigten sich der Zürcher Fritz Brupbacher und die Russin Lidija Kotschetkowa vor allem schriftlich.
Die grosse romantische, unverbrüchliche Liebe kommt nicht vor. Umso variantenreicher spielten die neun Paare die Liebe durch. Sie konnte sogar, wie für Lidija Kotschetkowa, zum «schrecklichen Ungeheuer» werden.