Читать книгу Hausgemeinschaft mit dem Tod - Franziska Steinhauer - Страница 5
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ОглавлениеAgneta Paulsson wartete:
Ständig wanderten ihre Augen zwischen Telefon, Handy, Fenster und Wohnungstür hin und her.
30 Minuten schon.
Fast 35.
Verspätungen konnten mal vorkommen, natürlich, das war durchaus möglich. Doch normalerweise rief Simone in so einem Fall an.
Agneta seufzte.
Drückte die Zigarette mit nikotinvergilbten Fingern im längst überquellenden Aschenbecher aus.
Wollte sich mit einer Illustrierten auf die Couch setzen, schaffte es dann doch nicht und kehrte besorgt wieder zu ihrem Aussichtspunkt am Fenster zurück. Zündete sich eine neue Zigarette an.
40 Minuten über die Zeit.
Vor der Scheibe begann es zu regnen.
Der Wind blies die Tropfen klatschend gegen das Fenster. Sie sahen aus wie Tränen.
Ich könnte sie auf ihrem Handy anrufen, überlegte Agneta vernünftig, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Ihre Tochter war in einem schwierigen Alter.
»Wenn ich dich jetzt anrufe, wirfst du mir wieder wochenlang Kontrollzwang und chronisches Misstrauen vor«, flüsterte die Mutter vor sich hin und überlegte, ob sie mit 12 auch so schwierig gewesen war.
»Eher nicht!«, stellte sie energisch fest, stieß sich vom Fensterbrett ab, drückte die Glut in der Blumenerde aus und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.
Ihre Eltern konnte sie nicht mehr danach fragen. Es war schon ein guter Tag, wenn die beiden sich noch daran erinnerten, eine Tochter zu haben.
Der Alzheimer fraß nicht nur die Erinnerungen der Betroffenen auf. Er zerstörte ihre Persönlichkeit, alles, was sie einmal waren, dachten, konnten, fühlten.
Müde strich Agneta ihre fettigen Haare aus der Stirn und wischte die feuchten Finger am Gesäß ihrer ausgeleierten Jogginghose ab.
»Claudia, wie schön dich zu sehen!«, hatte ihre Mutter beim letzten Besuch erfreut gerufen.
»Agneta. Ich bin Agneta!«
Die Mutter hatte angefangen zu weinen. War über mindestens eine Stunde nicht zu beruhigen gewesen. Beim nächsten Mal solle sie besser darauf verzichten, ihre Eltern zu korrigieren, beschied ihr die Pflegerin des Heims, es verstärke nur die allgemeine Verunsicherung, die der Demenzkranke ohnehin schon zu ertragen habe und verursache eine anhaltende Verstimmung, die den Alltag erheblich belaste. Agneta griff mit bebenden Fingern nach dem Teekessel, goss das Wasser in eine große Tasse und bewegte einen Teebeutel darin auf und ab.
55 Minuten.
»Fünf Minuten gebe ich dir noch, Gottwald. Wenn die Kleine bis dann nicht hier auf der Matte steht, fange ich an zu telefonieren!«
Sie nippte an der blutroten Flüssigkeit, verbrannte sich die Zunge.
»Claudia! Ha! Meine saubere Schwester. Seit Jahren ist sie nicht mehr hier gewesen. All die Arbeit bleibt an mir hängen, während das Madamchen sich einfach mit der Überweisung freikauft!«, fauchte Agneta zornig. »Aber Mama freut sich besonders über einen Besuch von Claudia! Tja, nun ist euch nur die ungeliebte Tochter geblieben, die andere jettet in der Welt herum. Pech auf eure alten Tage!« Sie hob den Teebecher an, als wolle sie ihnen auf die Entfernung zuprosten. »Ausgerechnet die hässliche, schmuddelige, ungepflegte Agneta.« Kein Wunder, dass es Simone bei Gottwald besser gefällt als zuhause bei ihrer Mutter, überlegte sie deprimiert. Bei Papa gibt es einen gepflegten Garten, ein modernes Haus mit Kamin und Designermöbeln, edlen Teppichen und Fernseh- und Musikanlage vom Feinsten und Teuersten. Nicht spießig und billig, abgestoßen und voller Schrammen wie bei mir. Vielleicht kann sie sich von all dem Luxus einfach nicht losreißen!
62 Minuten.
»So, Schluss jetzt, Gottwald, du altes Riesenarschloch! Du weißt ganz genau, was vereinbart ist! Deine Scheißspielchen gehen mir so was von auf die Nerven!«
Agneta griff zum Telefon.
Wählte Simones Handy an.
Es klingelte – und leitete nach dem sechsten Mal den Anrufer auf die Mailbox um. »Hier spricht Simone. Wahrscheinlich quatsche ich gerade mit jemand anderem. Hinterlasse deine Nummer und deinen Namen, ich rufe gleich zurück!«
Tränen drückten sich in die Augen der Mutter. Ob vor Angst, Sorge oder Wut konnte sie nicht sagen.
Bei Gottwalds Festnetzanschluss hatte sie auch kein Glück.
Niemand meldete sich – Gott sei Dank –, sie hätte sich nur ungern mit diesem Flittchen unterhalten, das nun bei ihm lebte. Sein Mobiltelefon lud sie freundlich ein, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Von diesem Angebot machte Agneta keinen Gebrauch. Wozu auch? Er würde ohnehin nicht zurückrufen.
90 Minuten.
Die vage Sorge wurde zur Gewissheit.
Es musste etwas passiert sein.
Etwas Ernstes, Dramatisches, Tragisches!
Vielleicht hatten die beiden einen Unfall! Sofort sah sie die Bilder vor sich: Zwei Körper in sonderbar verrenkter Haltung, blutüberströmte Gesichter, leblose Gestalten, unnatürlich bleich im zuckenden Blaulicht der herbeigerufenen Rettungsmannschaft. Erkannte entsetzt das hoffnungslose Achselzucken des Notarztes!
Nervös tippte sie eine neue Nummer ein.
»Hier spricht Agneta Paulsson. Meine Tochter ist nicht nach Hause gekommen. Sie ist mit ihrem Vater, meinem Ex, unterwegs. Gottwald Paulsson. Sie meldet sich sonst immer, wenn es eine Verspätung gibt. Aber jetzt kann ich weder sie noch ihren Vater erreichen. Ich habe solche Angst! Du musst mir helfen!«