Читать книгу Hausgemeinschaft mit dem Tod - Franziska Steinhauer - Страница 8

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Dr. Jussi Andersson wartete schon.

»Hej!«, begrüßte er den Hauptkommissar und hob kurz eine Hand als Gruß.

»Morgen.«

Der Händedruck des Rechtsmediziners war weich und doch kraftvoll – ganz anders, als Sven erwartet hatte.

»Die Kleidung des Mädchens ist bereits abgeholt worden, alle Taschen waren leer. Nicht einmal ein Taschentuch war zu finden. Absolut nichts. Gerade in dem Alter stecken sie doch ständig was ein – weil sie es rumzeigen wollen, weil es glitzert, weil sie nicht wissen, was es ist. Aber hier? Wie frisch gewaschen und ausgeschüttelt.«

»Sie war mit ihrem Vater unterwegs. Vielleicht mag der solche Sammelei nicht. Ich frage ihn danach.«

Der schmale Körper lag auf dem frostig anmutenden Edelstahltisch.

Der voll ausgeprägten Leichenstarre wegen in der gleichen Haltung, in der man ihn in den frühen Morgenstunden aus dem Wagenkorb geborgen hatte.

»Wir mussten die Drahtstäbe an einigen Stellen zerschneiden. Sonst hätten beim Herausheben Artefakte entstehen können, die eventuell fälschlich dem Tatgeschehen zugeordnet worden wären.«

Das erbarmungslose Licht der OP-Lampe leuchtete auf das Mädchen hinunter.

Lundquist schluckte hart.

An den Knien, den Armen und der Stirn hatte das sich eindrückende Drahtgeflecht ein deutlich sichtbares, weißes Gittermuster auf der sonst livide verfärbten Haut hinterlassen.

»Alle Auflageflächen zeigen das – dieses Gitter zeichnet sich abgemildert durch die Decke mehr oder weniger stark auf dem Körper ab. An Stirn und Knien besonders deutlich.«

Sven nickte kommentarlos.

»Die Untersuchung mit einer Speziallampe ist bereits abgeschlossen. Einige Fasern konnten wir sicherstellen, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass sie nur von ihrer eigenen Kleidung stammen. Kein Blut, kein Sperma auf der Haut.«

»Keine Vergewaltigung?« Sven wollte gerade erleichtert aufatmen, da hörte er den Rechtsmediziner antworten.

»Kein Sperma auf der Haut. Alles andere klären wir jetzt. Es wird sich zeigen, ob wir Hinweise auf einen sexuell motivierten Mord finden.«

»Hast du Einstichverletzungen entdeckt?«

»Nein. Bisher nicht. Sieh mal, ihre Haut ist fast makellos. Nicht einmal ein Hämatom ist zu sehen. Allerdings findet sich am linken Unterarm eine zirkuläre, nicht unterblutete Wunde.« Sven betrachtete die beschriebene Stelle, runzelte die Stirn.

»Nicht unterblutet? Also nach Eintritt des Todes entstanden, meinst du? Vielleicht trug sie ein Armband und der Täter riss es ihr vom Arm.« Er rieb sich am linken Unterarm, ertappte sich dabei und zog die Finger hastig zurück. »Du weißt schon, als Trophäe.«

»Möglich. Könnte aber auch auf dem Transport passiert sein. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass der Fundort auch Tatort war. Allerdings hat der Täter den Körper zügig zum Fundort transportiert, die Leichenflecken sind nur teilweise zur rechten Körperhälfte hin gewandert. Das tun sie nur in einem Zeitraum von wenigen Stunden.«

Jussi Andersson hob die Haare im Nacken etwas an. »Ich habe Hinweise auf die Einwirkung stumpfer Gewalt entdeckt, die bei den schlechten Lichtverhältnissen heute Morgen nicht zu bemerken waren. Hier ist deutlich eine doppelt konturierte Intrakutanblutung zu erkennen. Diese beiden Striemen. Sieht aus wie von einem sehr schmalen Metallrohr.« Er räusperte sich. »Ein hart geführter Handkantenschlag käme eventuell auch infrage.«

»Karate, Kendo? Etwas in der Art? Das würde den Kreis der Verdächtigen deutlich beschränken.«

»Wie gesagt, ein dünnes Metallrohr ist ebenfalls denkbar.«

»Warum zwei Abdrücke?«, wunderte sich der Ermittler.

»Das sind die Stellen, an denen die Waffe mit der größten Wucht auftrifft. Das Gewebe dazwischen weicht aus, der Rand wird stark gequetscht. So entsteht ober- und unterhalb des Tatwerkzeugs je ein Striemen.«

Andersson schickte Lundquist in den Flur hinaus. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, gab er dem Sektionsassistenten einen Wink. Schweigend griffen vier Hände zu.

Als Lundquist wenig später wieder eintrat, lag Simone ausgestreckt auf dem Rücken. Er schauderte, wollte gar nicht wissen, wie es dazu gekommen war.

Eine gefühlte Ewigkeit lang beobachtete der Ermittler mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu die Arbeit des Rechtsmediziners. Dessen Hände eröffneten mit geübten Bewegungen den Körper des Mädchens, legten Organe frei, entnahmen und wogen sie, der Assistent dokumentierte die Gewichte, notierte Analyseanfragen.

Zwei Stunden später wusste Lundquist, wie Simone gestorben war.

Der Gerichtsmediziner hatte ruhig und präzise gearbeitet, sprach in ein Diktiergerät, das in einer Halterung über dem Seziertisch befestigt war. Seine Stimme klang angenehm, die Worte waren grausam.

»Kein Sperma in Mund und Kehle«, der zweite Mediziner untersuchte entnommenes Gewebe an einem anderen Arbeitstisch voller Gerätschaften, von denen Sven nicht hätte sagen können, um was es sich handelte.

»Todesursache ist Genickbruch. Siehst du? Der dritte, vierte und fünfte Halswirbel sind getroffen worden.«

»Und das Pulver?«

»Ich tippe auf ein Barbiturat. Erst ruhig gestellt, dann getötet.«

In das folgende Schweigen hinein fragte Sven: »Braucht man viel Kraft, um einen Genickbruch herbeizuführen?«

»Du meinst, ob auch eine Frau den Mord begangen haben könnte? Ja! Entschlossenheit ist notwendig, eine gewisse Sportlichkeit. Ich habe vor einiger Zeit einen Fachartikel gelesen, der sich mit dem Mord an einem Jugendlichen beschäftigte, den Gleichaltrige umgebracht haben. Sie ließen ihn in den Bordstein beißen und sprangen in sein Genick.«

Lundquist schüttelte sich.

»Wie alt waren die denn?«

»Zwischen vierzehn und sechzehn.«

»Da ist noch ein Detail, das für deine Ermittlungen von Bedeutung sein könnte: Das Mädchen war erst zwölf, sagst du?«, fragte Jussi Andersson plötzlich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Sven nickte, quetschte ein »Ja, warum?« aus der Enge des Halses hervor.

»Sie hatte sexuelle Kontakte. Das Hymen ist gerissen und zwar nicht erst vor kurzem. Es gab einen Jungen in ihrem Leben!«

Der Hauptkommissar bemühte sich, diese Neuigkeit zu verarbeiten.

»Ist das üblich? Mit zwölf?«, fragte er etwas später ratlos. »Wie alt mag der Freund sein?«

»Heute probieren die Heranwachsenden früh allerhand aus. Drogen zum Beispiel. Aber eben auch sexuelles Handeln. Viele der 10-Jährigen haben Sexvideos auf ihren Handys, bei denen die Eltern heiße Ohren bekämen, könnten sie einen Blick darauf werfen.«

Er musterte den Ermittler nachdenklich. »Man hat mir erzählt, dass du auch eine Tochter hast. Wie alt ist sie denn?«

»Sechs. Und in vier Jahren hat sie ihren ersten Sex?« Svens Augen funkelten angriffslustig.

Der Rechtsmediziner beschloss, das Thema nicht zu vertiefen.

»Der Mageninhalt«, dozierte Dr. Jussi Andersson und wies auf eine Edelstahlschüssel, »ist ganz unverkennbar. Das ist praktisch nicht zu verwechseln. Pommes, Burger, Cola, ein Dessert. Vielleicht ein Softeis. Sie war also in einem Fast-Food-Restaurant. Die Mahlzeit wurde nicht mehr verdaut, was bedeutet, dass der Tod kurz nach dem Verzehr eintrat. Die genaue Analyse wird zeigen, was er ihr eingeflößt hat. Das Medikament befand sich wahrscheinlich in der Cola. Der Täter muss es vorher aufgelöst oder in flüssiger Form besessen haben, er konnte ja schlecht mit einem Holzspatel im Getränk des Mädchens herumrühren, bis die Tabletten sich aufgelöst hatten. Das dauert viel zu lang. Ist auffällig. Sie wäre eventuell misstrauisch geworden.«

»Weiße Krümel in der Cola? Nein, das geht nicht! Das würde ja sogar mir auffallen«, stimmte Lundquist zu.

»Ach, weißt du, manchmal ist das nur eine Frage der passenden Erklärung. Zum Beispiel könnte der Mörder eine Fritte hineinfallen lassen. ›Ach, wie ungeschickt von mir. Sieh mal, nun sind ein paar Krümel in der Cola, stört dich das?‹ und schon ist für das Kind alles klar.«

»Simone war zwölf«, wehrte Sven schwach ab.

»Ja, aber das muss ja nicht bedeuten, dass sie nicht manchen Menschen gern geglaubt hat, oder?«, grinste Jussi breit. »Meine Schwester war auch so. Was der Lehrer gesagt hat, war alles Quatsch, erst wenn unser Vater es bestätigte, wurde es wahr. Ihm und seinem Wissen hat sie bedingungslos vertraut. Aber, um wieder auf das Tablettenproblem zurückzukommen, einfacher wäre es, sie vorher aufzulösen – allerdings hast du dann eine milchig trübe Flüssigkeit, meist nicht homogen. Das Krümelproblem bleibt, sie sind nur kleiner.«

Während er sprach, räumte er einige Gerätschaften zur Seite und signalisierte dem Helfer, er könne damit beginnen, den Körper wieder zu schließen. Der zweite Mediziner beschriftete in der Zwischenzeit die letzten Proben, die zur Analyse vorbereitet werden sollten.

»Ansonsten war das Mädchen völlig gesund. Und da wir weder Sperma noch typische Hämatome entdeckt haben, ist sie wohl auch nicht Opfer einer Vergewaltigung geworden. Wir untersuchen das vaginale Gewebe noch gründlich auf Mikro-Einrisse und Spuren, die auf die Verwendung eines Kondoms schließen lassen.«

»Gibt es schon einen Verdächtigen?«, erkundigte er sich dann.

»Die Mutter hat ihren Ex-Mann beschuldigt. Sie ist fest davon überzeugt, dass der Vater das Mädchen missbraucht und danach umgebracht hat, um seiner geschiedenen Frau das größtmögliche Leid zuzufügen. Im Moment versuchen wir noch, ihn aufzuspüren. Sein Handy ist bedauerlicherweise ausgeschaltet.«

Svens Mobiltelefon brummte in der Tasche.

»Sven!«, rief Lars aufgeregt, »Wir haben Gottwald gefunden. Er ist jetzt bei sich zu Hause. Ich hole dich ab!«

Hausgemeinschaft mit dem Tod

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