Читать книгу Hausgemeinschaft mit dem Tod - Franziska Steinhauer - Страница 9
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ОглавлениеGottwalds Haus war eher eine noble Villa.
Umgeben von einer hohen Mauer wirkte das Anwesen abweisend, ja gar auf eigentümliche Art bedrohlich, so, als könnten die, die es bis hinter diese Einfriedung geschafft hatten, nie mehr in ihr bisheriges Leben zurück.
Sven schauderte.
Zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.
»Es ist Sommer!«, feixte Lars.
»Klar. Ab 1. Juni geht ganz Skandinavien in kurzen Hosen und trägt T-Shirt und Flip-Flops, egal wie das Wetter wird. Es ist schließlich Sommer. Mein Körper ist nicht kalendergesteuert. Der merkt noch, wenn er friert! Und unter 10 °C mag er nur mit warmer Jacke.«
Hinter der Mauer schlugen mehrere Hunde an. Ihr Bellen und Knurren war wütend und erklärte jedem, sie würden nicht zögern, Eindringlinge zu zerfleischen.
»Hoffentlich drückt jetzt von drinnen niemand auf den Summer fürs Tor. Die klingen so, als würden sie ungeladene Gäste notfalls auch am Stück zum Frühstück fressen«, murrte Sven unbehaglich und trat einen Schritt zurück, beugte leicht die Knie, wappnete sich gegen einen Angriff.
Lars grinste. »Das Thema Hund scheint dich ja im Moment zu verfolgen!«
Unerwartet schnarrte doch noch eine menschliche Stimme aus der Gegensprechanlage, eine Überwachungskamera schwenkte sich in Position.
»Wer klingelt?«, lautete die patzige Frage.
»Kriminalpolizei Göteborg. Wir möchten zu Gottwald Paulsson.«
»Haltet eure Ausweise vor den Scanner!«, forderte die Stimme unfreundlich.
Die beiden Freunde sahen sich suchend um.
»Scanner?«
»Ich sehe auch keinen«, meinte Lars grimmig. »Da nimmt uns einer auf den Arm!«
Ein leises Rattern.
Langsam zog sich das Rollo unterhalb der Sprechanlage zurück. Tatsächlich, eine dunkle Glasscheibe.
»Legt die Ausweise auf die Fläche, einen nach dem anderen«, lautete die nächste geschnarrte Anweisung.
Nachdem der Hausherr einen Blick auf ihre Legitimation geworfen hatte, teilte die verfremdete Stimme ihnen mit, sie müssten sich noch einen Augenblick gedulden.
Kurz darauf hörten sie eine Frauenstimme laut und befehlsgewohnt nach den Hunden rufen.
»Hörst du? Eine Kette, ein Schlüssel. Ein Zwinger. Lucifer, Satan und Zerberus – wie originell!«, höhnte Lars.
»Was wäre dir denn angenehmer gewesen? Whisky, Bourbon, Vodka? Pizza, Pasta, Insalata?«, fragte Sven trocken.
»Ja, ja. Schon gut«, maulte Lars. »Jedenfalls ist er jetzt zu Hause! Mal sehen, was er uns über den gestrigen Tag erzählen kann.«
»Er wird schon wissen, dass seine Tochter tot aufgefunden wurde. Agneta hat sicher wüste Anschuldigungen auf seiner Mailbox hinterlassen. Unser Kommen kann ihn also nicht überraschen. Er wird gut vorbereitet sein!«, orakelte Sven.
Im Zeitlupentempo fuhr das riesige Tor zurück und gab den Weg Zentimeter für Zentimeter frei.
Während sie auf das stattliche Eingangsportal zugingen, trat ein Mann von imposanter Statur und gewichtiger Erscheinung auf die oberste Stufe hinaus. Die Hände hatte er lässig in die Hosentaschen des Anzugs geschoben, den Zweireiher trug er offen, violettes Hemd und passende Krawatte, die Schuhe intensiv poliert, dass selbst das wenige Licht des Regentages sie so sehr zum Glänzen brachte, dass man sie für Lackschuhe hätte halten können. Seine graumelierten Haare trug er raspelkurz, die winzigen Augen waren in dem runden Gesicht kaum zu entdecken.
Er kam ihnen nicht einen Schritt entgegen.
Wartete auf dem Treppenabsatz und wippte von den Fersen auf die Zehenspitzen und wieder zurück.
Oben angekommen stellte Lars überrascht fest, dass Gottwald ihm nur bis zur Brust reichte. Auf die Ferne hatte er deutlich größer gewirkt. Scheinriese, dachte er verwundert.
»Sven Lundquist, und dies ist mein Kollege Lars Knyst. Wir kommen von der Kriminalpolizei Göteborg«, wiederholte Sven, was der Hausherr schon wusste.
»Gottwald Paulsson.« Es hörte sich an, als crushe er Eis für einen Drink.
Der Hausherr wandte sich um und ging forschen Schritts ins Haus zurück. Die beiden Ermittler mussten sich mühen, mit ihm mitzuhalten. Sven bemerkte, dass Gottwald stark schwitzte. Unter dem in dicken Röllchen bis zwischen die Ohren geschichteten Nacken hatte sich ein dunkler Rand auf dem Kragen des Oberhemdes gebildet.
In einem lichtdurchfluteten Raum hielt Gottwald unvermittelt an.
Außer einem weißen Sofa und einem Glastisch war nur ein Plasmabildschirm zu sehen.
Die Hände hatte Gottwald nicht aus den Taschen genommen.
Er bot den ungebetenen Besuchern nicht an, Platz zu nehmen.
»Und?«, fragte er aggressiv.
»Wir haben ein paar Fragen zu deinem gestrigen Ausflug mit Simone«, eröffnete Sven, dem bewusst wurde, dass der Vater wider Erwarten noch nicht über den Tod der Tochter informiert worden war – oder versuchte er nur, diesen Anschein zu erwecken?
»Hat sie es also wirklich getan! Agneta, diese Hexe! Sie drohte mir auf der Mailbox, sie wolle die Polizei auf meine Fährte hetzen. Ich hätte Simone etwas angetan! Und die Polizei lässt sich tatsächlich auf so etwas ein!« Er lachte dröhnend. Sein überaus beeindruckender Bauch hüpfte dabei rhythmisch auf und nieder. »Was für eine Farce!«
Der Mann stellte sich ans Fenster und sah in den Garten hinaus. »Diese schreckliche Person! Zu schade, dass ausgerechnet diese widerliche Frau Simones Mutter ist!«, meinte er zynisch und zog unbewusst den Oberkörper zurück, schob das Becken vor.
Sven beeindruckten derartige Dominanz- und Potenzgesten nicht. Aber er registrierte sie aufmerksam. Der Körper war manchmal ein richtiger Verräter.
Gern hätte er ihn gefragt, warum er Agneta geheiratet hatte, wenn sie so unausstehlich war – aber das gehörte natürlich nicht hierher.
»Simone kam gestern nicht pünktlich nach Hause zurück.« Lars’ Ton war schneidend.
»Ja, das passiert schon mal. Aber eigentlich muss sie sich große Mühe gegeben haben, auf den paar Metern bis zur Haustür noch zu spät zu kommen«, grinste der Vater süffisant und sah Lars direkt ins Gesicht.
»Du hast deine Tochter also zeitgerecht zurückgebracht?«, hakte Sven nach.
»Ja. Selbstverständlich. Sie sprang aus dem Wagen und ich winkte ihr nach. Warum Agneta so ein Gezeter gemacht hat, kann ich auch nicht erklären.« Jetzt schlich ein Ausdruck von Besorgnis in das Gesicht des Vaters. »Stimmt was nicht?«
»Es tut uns leid, Gottwald. Wir haben Simone heute am frühen Morgen tot aufgefunden.«
Der Vater räusperte sich.
»Tot? Tot aufgefunden? Was soll das bedeuten?«, stolperten Fragen unbeholfen hervor.
»Sie lag in einem Einkaufswagen. Vor dem Köpcenter in der Bratteråsgatan.«
Gottwald zog die feisten Finger aus den Hosentaschen und fuhr sich über die Lippen, als versuche er, unbedachte Äußerungen zurückzudrängen. Einen Augenblick lang schloss er die Augen, ein gequälter Ausdruck veränderte seine Züge wie ein flüchtiger Schatten, dann atmete er tief durch.
»Simone war es leid, dass ich sie wie ein Kleinkind an die Hand nehmen und bei ihrer Mutter abgeben musste«, erzählte er leise. »Ich habe das verstanden. Sehr gut sogar. Mit zwölf will man so etwas nicht mehr. Zur Schule bringt sie ja auch keiner! Sie hüpfte aus dem Auto und lief los. Nur ein paar Meter!«
»Warum hast du Agneta nicht zurückgerufen, als sie dir auf der Mailbox diese Drohung hinterlassen hatte?« Knyst beobachtete den Mann genau.
»Ich ging davon aus, dass die Sache längst geklärt und Simone bei ihr zu Hause war.« Gottwald stöhnte. »In einem Einkaufswagen? Also Mord! Wer hat das getan?« Ohne Vorwarnung war die aggressive Haltung zurück. »Wann?«
»Das versuchen wir herauszufinden. Wir müssen Simones Tag rekonstruieren. Fangen wir mit dem an, was ihr zusammen unternommen habt.«
»Dann sollten wir besser in mein Arbeitszimmer gehen.« Gottwalds zu kurze Arme schwangen in Richtung der Tür. Die Geste wirkte resigniert, nicht einladend. »Ich stehe auf eurer Liste der Verdächtigen ganz oben, nicht wahr? Agneta hat behauptet, mir sei so etwas ohne weiteres zuzutrauen, habe ich Recht? Seit Jahren verbreitet diese Frau Lügen über mich, sie war deshalb sogar bei einem Psychologen. Geändert hat sich nichts!«, zischte der Vater wütend. »Agneta und ihre Hirngespinste!«
»Wenn sie so verwirrt ist, warum hast du Simone dann in ihrer Obhut gelassen?«, fragte Lars provozierend.
»Das war ja wohl auch ein Riesenfehler!«, gab Gottwald betroffen zurück. »Wer weiß, vielleicht hat sie selbst das Kind getötet, nur um mich und meine Zukunft zu zerstören. Agneta wäre jedes Mittel recht, um meine Hochzeit mit Ingelore zu verhindern! Sie ist krankhaft eifersüchtig! Psychopathin!«
Auch das Arbeitszimmer hatte Glasfronten zum parkähnlich angelegten Garten.
Auf dem gläsernen Schreibtisch stand aufgeklappt ein stylisches Notebook, an der Wand hing über einer schwarzen, kubistischen Couch ein überdimensioniertes, modernes Ölgemälde.
Lars musterte es skeptisch, bevor er sich setzte, als habe er die Befürchtung, es könne herunterfallen.
»Wir waren im Zoo.«
»Ist das nicht ein ungewöhnliches Ziel für eine 12-Jährige?«
»Simone wählte das Ziel aus«, antwortete Gottwald vorwurfsvoll. »Das haben wir schon seit der Scheidung so gehalten.«
»Sie wollte also gern in den Zoo. Gab es einen speziellen Grund dafür?«, wollte Lars wissen.
»Ja, den gab es tatsächlich. Ein kleines Nashorn. Simone war ganz verschossen in den Winzling.«
Gottwald starrte plötzlich geistesabwesend auf das bunte Bild hinter den Ermittlern und schwieg.
»Und außerdem?«, stieß Sven den Redefluss wieder an.
Der Vater zuckte heftig zusammen.
»Wir waren essen. Das ist mit Simone gar nicht so einfach. Ihre Mutter lässt ihr alle Launen durchgehen. Und so mag sie dies nicht und das noch weniger, weder scharf noch flau, ohne Fleisch, aber um Himmels willen nicht ständig Gemüse. Ihr versteht schon. Irgendwie hängen sie in dem Alter zwischen Baum und Borke fest.«
»Hat sie jemanden im Zoo getroffen? Aus der Schule vielleicht?«
Der schwere Mann grunzte ungehalten.
»Nein! Hört zu: Wir hatten einen ruhigen und entspannten Tag miteinander. Wie immer, wenn es nach Simones Kopf geht. Wir waren essen, zum Abschluss gab es Eis. Dann habe ich sie zu ihrer Mutter gebracht – wie immer. Gemeinsames Abendessen erlaubt Agneta uns nämlich nicht. Da ist sie genauso konsequent wie bei der Pünktlichkeit.« Trauer und Nachdenklichkeit schwangen in diesen Worten mit.
»Du hast uns schon erklärt, warum du Simone diesmal nicht direkt an der Wohnungstür abgeliefert hast«, leitete Lundquist seine nächste Frage ein. »Aber ich glaube nicht, dass der Wunsch deiner Tochter nach Selbstständigkeit dein einziger Grund war. Warum war es so leicht, dich zu überreden?«
Die Stille im Raum fühlte sich mit einem Mal unheilvoll an.
Gottwald schien das auch so zu empfinden.
Hektisch antwortete er: »Ja, ich habe sie an der Ecke rausgelassen. Und es war mir recht – sehr recht sogar! Ihr macht euch keine Vorstellung von dem Affenzirkus, den Agneta jedes Mal veranstaltete, wenn ich Simone zurückbrachte. Vorwürfe, Anschuldigungen, Nörgeleien, Unzufriedenheiten – an allem, was in ihrem Leben schiefging, trug ich ihrer Meinung nach die Schuld! Ich legte es nicht darauf an, ihr zu begegnen. Simone drehte sich zu mir um, winkte und ich fuhr los. Zu Ingelore. So schnell es ging. Ich wollte den Abend mit ihr genießen. Wir tranken Wein, sahen uns ›Hugo Cabret‹ von Scorsese im Kino an, kehrten dann wieder zu ihrer Wohnung zurück.« Gottwalds Stimme schwankte, als er bitter sagte: »Während ich unvergesslichen Sex hatte, brachte irgend so ein perverses Schwein mein einziges Kind um!« Er drehte sich mit Mühe aus dem Sessel, trat ans Fenster und wandte den beiden Ermittlern den breiten Rücken zu. Lundquist bemerkte einen feuchten Fleck zwischen den Schulterblättern auf Gottwalds Sakko. Warum schwitzte der Vater so? Wegen des Schocks über die Todesnachricht – oder gab es noch einen anderen Grund?
Vor der Terrassentür stolzierte ein nachtschwarzer Kater vorbei.
Hormon- und kraftstrotzend den Schwanz steil erhoben. Ganz eindeutig war er hier der Herr des Reviers – zumindest solange die drei Bestien der Hölle eingekerkert waren.
»Hat er sie …«
»Nein. Simone wurde nach ersten Erkenntnissen der Rechtsmedizin nicht das Opfer einer Vergewaltigung.«
»Warum dann?«, flüsterte der Vater.
»Vielleicht war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir wissen noch nicht genau, was passiert ist.«
»Als du deiner Tochter zugewinkt hast, hatte sie da ihre Tasche dabei?«, wechselte Lars zu einem neuen Aspekt.
»Ja. Sie liebte diese Tasche. Die habe ich ihr aus Afrika mitgebracht, rot-bunt.« Seine Stimme verdämmerte. Eine kleine beschlagene Stelle bildete sich vor seinen Lippen an der Scheibe, ein blinder Fleck.
»Nur weil ich sie nicht bei meiner Ex abgegeben habe, ist sie nun tot! Ich bin schuld.«
»Mit dir war sie nicht in einem Fast-Food-Restaurant?«, fragte Lundquist wie beiläufig.
»Nein! Wir haben im Zoorestaurant gegessen. Am Mittag, und später ein Eis.«
»Vielleicht hat sich Simone noch mit jemandem getroffen, nachdem sie ausgestiegen war«, überlegte Sven laut.
Gottwald drehte sich sehr langsam um. Sein Blick wirkte trübe, wie auf die Ferne gerichtet oder in eine angenehme Vergangenheit.
»Gesagt hat sie nichts davon«, seufzte er tief. »Aber das musste sie ja auch nicht. Sobald sie mich verlassen hatte, war ihre Mutter wieder zuständig. Agneta hätte es erlauben müssen.«
»Was würde jemand erzählt haben, der deine Tochter zum Mitkommen überreden wollte?«, wollte Lars wissen.
Der Vater schlug die Hände fest zusammen.
»Sie wusste natürlich, dass sie niemanden begleiten durfte. Wie alle Kinder. Tatsächlich gibt es tausend Dinge, bei denen sie schwach geworden wäre. ›O weh, mein kleiner Hund ist hinter den Einkaufswagen eingeklemmt. Ich kriege ihn allein niemals da raus‹ oder ›Eine Katze hat ihre Jungen in einem der Einkaufswagen geworfen. Gleich kommt der Wachmann vorbei. Wenn der das entdeckt, schlägt er die Kleinen sofort tot‹. Simone wäre sofort bereit gewesen zu helfen. Wenn es um Tiere ging, war der Verstand bei ihr ausgeschaltet.«
Lundquist nickte voller Verständnis. Dachte einen Moment an den Typen mit den Dreadlocks, den er finden musste.
Gottwald schniefte.
Wischte sich mit seinen teigigen, weichen Händen über die Augen.
Einen Wimpernschlag lang hatte Lundquist die Assoziation von klebriger Hitze und Schweißfeuchte an diesen Fingern. Ekel stieg in ihm auf.
»Außer dieser schwachsinnigen Anschuldigung von Agneta habt ihr keinen Grund, mir zu misstrauen! Ich habe nichts mit Simones Tod zu tun!«, brüllte Gottwald plötzlich cholerisch auf. »Ständig versucht sie, mir irgendetwas anzuhängen. Bei der Steuerbehörde hat sie mich angeschwärzt, behauptete, die Hälfte meiner Gelder läge auf geheimen Konten im Ausland und würde von mir nicht verbucht. Alles haltlos. Natürlich wurde nichts gefunden.«
»Worin sollte für Agneta das Motiv für solche Anwürfe liegen?«, fragte Knyst, obwohl er glaubte, die Antwort schon zu kennen.
»Agneta ist krank«, seufzte Gottwald.
»Krank?«
»Ja. Psychisch krank. Sie hat im Laufe der Jahre mehrere Therapien gemacht, aber so richtig geholfen hat ihr keine. Es ist nicht so, dass man sie als gemeingefährlich bezeichnen müsste. Tatsächlich sind ihre Fantasien ausschließlich gegen mich gerichtet.«
Gottwald trat an seinen Laptop und öffnete einige Dateien, trug ihn zu den beiden Ermittlern hinüber.
»Das sind Fotos von Agneta, als wir noch glücklich verliebt waren. Ich habe sie für Simone aufbewahrt, damit sie später auch Beweise für eine gute Zeit im Leben ihrer Mutter hat. Aber die brauche ich ja nun nicht mehr!«, schloss er bitter. »Die Schwierigkeiten begannen erst während der zweiten Hälfte der Schwangerschaft. Sie fand sich fett, hässlich, nicht mehr begehrenswert. Während sie mir Sex verweigerte, fing sie an, Geschichten zu erzählen von Frauen, mit denen ich sie angeblich betrügen würde, weil sie mit dem Bauch nicht anziehend sei. Sie merke es daran, dass ich sie nicht mehr ins Bett zu kriegen versuche. Doch das war erst der vergleichsweise harmlose Anfang ihrer pathologischen Vorstellungen. Unser Hausarzt riet mir, Ruhe zu bewahren, es handle sich nur um hormonelle Schwankungen und nach der Entbindung käme alles wieder ins Lot. Unnötig zu erwähnen, dass dem nicht so war! Im Gegenteil! Agneta begann, überall blaue Flecken vorzuzeigen und zu behaupten, ich sei für deren Entstehung verantwortlich. Das ganze gipfelte in ihrer Behauptung, sie sei voller Sorge, ich könne auch dem Kind etwas antun. Gegen so etwas kann man sich nur sehr schwer zur Wehr setzen. Ich habe mich scheiden lassen.«
»Also ging die Entscheidung zur Trennung von dir aus?«
Gottwald musste wohl das Erstaunen im Ton wahrgenommen haben. »Wieso? Hat sie etwa was anderes behauptet?«, brauste er erneut auf. Diesmal hatte sich seine Gesichtsfärbung schlagartig von rot nach blau verändert. »Nur um das jetzt ein für alle Mal klarzustellen: Simone war auf dem Weg zu ihrer Mutter, als ich sie das letzte Mal sah! Was sich unterwegs oder bei den beiden in der Wohnung ereignet haben mag, kann ich nicht sagen!« Er holte tief Luft. »Ich meine, ihr kommt hierher, ich erfahre vom Tod meines einzigen Kindes und dann werde ich im selben Atemzug verdächtigt, es getötet zu haben! Ist euch klar, wie unglaublich dieses Verhalten ist?«
»Wir befragen jeden, der in den letzten Tagen Kontakt zu Simone hatte. Das richtet sich nicht gegen dich, sondern ist Routine«, erklärte Lars ruhig.
»Routine? Routine? Für euch ist der Tod von Simone schon nach so kurzer Zeit Routine?«, brauste Gottwald sofort wieder auf.
»Nein«, schaltete Sven sich ein, »nicht ihr Tod. Mord wird nie zur Routine. Die Befragung aber schon. Und der muss sich jeder stellen.«
Der Vater blasste langsam wieder ab, schnaufte aber wie eine Dampfmaschine.
»Simone hat bei unserem Treffen im letzten Monat den Zoo als Ziel festgelegt. Sie hat sich gestern darauf gefreut. Es war ein richtig schöner Tag mit Lachen und entspannter Zweisamkeit. Danach habe ich sie zu ihrer Mutter zurückgebracht. Als sie ausstieg, war sie ausgesprochen guter Dinge.«
»Es gab keine Diskussion über Geld, Wünsche, Pläne? Keinen Missklang?«, blieb Lars hartleibig am Thema.
»Nein! Sie hatte Wünsche – wie immer – und ich versprach, ein paar davon zu erfüllen. Manche waren ›Auftragswünsche‹ ihrer Mutter, das habe ich sehr wohl erkannt. Die bediene ich natürlich nicht. Simone war auf ein stylisches Outfit aus, das sie bei jemand anderem gesehen hatte. Ich versprach ihr einen Einkaufsbummel.«
»Kennst du einige ihrer Freundinnen?« Sven registrierte, wie leicht es Gottwald fiel, von seiner Tochter im Präteritum zu sprechen – vielleicht weil er schon lange in der Vergangenheit von Simone dachte? Größtmögliche innere Distanz?
»Ja. Bloß dem Namen nach. Es gab nur drei, die echte Freundinnen waren – und von denen war nur Ulla so etwas wie eine beste Freundin.« Er zog einen kleinen Notizblock aus der Sakkotasche, notierte etwas.
»Den Namen von Agnetas Psychologen bräuchten wir auch – und den von deinem Scheidungsanwalt«, meinte Lars.
Gottwald sah kurz auf, murrte unwillig, setzte zwei Zeilen hinzu und riss das oberste Blatt ab, reichte es Lars hinüber. »Simone war schwierig, da findet man nicht so leicht Kontakt.« Er hob die Arme gen Himmel und ließ sie wieder auf seine massigen Oberschenkel fallen. »Sie war mir wichtig. Für die Störungen ihrer Mutter konnte die Kleine ja nichts.« Er starrte auf seine fleischigen Hände. Schwieg. Hustete. »Agneta ist alles zuzutrauen, wenn es mir zum Schaden gereicht. Ihr solltet nicht unterschätzen, was solch eine Frau tun kann, um das Glück ihres Exmannes zu verhindern.«
»Wir haben schon verstanden. Und natürlich werden wir in alle Richtungen ermitteln«, meinte Sven und nickte ihm zum Abschied zu. »Wir finden selbst hinaus – es sei denn, die Hunde sind wieder los.«
»Die sind im Zwinger. Eigentlich laufen sie nur nachts übers Gelände«, murmelte Gottwald und sah aus, als habe er die Anwesenheit der beiden schon vergessen, noch bevor sie den Raum verlassen hatten.
Doch noch ehe sie durch die Tür getreten waren, stand er unvermittelt neben ihnen. »Dann kann ich die Unterhaltszahlungen mit sofortiger Wirkung stoppen, oder? Spricht doch nichts dagegen, dass Agneta nun für ihren Lebensunterhalt allein sorgt, nicht wahr?«, fragte er und grinste diabolisch. »Ein Kind hat sie ja jetzt nicht mehr zu betreuen!«
»Was meinst du?«
»Schwer zu sagen«, knurrte Sven düster. »Ich denke, meine Reaktion auf die Mitteilung, meine Tochter sei Opfer eines Mörders geworden, fiele deutlich anders aus. Gottwald war, hm, so unemotional.«
»Wäre ich Regisseur und hätte die Karikatur eines pädophilen Serientäters zu besetzen, würde ich Gottwald auf jeden Fall zum Casting einladen!«, spuckte Lars wütend in die kühle Morgenluft. »Ist das ein arroganter, aalglatter Kerl. ›Seht her, ich bin der tolle Gottwald Paulsson!‹«
»Simone kam nicht nach Hause, die Mutter alarmierte die Polizei. Schon bei diesem ersten Gespräch brachte sie die Möglichkeit ins Spiel, der Vater könne der Kleinen etwas angetan haben. Ist zumindest sonderbar. Sie wollte sicher sein, dass wir als erstes diese Spur verfolgen. Zu dem Zeitpunkt wusste sie nichts vom Tod ihrer Tochter. Und nun behauptet Gottwald, Agneta käme ohne weiteres selbst als Täterin infrage. Rosenkrieg der besonderen Art?«
»Es gibt keine Anzeichen oder Hinweise auf eine Vergewaltigung, erste ›Tatwaffe‹ war irgendeine beruhigende Substanz, nach der Betäubung benutzte der Täter eine Art Metallrohr. Eine Frau könnte den Mord ebenso begangen haben wie ein Mann. Simone wurde nicht entwürdigend drapiert oder ›weggeworfen‹, sondern auf eine Decke gebettet. Der Täter hat sich um das tote Kind bemüht. Sieht für mich aus, als mochte er sie. Was nicht automatisch bedeutet, dass es sich um ein Familienmitglied handeln muss! Wir beide wissen sehr genau, was manch ein Täter nach dem Mord versucht, um die Tat ungeschehen und alles wieder gutzumachen. Die Haare über ihrem Gesicht – wollte er sie nicht länger ansehen oder sollte sie ihn nicht mehr sehen? Kannst du dich noch an diesen Hugo erinnern?«
Lars nickte. »Klar. Der hat sich immer auf den ersten Blick unsterblich verliebt und wollte die Frauen dann ganz für sich allein besitzen. Das ging seiner Meinung nach nur, wenn sie willenlos waren …« Sven hatte Recht, räumte er in Gedanken ein. Sie wussten gar nichts! Alles nur Gerüchte, keine belastbaren Aussagen. Er schob energisch die Fäuste in die Hosentaschen. »Nach der Tat hat er sie in eine Decke eingewickelt, komplett, nur die Haare guckten noch raus. Weil er ihnen nicht mehr ins Gesicht sehen konnte, hatte Hugo behauptet. Schließlich hatten sie Sex miteinander gehabt, waren sich nicht mehr fremd. Ich erinnere mich genau.« Lars stockte. »Du willst darauf hinaus, dass er an dem Mädchen etwas wieder ›gutmachen‹ wollte? Mag sein, dass sie ihm nicht gleichgültig war. Er machte es ihr bequem.«
»Nun, so ganz stimmt das allerdings nicht. Er legte sie nicht ab – er hat sie regelrecht zwischen die Gitter ›gestopft‹. Dazu musste er Kraft aufwenden. An den Knien hat das zu Hautabschürfungen geführt. Liebevoll war das nicht. War doch eher Wut oder gar Hass im Spiel?«
Nach wenigen Schritten ergänzte er: »Simone hatte einen Freund. Regelmäßige sexuelle Kontakte fanden statt. Ein Geheimnis, von dem die Eltern sicher nichts ahnten. Wo haben die beiden sich getroffen? Bei ihm? Agneta ist den ganzen Tag zu Hause, da waren sie nicht unbeobachtet. Vielleicht hatte sie beschlossen, sich von ihm zu trennen – er konnte diesen Gedanken nicht ertragen, wollte sie auf keinen Fall an einen anderen verlieren. Auch das wäre schließlich ein denkbares Szenario. Wir wissen bisher nichts über das Mädchen, über ihre Vorlieben, ihre Träume, Pläne, Wünsche. Im Grunde nur, dass sie Tiere mochte. Wir sollten uns so schnell wie möglich ein Bild von ihr machen.«
»Ihre Freundin?« Lars zog die beiden Zettel von Mutter und Vater hervor. »Sieh mal, wenigstens in diesem Punkt waren sie sich einig. Drei gleiche Namen, und von Agneta haben wir auch die Adressen dazu.«
Den Wagen in einer der Seitenstraßen zu parken, erwies sich als nicht so einfach wie gedacht. Überall waren umfangreiche Aufräumarbeiten im Gange, die Bürgersteige wurden gefegt und geschrubbt, sogar mobile Reinigungsfahrzeuge kamen dabei zum Einsatz.
»Die nehmen’s aber ernst mit der sauberen Straße zum Wochenbeginn!«, staunte Lars. »Sieht aus, als wäre das ganze Viertel auf den Beinen. Dabei fängt der Montag ja gerade erst richtig an.«
Die Wohnung der Svenssons war für eine vierköpfige Familie zu klein, Stauraum, trotz der vielen ›Wegräummöbel‹ eines schwedischen Möbelhauses, Mangelware. Mutter Margit musterte die beiden Polizisten unfreundlich.
»Lasst bloß meine Ulla in Frieden. Die hat eurem Kollegen gestern Abend schon alles erzählt, was sie über Simone weiß. Es ist für ein Kind in diesem Alter nicht leicht zu verarbeiten, dass die beste Freundin ermordet wurde. Wie man hört, vom eigenen Vater!«
»Simones Mörder kennen wir noch nicht. Wir verfolgen alle Spuren.« Der Tadel war unüberhörbar.
Das von zu vielen Zigaretten, Alkohol und Entbehrungen gezeichnete Gesicht der Mutter wurde noch abweisender, ihre Augen kalt und trotzig.
»Meine Ulla hat nichts mehr zu sagen!«
»Das Gespräch mit Filip Björk fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem sie noch dachte, Simone sei nur mal kurz untergetaucht. Gestern Abend konnte man das Ganze noch für hysterisches Getue der Erwachsenen halten. Doch jetzt weiß Ulla, dass Simone nicht mehr lebt. Das mag ihren Blick auf die Dinge verändern.« Sven Lundquist blieb freundlich, trat aber entschlossen einen Schritt vor, stand nun mitten in einem chaotischen Wohnzimmer. Geschirr auf dem Tisch, Essensreste, die ganz sicher nicht vom heutigen Frühstück stammten, volle Aschenbecher, leere Weinflaschen, Kleidungsstücke in Haufen auf dem Boden verteilt, der Fernseher flimmerte ohne Ton. Margit schien das alles erst jetzt zu bemerken. Sie wirkte verblüfft, als sie sich umsah.
»Mein Mann hat Nachtschicht. Da muss so manches liegenbleiben. Aufräumen verursacht Geräusche.«
»Wir müssen unbedingt mit Ulla sprechen. Dabei sind wir leise. Wenn wir fertig sind, verschwinden wir sofort«, wisperte Knyst.
Margit brummte grimmig.
Zeigte mit ihrem kurzen Zeigefinger auf die rechte Tür.
»Dort.« Dann legte sie den Finger über die Lippen und huschte davon. »Mich braucht ihr ja wohl nicht dazu. Ich hab’ das Essen auf dem Herd!«
Ulla lag angezogen auf dem Bett.
Die vom Weinen verquollenen Augen sahen die beiden Männer nur flüchtig und ohne jedes Interesse an.
»Polizei?«, wisperte das Mädchen.
»Ja. Sven Lundquist und Lars Knyst. Wir glauben, dass du uns helfen kannst, Simones Mörder zu finden.«
Lars, dessen schiere Größe dafür sorgte, dass der Raum überfüllt wirkte, nahm einen Stapel Kleidungstücke vom Schreibtischstuhl, setzte sich und legte sich Jeans und T-Shirts über die Knie.
»Simone war meine beste Freundin«, schniefte Ulla.
»Ein schwerer Schock für dich.«
»Sie war so aktiv! Verstehst du, wenn keinem etwas einfiel, konnte man mit Simone noch immer was erleben. Mit ihr zusammen war Freizeit ein einziges Abenteuer! Sie hatte ständig irgendwelche Pläne.«
»Pläne?«, hakte Sven vorsichtig nach.
»Ja, wirklich. ›Heute könnten wir bei Janny’s ein Eis essen und danach Videos gucken oder ins Kino. Vielleicht auch zum Shoppen, ich habe gesehen, dass sie bei Banana Boat Sonderangebote haben. Weißt du schon, dass morgen bei Piet und Klaus Karaokeabend ist? Da gehen wir hin! Und nächste Woche zum Poetry Slam, das wird toll! Michael kommt auch!‹ – So war Simone.«
»Michael?«
»Ach, das ist einer der Jungs von der Schule. Der ist ganz nett. Und schreibt coole Gedichte.«
»Was hatte Simone für dieses Wochenende vor?«
»Sie war mit ihrem Papa unterwegs.«
»Er hat uns gesagt, die Planung für die gemeinsamen Wochenenden machten sie immer im Voraus. Was hatten sie sich vorgenommen?«
Ulla knabberte an ihrer Unterlippe und schwieg.
Dann fischte sie ein Taschentuch unter dem Kopfkissen hervor und putzte sich ausgiebig die Nase.
Lundquist wusste, sie überlegte, wie viel sie den beiden Männern verraten durfte, ohne ein Geheimnis preiszugeben.
Sie traf die falsche Entscheidung.
»Keine Ahnung.«
»Ulla, das ist gelogen!«
»Ist es nicht. Oder soll ich jetzt extra für dich etwas erfinden, nur damit du wieder abziehst?«
Der gleiche Trotz wie bei ihrer Mutter, registrierte Knyst mit aufsteigendem Zorn, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Warum nur verhielten sich die Leute so unkooperativ? Sie hatten einen Mord aufzuklären und waren nicht zum Hausieren an der Wohnungstür aufgetaucht!
Lundquist blieb äußerlich entspannt. »Wir suchen einen Mörder, Ulla! Simone ist tot, du kannst uns helfen, aber dazu müsstest du uns schon die Wahrheit sagen – Simone kann uns nichts mehr über ihren Abend erzählen.«
Ulla starrte auf das Muster der Bettdecke.
»Sie wollten in den Zoo«, flüsterte sie erstickt. »Später am Abend hatte sie eine Verabredung mit Onkel Ingeleif.«
»Hat sie sich öfter mit ihm getroffen?«
»Mit Onkel Ingeleif? Nein! Sie hatte ihn vorher nie erwähnt. Im Grunde wollte sie mir auch vorgestern nichts davon sagen, es ist ihr so rausgerutscht. Weil ich mit ihr zum Karaoke gehen wollte.«
»Du kennst ihn also nicht?«
Ulla schüttelte den Kopf.
»Hat sie dich noch ein bisschen mehr über Onkel Ingeleif wissen lassen? Zum Beispiel seinen Nachnamen, sein Aussehen?«
»Nein. Als ihr der Name rausgerutscht war, hat sie direkt erschrocken geguckt. Ich musste schwören, niemals ein Wort darüber zu verlieren.« Sie weinte leise.
»Wann sollte denn das Treffen stattfinden?«, setzte Sven dennoch nach.
»Es war ja ein Papa-Wochenende. Da bringt er sie immer pünktlich zu ihrer Mutter zurück. Ich glaube, sie wollte nur rasch reingehen und behaupten, wir beide seien verabredet, und zu Onkel Ingeleif verschwinden. Sie hat es nicht gesagt, aber ich habe gespürt, wie sehr sie sich darauf gefreut hat.«
»Er ist Simones Freund, ja?«
Ullas Augen wurden rund vor Staunen.
»Von dem wisst ihr auch schon?«
Sven nickte wortlos.
»Ingeleif war nicht ihr Freund! Der heißt Bodo. Arbeitet bei Ordning & Reda unten an der Ecke. Sie kaufte dort manchmal ihre Hefte – weil die eben besonders sind. Bezahlte ihr Vater. So sind sie sich wohl begegnet.«
»Und Bodo wusste von der Verabredung mit Onkel Ingeleif?«
»Nein, das glaube ich nicht. Wenn sie nicht einmal mich einweihen wollte … Und Bodo musste gestern arbeiten, wegen des Straßenfestes!«
»Ein Straßenfest? Na, da war ja sicher richtig was los!«, schaltete sich Lars plötzlich ein.
»Klar. Die Geschäfte hatten alle geöffnet. Und jeder hat irgendetwas zu essen oder zu trinken angeboten. Die Bürgersteige waren voll wie vor Weihnachten!«, erklärte sie mit leuchtenden Augen, hatte den Mord an ihrer Freundin für einen Augenblick vergessen.
Doch dann senkte sie schuldbewusst den Kopf. »Weihnachten wird total öde werden ohne Simone! Bei uns passiert nie etwas Interessantes.«
»Hatte Simone Schwierigkeiten in der Schule? Du weißt schon, so richtig Ärger mit jemandem aus der Klasse?«
»Mobbing? Wirklich nicht! Simone war jetzt nicht der Star – aber wenn sie manchmal zickig wurde, haben die anderen sie einfach in Ruhe gelassen. Sie freundete sich nicht leicht mit jemandem an, vertraute nur wenigen. Aber Zoff gab es mit ihr nie.«
Knyst nickte dem Mädchen verständnisvoll zu.
Sven zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche. »Ulla, hier stehen unsere Telefonnummern drauf. Wenn dir noch etwas einfällt, solltest du uns sofort anrufen. Auch dann, wenn du denkst, es sei doch nicht so wichtig. Manchmal stellt sich erst im Lauf der Ermittlungen heraus, welche Beobachtungen von Bedeutung sind und welche nicht. Der Mörder von Simone ist vielleicht auch für andere Mädchen gefährlich. Je schneller wir ihn fassen, desto besser!«
Ulla sah ihn ernst an.
»Naja, weißt du … also«, ihre Stimme klang kläglich, als seien die Worte zu sperrig für ihren dünnen Hals, »ich glaube nicht, dass Onkel Ingeleif wirklich Simones Onkel war«, räumte sie tonlos ein.
»Warum? Gab es Andeutungen von ihr in diese Richtung?«
»Nein. Aber sie hat in all den Jahren, die wir uns nun kennen, noch nie von diesem Onkel erzählt. Kein Wort. Und mal ehrlich: Wessen Onkel heißt schon Ingeleif?«
»Hm, du meinst, sie hat sich den Namen ausgedacht.«
»Möglich.«
»Wir werden nach ihm suchen – und vielleicht hat er ja mit dem Tod Simones gar nichts zu tun«, wiegelte Sven ab. »Du hast alles richtig gemacht, Ulla. Erst geschwiegen und dann die Polizei informiert. Simone wäre stolz auf dich.«
»Wenn du meinst«, wisperte das Mädchen unsicher und schluchzte trocken auf.
»Seid ihr nun endlich fertig!« Die Mutter war unbemerkt eingetreten. Ihr Blick giftete durchs Zimmer. Bohrte sich in Lundquists Gesicht.
»Fürs Erste sind wir wohl fertig«, gab Sven höflich zurück und verabschiedete sich von seiner Zeugin.
»Unfreundlich wäre ein Euphemismus!«, polterte Lars, als sie wieder auf der Straße standen.
»Sei nicht ungerecht. Vielleicht wächst ihr gerade alles über den Kopf. Außerdem ist sie besorgt. In unmittelbarer Nachbarschaft wurde ein Kind ermordet.«
Knyst grunzte unwillig. »Wir sind die, die ihr diese Angst nehmen könnten! Unsere Arbeit sollte man unterstützen, nicht torpedieren.«
»Theoretisch sicher richtig, aber zu idealistisch gedacht. Weißt du, Mütter ticken anders. Erstens sind sie davon überzeugt, die besten Beschützer ihrer Kinder zu sein und zweitens ist ihnen die Tatsache, dass wir ermitteln müssen, Beweis genug dafür, dass unsere Arbeit im Vorfeld schlecht war.« Lundquist atmete tief durch, dachte an seine eigene, charakterlich schwierige Mutter und setzte hinzu: »Manche versuchen, dich ein ganzes Leben lang zu betreuen.«
Lars grinste. Er wusste um die besonderen Probleme im Lundquistschen Haushalt. Nach dem Tod von Anna, Svens erster Frau, hatte seine tatkräftige, energische Mutter die Versorgung des Witwers und der Enkelin übernommen. Als der Sohn sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen wollte, war sie nicht bereit gewesen, dies zu gestatten, hatte sich mit allen Mitteln gegen die neue Schwiegertochter gewehrt.
»Und wenn Onkel Ingeleif nun ein Hirngespinst ist? So etwas wie eine Fata Morgana?«
»Wir hatten früher eine Katze. Wenn irgendetwas verschwand, haben wir immer gesagt ›Mathilde muss das gewesen sein‹. So könnte es sich auch mit Onkel Ingeleif verhalten. Der Name ist nur Synonym für etwas Verbotenes. Damit man überhaupt darüber reden kann, verwendet man einen Fantasienamen. Ulla hat recht. Wessen Onkel heißt schon Ingeleif.«
»Meiner zum Beispiel«, empörte sich Lars. »Er lebt glücklich an einem kleinen norwegischen Fjord. Seine Frau Chin Li ist eine wunderbare Köchin. Inzwischen beherrscht sie sogar die traditionelle Küche. Du solltest mal ihr Dillfleisch probieren. Mit frischem Lamm – ein Traum.«
»Lamm? Magda nimmt Kalb dafür. Ist bei uns ein gern gegessenes Sonntagsgericht. Lisa mag es am liebsten mit Nudeln. Aber natürlich gehören traditionell Bratkartoffeln dazu. Und deine chinesiche Tante kann das wirklich so kochen, dass es am Ende schwedisch und nicht asiatisch schmeckt?« Sven war skeptisch.
»Sicher! Sie mischt nicht unter alles Fischsoße!«, gab Lars zurück und klang beinahe beleidigt.
Lundquist tastete, während er sprach, eine Nummer in sein Handy.
»Britta, könntet ihr bitte alle herkommen? Gestern gab es hier ein Straßenfest. Wenn Gottwald wirklich mit seinem Cayenne irgendwo gehalten hat, muss er jemandem aufgefallen sein. Und wir suchen nach einem Ingeleif, oder Onkel Ingeleif. Vielleicht kennt den einer der Nachbarn. Bringt ein paar Kollegen zur Verstärkung mit. Lars und ich besuchen in der Zwischenzeit Simones Freund.«
Er lauschte auf die Antwort, die offensichtlich länger ausfiel.
»Gut. Wir treffen uns in etwa zwei Stunden im Büro.«
Das Mobiltelefon verschwand wieder in der Jacke. »Bernt hat zwei der Zeugen von gestern Abend besucht. Bei Tageslicht konnten sie sich nicht mehr daran erinnern, gesagt zu haben, dass Gottwald besonders brutal sei. Nur der eine, der von diesen Randaletreffen erzählt hat, blieb bei seiner Aussage, und auch der Bruder der jungen Frau, die bei einem Vorstellungsgespräch verletzt wurde. Bernt fährt gerade zu einem Hans, der die Aussage zu den Prügeleien bestätigen kann.«
»Bleibt trotzdem nur eine vage Vermutung, Gottwald neige zur Gewalttätigkeit. Keine Beweise.«
»Wir besuchen jetzt erstmal Bodo. Danach fragen wir Agneta nach diesem ominösen Onkel. Komm!« Lundquist bog an der Hauptstraße nach links ab und stand wenige hundert Meter später vor dem Eingang des Schreibwarenladens.
»Ordning & Reda. Da kauft Gitte auch gern. Schöne Farben, extravagante Hefte und Ordner – Luxus pur.«
»Ja. Magda mag diese Läden auch. Na, vielleicht ist Bodo zufällig hier und wir können wenigstens ein paar unserer Fragen beantworten lassen.«
Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
»Bodo hat heute frei. Wegen des Straßenfestes gestern.« Der ältere Herr hob entschuldigend die Hände auf Brusthöhe. »Tut mir leid.« Seine wirren weißen Haare verliehen seinem Gesicht etwas vergeistigtes, die bunten Flecken auf der grünen Schürze zeugten davon, dass er ausprobierte und benutzte, was er im Sortiment hatte.
»Wir bräuchten seine Adresse. Es ist wichtig.«
Der Ladenbesitzer nickte und schrieb sie ordentlich auf eine kleine weiße Karteikarte. »Ihr kommt wegen Simone, nicht wahr?«
»Ja.«
»Schreckliche Sache. Das arme Kind. Sie hatte Probleme genug – und nun das!«
»Probleme?«
»Ihr wisst sicher, wie das ist. In dem Alter wissen sie nicht so richtig, was sie wollen. Und Agneta war mit dem Kind vollkommen überfordert. Als ich ihr vorschlug sich Hilfe zu holen, wurde sie direkt ausfallend, dabei war ja nicht zu übersehen, dass sie mit ihrer Tochter nicht klarkam«, ließ er sie mit gesenkter Stimme wissen. »Der Sex kommt heute viel zu früh, wisst ihr? Noch bevor sie ihren eigenen Körper richtig kennen, fallen sie schon übereinander her. Na ja. Ist wohl nicht zu ändern. Moderne Zeiten eben. Früher baute man sich erst eine eigene Existenz auf, danach suchte man nach der Frau, die dazu passt. Tja, tja.«
»Wie alt ist Bodo denn?«, schaltete sich Lars ein.
»Bodo?« Der Weißhaarige drehte sich um und rief laut nach hinten: »Sag mal, wie alt ist der Bodo gleich?«
Von weit her hallte eine Frauenstimme zurück: »17!«
»Dieses Straßenfest gestern war ein voller Erfolg?«, wechselte Lundquist überraschend das Thema.
Der alte Mann blinzelte verwirrt, lächelte dann aber zufrieden. »Oh, ja. Das kann man so sagen. Wir hatten natürlich geöffnet, wie die anderen Läden auch. Vor der Tür haben wir Waffeln gebacken, dazu gab es Sahne und Erdbeermarmelade. War ein schönes Fest.«
»Ist dir ein besonderes Auto aufgefallen? Ein weißer Cayenne? Der drüben am Straßenrand kurz gehalten hat?«
»Nein. Du meinst das Auto von Gottwald, nicht wahr? Ist der Einzige, den ich kenne, der so einen Wagen fährt.« Bedauernd setzte er hinzu: »Nein, nein. Gestern nicht.«