Читать книгу Mörderisches aus Cottbus und dem Spreewald - Franziska Steinhauer - Страница 5
Todbringender Beifang
ОглавлениеMatu lag ganz still. In seinem Blut.
Die blauen Augen zur Decke gerichtet.
Ein bisschen so, als fehlten ihm die Worte.
Dabei hatte er sonst immer mehr als erträglich davon zu bieten gehabt. Eine echte Nervensäge.
Wenigstens konnte er jetzt nicht länger über den Wels lamentieren. Tote eben. Die hatten naturgemäß andere Probleme.
»Nachtigall!«, meldete sich wenige Stunden später der Cottbuser Hauptkommissar unwirsch am Telefon. Ein Anruf noch vor dem ersten Kaffee am Morgen konnte nichts Gutes bedeuten.
»Wir haben hier eine Leiche. Einen Toten. Matu Krieschke sein Name. Unnatürliche Todesursache, meint der Arzt. Dem eingeschlagenen Schädel nach zu urteilen wohl Mord«, erklärte Hans Paulenz vom Polizeiposten Lübbenau.
»Erkennungsdienst ist schon vor Ort?«
»Ja, ja. Die Aliens kriechen hier rum und stellen Schildchen mit Nummern auf. Sehr zur Freude der interessierten Groß Klessower Bevölkerung. Sehr spannend. Bei uns passiert normalerweise nicht viel – das hier kennen die Leute nur aus dem Fernsehen.«
»Wie lautet die genaue Adresse?«, erkundigte sich Nachtigall und schrieb mit.
Den Zettel reichte er wenige Minuten später an seinen Kollegen Michael Wiener weiter.
»Wir fahren also nach Groß Klessow. Mal sehen, ob das Navi uns richtig führt, da hinten auf dem Weg nach Lübbenau verfährt es sich gern. Hm, Matu Krieschke. Der Name kommt mir bekannt vor.« Der junge Mann schüttelte ungeduldig den Kopf. »Egal, vielleicht fällt es mir unterwegs ein.«
Wiener bog in den Kreisverkehr ein und nahm die Abzweigung nach Burg.
»Wer hat den Toten gefunden?«, wollte Nachtigall von Hans Paulenz wissen.
»Der Sohn. Also eigentlich nicht. Einer der Hobbyfischer hat den Körper bemerkt und gleich am Haus geklingelt. So hat er den Sohn geweckt, und als der das Licht einschaltete …« Der Beamte räusperte sich unterdrückt.
»Wo finde ich den Vor-Sonnenaufgang-Angler?«
»Den habe ich dort drüben auf die Bank gesetzt. War ganz grün im Gesicht. Und ich dachte, besser der kotzt nicht direkt am Tatort.«
»Sehr gut«, lobte Wiener, zückte sein Notizbuch und machte sich auf, den Zeugen zu befragen.
Nachtigall stand derweil neben dem Opfer. Mord – das war eindeutig, da brauchte er nicht auf die Bestätigung durch den Rechtsmediziner zu warten.
»Stumpfe Gewalt«, vermutete auch der Arzt vom Dienst, der den Totenschein ausfüllte. »Dieses Ding da kommt als Tatwaffe sehr gut in Betracht.« Dabei wies er auf einen Aschenbecher, der auf einem der Fensterbretter stand. »Blut ist zwar nicht zu sehen – aber das muss ja nicht heißen, dass keines dran ist.«
Nachtigall entdeckte einen jungen Mann, der den Toten unverwandt anstarrte, als habe sein Blick sich festgesaugt wie ein Egel.
»Das ist sein Sohn, Maik«, wusste der Arzt. »Er hat auch die Polizei verständigt. Schrecklich. Die beiden haben hier zusammen gewohnt, nachdem die Mutter vor ein paar Jahren an Krebs … Na ja. Es war für beide ein ganz gutes Arrangement, denke ich. Weder Vater noch Sohn unbedingt kontaktfreudig.«
»Danke.« Der Hauptkommissar nickte dem Arzt zu und schlenderte langsam zum Sohn des Opfers hinüber.
Er hasste solche Situationen – die Hinterbliebenen waren mit ihrem Schmerz über den plötzlichen Verlust beschäftigt, und dann sollten sie ihm, einem Fremden, neugierige Fragen beantworten. Mit jedem Schritt nahm sein Unbehagen zu.
»Tut mir sehr leid, Herr Krieschke«, murmelte er beschwichtigend, als er den Mann erreicht hatte. »Es muss schrecklich sein, den eigenen Vater so auffinden zu müssen.«
»Dieser Angler klingelte Sturm. Als ich öffnete …« Die Stimme verdorrte bei der Erinnerung an das Unfassbare. »Mein Vater konnte die nie leiden, diese Urlaubsangler. Gingen ihm auf die Nerven.«
Der junge Mann schwieg, atmete dann tief durch und setzte leise hinzu: »Seit es diesen Gurkenradweg gibt, hat er nur noch gemeckert. Wegen der Seentour 1 kommen immer mehr von denen zum Gucken hat er gemault. Seiner Meinung nach waren die nicht hier, um die wunderschöne Landschaft zu genießen, die Ruhe und die Ungestörtheit der Natur – nein, er war sicher, die wollten unsere Seen und Teiche leer angeln. Brassen, Karpfen, Rotfedern, Hechte und Schleien gibt es bei uns bald nicht mehr, hat er gern orakelt, nur wegen dieser Freizeitangler, die oft genug nicht einmal wüssten, was da an der Angel hängt. Fische – sein großes Thema!«
»Es ist mir wirklich unangenehm. Aber ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen«, erklärte der schwere Ermittler mit gedämpfter Stimme.
»Natürlich müssen Sie das. Ich habe das riesige Loch in seinem Schädel schließlich gesehen! Jemand hat meinen Vater kaltblütig umgebracht!« Mit zitternden Fingern strich der Sohn sich das schlafwirre Haar aus der Stirn und zog den Reißverschluss der Jacke hoch.
»Sieht wirklich so aus. Sicher wissen wir es aber erst morgen. Schauen Sie sich doch bitte um – fehlt etwas? Wurde etwas im Garten verändert?«
Der junge Mann kniff die Augen zusammen und sah sich um. »Ist schwer zu sagen, jemand könnte etwas unter den Blumen abgelegt haben. Soll ich unter jeden Busch, unter jeder Staude, unter dem Efeu – überall nachsehen?«
»Nein. Die Frage war eher allgemein. Gibt es etwas, was auf den ersten Blick fremd ist?«
Ein schlauer Zug kroch über die lausbubenhafte Miene.
Wie alt mag der Sohn sein, überlegte Nachtigall, schwer zu schätzen, vielleicht 20, vielleicht 40?
»Sie fragen, weil Sie wissen möchten, ob der Mörder die Tatwaffe mitgebracht hat oder eine günstige Gelegenheit für sich nutzte, nicht wahr?«
Der Cottbuser Ermittler nickte und fluchte innerlich auf die Krimiserien im Fernsehen. Inzwischen glaubte wohl jeder, das Talent eines begnadeten Detektivs in sich zu spüren! »Genau!«
»Ich habe sofort bemerkt, dass mein Lieblingsaschenbecher weg ist. Mein Vater duldete nicht, dass im Haus gequalmt wird. Er jagte mich bei jedem Wetter vor die Tür. Gnadenlos.«
»Was war das für ein Aschenbecher?«
»Groß. Quadratisch mit geschliffenem Rand. Glas und im Boden eine Bierwerbung. Aus irgendeiner Kneipe.«
Also doch nicht der runde, wie der Arzt vermutet hatte, registrierte der Hauptkommissar automatisch, nach der möglichen Tatwaffe würden die Kollegen suchen müssen.
Nachtigall räusperte sich. »Gab es jemanden, der Ihren Vater so sehr gehasst haben könnte, dass er ihn umbringen würde?«
Der Sohn begann ohne Umschweife mit der Aufzählung, nahm seine Finger zu Hilfe, um die Anzahl zu verdeutlichen. »Jan Sauer, der wird ihm nie verzeihen, dass er naja, ihm die Frau für eine Affäre ausgespannt hat, Jürgen Meinkes, Paul Schmied, Gerd Handler – ehrlich gesagt, der halbe Ort. Am schlimmsten aber hat er sich mit dem Hubert Groscher gestritten. Dabei ging es um diesen blöden Fisch. Zwei erwachsene Männer zanken sich um einen toten Wels!«
»Aha?« Nachtigalls Miene verriet seine Ratlosigkeit.
»Ja! Mein Vater hat immer behauptet, er habe den Wels großgezogen. So ein Quatsch! Er und sein Vater – also quasi ein Mehrgenerationenprojekt. Ich sollte in seine Fußstapfen treten, aber mal ehrlich, wer interessiert sich schon für einen Fisch? Ich jedenfalls nicht!« Das Gesicht Maiks war vor Zorn rot angelaufen. »Ständig kam er mir mit dem Vieh. Der Wels braucht dies, der Wels braucht das. Er liebt das Besondere. Dabei war er gar nicht sicher, ob das Vieh überhaupt noch im See war! Er konnte es bestenfalls vermuten. Indizienbeweise sozusagen.«
»Und worüber haben sich die beiden konkret gestritten?«
»Nun, Hubert Groscher hat vor zwei Wochen einen kapitalen Wels aus dem Wasser gezogen. 49 Kilo! Mein Vater war nun der Meinung, das sei Frevelei, Diebstahl! Weil das ja sein Wels gewesen sei. Der Hubert hat nicht mal erzählt aus welchem See er den Fisch … es war lächerlich. Und seither geht der Zank von einer Runde in die nächste. Mein Vater war wütend hoch zehn. Weil der Hubert ja nie etwas in den Fisch investiert hat, er aber schon! Jede Menge Geld und Zeit. Lebenszeit für seinen Fisch! Und jeden Tag ist er hingefahren und hat nach dem Rechten gesehen, wie er das nannte. Darüber hat der Hubert nur laut gelacht.«
»Konnte Ihr Vater denn beweisen, dass es sein Fisch war?«
»Ja wie denn? Steht ja nicht Krieschke drauf! Aber er war eben fixiert. Es ging sogar das Gerücht, er fange Katzen und kleine Hunde, um sie bei lebendigem Leib mit Gewichten beschwert im Wasser zu versenken und das Riesenvieh zu füttern. Leckerli sozusagen.«
»Und? Stimmte das?« Nachtigall dachte an seine eigenen beiden haarigen Hausgenossen. Was für ein schändliches Verhalten, Katzen zu fangen, um sie dann … Er atmete tief durch. Der Sohn war an diesen Aktionen wohl nicht beteiligt gewesen.
»Nein!« Unsicher setzte Krieschke hinzu: »Hoffe ich jedenfalls.«
Woraus man schließen kann, dachte Nachtigall, dass ihm solch ein Handeln durchaus zuzutrauen gewesen wäre. Kein sympathischer Zeitgenosse!
»Wozu all der Aufwand um den Wels?«, fragte er weiter.
»Ach – manche haben mich schon in der Grundschule gehänselt. Wenn der Fisch irgendwann mal gefangen wird, ist er sicher ungenießbar, weil viel zu alt! Dann haben sich die ganze Fütterei und das Geld dafür gar nicht gelohnt. Aber darum ging es natürlich nicht. Mein Großvater wollte, dass einmal einer der Krieschkes ins Guinness-Buch der Rekorde kommt. Der größte und älteste Wels aller Zeiten von einem Krieschke aus Groß Klessow gefangen! Ehre! Das war’s.«
»Und nun glaubte Ihr Vater, ein anderer habe all diese Träume zunichte gemacht. Das wäre ein Mordmotiv – aber der erfolgreiche Angler lebt. Ihr Vater wurde getötet. Vielleicht gab es noch ein anderes Motiv?«
»Vielleicht war Hubert das ganze Gezeter einfach leid. Was weiß ich!« Der Sohn seufzte tief und starrte wieder auf den Rasen zwischen seinen Hausschuhen. »Sagen Sie, glauben Sie der Fleck auf meinem Pantoffel ist Blut?«, murmelte er dann mit schwankender Stimme. »Blut von meinem Vater?«
Michael Wiener kam zu den beiden herüber. »Der Angler gibt an, er habe keine Menschenseele getroffen. Nur eine alte Frau, die durch die Straßen ging und dabei sonderbare Geräusche ausgestoßen habe. Senile Bettflucht, meint er.«
»Wir werden mit dem Angelkonkurrenten sprechen. Offensichtlich hatte es einen erbitterten Streit um die Beute gegeben. Dem müssen wir nachgehen.«
Wie sich herausstellte, konnte Hubert mit einem Alibi und einem Zeugen aufwarten.
Er hatte bis zum Morgen in der Kneipe gesessen und wurde danach vom Wirt höchstpersönlich nach Hause begleitet.
»Begleitet! Eine schöne Umschreibung. Geschleppt hab’ ich ihn! Der Hubert konnte sich kaum auf den Beinen halten, obwohl er zu zwei Dritteln auf meiner Schulter hing. Im Grunde ist er gar nicht mehr gegangen. Ich habe ihn an der Haustür seiner Liebsten in die Arme gedrückt. Die hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, und ich konnte ihr Gezeter bis ans Gartentor hören. Tat mir fast ein bisschen leid, der Hubert. Frauen haben eben kein Verständnis – weder für den armen unschuldigen Wirt noch für den Frustabbau des Gatten mit Hilfe von Spreewaldbitter.«
»Frust?«, hakte Nachtigall nach.
»Ach, na ja, die beiden Streithähne hatten sich doch wieder so richtig in der Wolle. Erst ging es ganz allgemein um die Angeltouristen. Sitzen ja fast an jedem Wasserloch. Nirgends ist man vor denen sicher: Kittlitzer See 2 , Kossateich 3 , Stradower Teiche 4 , die hocken überall. Na und dann gab’s den üblichen Zoff wegen des Welses. Das geht allen gehörig auf die Nerven. Kaum war der Matu türknallend verschwunden, hat der Hubert angefangen, seinen Ärger wegzuspülen.« Nach einer kurzen Atempause setzte er augenzwinkernd hinzu: »Eigentlich müsste es Streitschafe oder noch besser Streithammel heißen. Damit das Bild stimmt.« Er keckerte leise. »Die haben sich so was von angebrüllt. ›Was hättest du denn je für den Wels getan? Hä? Du hattest kein Recht, ihn aus dem See zu ziehen!‹, hat der Matu geschrien, und der Hubert hat geblafft: ›Hat dich ja keiner gezwungen, dem Fisch Leckereien anzubieten! Außerdem weißt du doch gar nicht, ob es dein Wels war.‹ So ging das hin und her. Nervig. Echt nervig!«
»Als Herr Krieschke das Lokal verlassen hatte und alle anderen mit Bitter versorgt waren – was haben Sie getan? Sind Sie Herrn Krieschke nachgegangen, um sicherzugehen, dass er gesund nach Hause kommt?«
»Nein. Ich habe überprüft, ob sich eine von den Glasscheiben in der Kneipentür gelockert hat. Der Matu hat die Tür derart zugehauen – hätte schon sein können, dass da was vom Kitt bröselt. Und wenn dann so eine Scheibe einem der Gäste auf die Füße fällt, muss ich für den Schaden haften!«
»Und?«
»War nicht. Ich bin gerade rechtzeitig zum Tresen zurück, um Huberts Glas wieder aufzufüllen. Ist doch auch schade: Da fängt er schon mal so einen außergewöhnlichen Fisch und kann sich nicht einmal richtig darüber freuen, weil so ein Miesmacher dauernd stänkert.«
»Heißt das, Sie hatten Hubert von da an die ganze Zeit über im Blick?«
»Aber ja! Der ist ja nicht mal aufs Klo!«
Innerhalb weniger Stunden hatte die Mordermittlung einen toten Punkt erreicht. Nachtigall fluchte frustriert.
»Vielleicht kann uns die alte Dame weiterhelfen, die der Zeuge gesehen hat.« Wiener blätterte in seinem Notizbuch. »Die mit der senilen Bettflucht.«
»Magda Mandel. Die habe ich auch gesehen, als ich den Hubert … Angeblich ist die öfter mal in der Nacht unterwegs.«
»Oh, ja. Den Wirt und seinen letzten Gast habe ich getroffen. Hubert war so betrunken, der bekam die Augen gar nicht mehr auf. Bloß gut, dass unser Wirt so ein starker Mann ist.«
»Und was haben Sie mitten in der Nacht …« Nachtigall stockte. Schließlich war die alte Dame schon länger erwachsen als er selbst und konnte spazieren gehen, wann immer sie Lust dazu hatte.
Frau Mandel schmunzelte. »Ich füttere die Streuner. Keiner kümmert sich um die armen Tiere – also tue ich das. Gelegentlich hilft mir ein junger Mann, sie einzufangen. Dann lasse ich sie sterilisieren und kastrieren. Das beruhigt die Situation etwas und entschärft den Umgang der Katzen mit den Vogelliebhabern. Operierte Katzen und Kater sind nicht mehr so jagdfreudig. Und auf Nachwuchs müssen die Pelzies eben verzichten. Ist nicht so schlimm, ich habe auch keinen. Lebt sich ganz gut ohne.«
Wiener, frisch gebackener Vater, grinste breit.
»Die jungen Mädchen sagen mir oft, Kinder kriegen wird hoffnungslos überbewertet. Es geht um den Spaß im Leben – und den hat man leichter ohne Nachwuchs. Nun ja.« Bekümmert schüttelte die alte Dame den Kopf, die kleinen Dauerwellenlöckchen wackelten aufgeregt.
»Haben Sie auch von dem Gerücht gehört, Matu verfüttere Haustiere an seinen Wels?«, wechselte Nachtigall das Thema.
»Oh, ja. Aber so etwas durfte er natürlich nicht tun. Schändlich ist das. Es gab laute Proteste, und er versicherte allen, er habe es nie versucht und wolle es auch nicht. Verleumdung sei das! Und er wisse auch genau, aus welcher Ecke das käme. Nun ja, das konnten wir nun glauben oder nicht.« Sie lächelte milde. »Der eine hat sein Herz an Fische verloren, der andere an vierbeinige Fellträger. Ein jeder muss die Vorliebe des anderen zu akzeptieren lernen. Wir werden nie erfahren, ob etwas Wahres an dem Gerede war. Katzen gehen häufig ihre eigenen Wege, und die führen sie manchmal nicht nach Hause zurück – ganz ohne Matus Eingreifen.«
»Noch jemand ist Ihnen in dieser Nacht nicht begegnet?«, führte Michael Wiener die alte Dame wieder zum aktuellen Mordfall zurück.
»Doch, überraschender Weise sogar eine Menge Leute. Bei uns schläft man normalerweise in der Nacht, wissen Sie? Auf meinen Futtergängen treffe ich ausgesprochen selten jemanden. Doch diesmal habe ich einen dieser Angler gesehen, die immer ganz früh ihr Glück versuchen wollen. Dabei schlafen die Fische um diese Zeit wahrscheinlich auch noch und sind nicht in Frühstückslaune. Jan Sauer war unterwegs, wohl auf dem Heimweg aus der Kneipe. Er stand unter einem Baum und rauchte. Den hat wohl Klara mal wieder rausgeschmissen, dachte ich noch. Das tut sie manchmal, wenn er zu lange mit seinen Freunden gezockt hat. Wenn ich es genau bedenke, sehe ich ihn regelmäßig unter einer Laterne.« Frau Mandel schüttelte missbilligend den Kopf, was nun bedeuten konnte, dass sie die Zockerei verabscheute oder Klaras Verhalten dem Lebensgefährten gegenüber als nicht angemessen empfand.
Als sie die beiden Beamten zur Tür begleitete, fiel Nachtigall der Futternapf auf.
»Sie haben auch einen schnurrenden Mitbewohner?«, fragte er und erklärte: »Ich habe zwei Katzen, die mir erlauben, ihnen Obdach und Pflege zu gewähren.« Er zwinkerte der alten Dame zu.
»Oh ja. Bei mir lebt ein stattlicher und selbstbewusster Kater. Der ist seit ein paar Tagen nicht vorbeigekommen. Manchmal bleibt er sogar mehrere Wochen weg. Aber er kommt irgendwann immer nach Hause zurück.«
»Jan Sauer – war das nicht der Mann, dessen Frau ein Verhältnis mit Krieschke gehabt haben soll?«, fragte Wiener auf dem Weg zum Auto. »Wäre zumindest ein gutes Mordmotiv.«
»Genau. Seinen Namen hat auch der Sohn als ersten genannt, als ich ihn nach Feinden seines Vaters gefragt habe. Offensichtlich war der Streit zwischen den beiden nicht beigelegt. Trotz der neuen Partnerin. Vielleicht sitzt die Schmach betrogen worden zu sein zu tief.«
Jan Sauer war, wie sich bei der Überprüfung herausstellte, einer der Postzusteller der Stadt.
»Ist ja ein bisschen verkehrte Welt, oder?«, meinte Wiener und zwinkerte. »Ist nicht in vielen Geschichten der Briefträger der Verführer? Und hier ist er selbst der betrogene Ehemann.«
»Das habe ich mir gleich gedacht.« Jan Sauer verzog das Gesicht zu einer Grimasse als die Beamten sich auswiesen. »Müssen Sie mich unbedingt auf meiner Tour abpassen? Ich bin in Zeitdruck«, maulte er.
»Herr Sauer, wir auch. Mordermittlung ist immer eine Expressangelegenheit«, beschied ihm der Cottbuser Hauptkommissar launig.
»Ich habe ein Alibi. Für die ganze Nacht!«
»Dann ist diese Befragung für Sie ja ganz schnell beendet! Wo waren Sie und wer kann das bezeugen?«
»Meine Mutter bekommt zweimal am Tag Besuch vom Pflegedienst. Gegen 17:30 Uhr rief mich der Pfleger an, ich solle kommen, meiner Mutter ginge es schlecht, den Hausarzt habe er auch schon verständigt. Im Alter von 80 Jahren ist hohes Fieber keine Bagatelle mehr. Also fuhr ich zu ihr.«
»Und Zeugen?«, hakte Nachtigall freundlich nach und fragte sich, wie Frau Mandeln ihn denn gesehen haben konnte, wenn seine Aussage stimmte.
»Der Pfleger wartete auf mich, erklärte mir die Situation als ich gegen 18 Uhr ankam. Der Hausarzt war zweimal da und meine Schwester kam ebenfalls so gegen 19 Uhr. Wir blieben die ganze Nacht. Am Morgen ging es unserer Mutter besser und wir frühstückten gemeinsam mit ihr.«
»Wie erklären Sie sich, dass wir einen Zeugen haben, der Sie in den frühen Morgenstunden beobachtet haben will. Auf dem Heimweg von der Kneipe, in der Nähe von Matu Krieschkes Haus.«
»Das muss ich gar nicht erklären«, brauste Sauer auf. »Das ist Ihr Job, das herauszufinden. Vielleicht braucht Ihr Zeuge eine neue Brille?«
Wiener notierte sich die Namen, Telefonnummern des Pflegers und der Schwester Sauers, sowie die Telefonnummer des Hausarztes. Er zog sein Handy aus der Tasche, trat wenige Schritte zur Seite und begann die erste Nummer einzutippen.
»Ihre Frau hatte ein Verhältnis mit Matu Krieschke. Wir wissen, dass Sie deshalb großen Ärger mit ihm hatten.« Nachtigall sah den Postboten durchdringend an.
»Ihre Frau ist treu?«, fragte Sauer zurück. »Dann kennen Sie nicht das Gefühl betrogen worden zu sein. Diesen Schock, wenn Sie erkennen, dass man Sie über einen langen Zeitraum hintergangen und belogen hat.«
Nachtigall kannte das alles sehr gut – aber das ging Jan Sauer natürlich nichts an. Deshalb schwieg er schlicht und ließ den anderen reden.
»Klar war ich wütend. Und ich wusste auch gar nicht, auf wen ich gern zuerst schießen würde. Doch dann ist mir klar geworden, dass unsere Ehe ohnehin nicht mehr viel getaugt haben konnte, wenn meine Frau sich mit einem wie Matu einlässt. Wir haben uns scheiden lassen – und gelegentlich treffen wir uns in Cottbus zum Essen. Krieschke hätte ich gern ausradiert. Aber wir begegneten uns hier immer wieder mal. Alle wussten von dem Seitensprung. Doch inzwischen ist er kein Thema mehr. Für mich auch nicht. Ich habe jetzt Klara.«
Wiener trat neben Nachtigall. Schüttelte unmerklich den Kopf.
»Vielen Dank Herr Sauer«, verabschiedete sich Nachtigall. »Wenn wir noch weitere Fragen haben, kommen wir auf Sie zu.«
Grußlos ließ der Postbote die beiden Ermittler stehen, sprang in sein Auto zurück und fuhr davon.
»Alles wurde bestätigt. Frau Mandel muss sich getäuscht haben.«
»Oder sie hat einfach die Nächte verwechselt. Sie meinte ja, er stehe oft dort. Offensichtlich leidet sie regelmäßig an Schlaflosigkeit und sucht dann das Gespräch mit den streunenden Katzen«, antwortete Nachtigall und seufzte.
Schon wieder eine Sackgasse!
Zwei Tage nach den dramatischen Ereignissen goss Frau Mandel sich die erste Tasse Kaffee des Tages ein, zog den Bademantel etwas enger, griff nach dem Briefkastenschlüssel und schlurfte zum Gartentor.
Als sie die Zeitung aufschlug, sah sie einen unbekannten Mann mit einem unfassbar großen Fisch als Titel abgebildet. ›Angler aus Alt Schadow fängt Riesenwels aus Neuendorfer See 5 ! 67 Kilo schwer, 2,25 Meter lang‹, stand darunter. »Ach, Matu, wenn du noch leben würdest, wäre das ein neuer Aufreger für dich. Vielleicht war das ja dein Wels. Der größte, den hier einer rausgeholt hat!«
Etwas Weiches schmiegte sich an ihre Beine.
Glücklich bückte sie sich, stopfte die Zeitung unter den Arm und streichelte mit Tränen in den Augen durch das weiche Fell ihres geliebten Katers. »Ach, Diabolo, du Rumtreiber! Da bist du ja wieder! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, mein Schwarz-Weißer! Jede Nacht habe ich nach dir gesucht!« Jetzt liefen die Tränen der Erleichterung und Freude ungehindert über ihre faltigen Wangen.
Der Kater folgte ihr mit erhobenem Schwanz ins Haus, sprang auf die Anrichte in der Küche, maunzte.
Fordernd, nicht bettelnd. Schließlich war er sich seiner Bedeutung in diesem Haushalt bewusst.
»Und nun hast du ordentlich Hunger, wie?« Die alte Dame drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Nase – direkt unterhalb der schwarzen Gesichtsmaske, der er seinen Namen verdankte. »Das Beste weißt du wohl noch gar nicht. Das Problem mit Matu hat sich endgültig erledigt! Was für ein Schreck das war, als Maik mir erzählte, Matu habe eine schwarz-weiße Katze … Ach, ja. Das konnte ich nun wirklich nicht auf sich beruhen lassen, oder?« Während der Kater schnurrend über sein Frühstück herfiel und ihren Bericht mit lautem Rom-Rom-Rom kommentierte, fuhr sie ihm erneut durch das seidige Fell. »Sorgen musst du dir deswegen nicht machen, Diabolo. Ich bin zu alt für den Knast!«
Zufrieden lächelnd kehrte sie zu ihrem eigenen Frühstück zurück.
Blätterte im Lokalteil der Zeitung. »Ach, na so was. Vor einer Woche hat Maik im Lotto gewonnen! Wie schön für ihn, wo der Vater ihn immer so knapp gehalten hat. In dem Artikel steht, er wolle heiraten und in die Flitterwochen nach Namibia starten. Das hätte Matu ihm niemals erlaubt.« Sie goss sich eine zweite Tasse Kaffee nach, gab dem Kater einen Heimkehrerzuschlag in Form einer Scheibe gekochten Schinkens. »Stell dir vor, der arme Junge musste die Hälfte seines Einkommens an Papa abtreten – nur wegen des blöden Fisches. Und von seiner Susi hat er dem Papa sicher auch nichts erzählen können.« Vergnügt beobachtete sie Diabolo beim Verputzen der Extraration. »Wie schön, wieder Gesellschaft zum Frühstück zu haben! Ach, mein Schöner. Du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe.«
Der Kater bedankte sich kätzisch durch Anschmiegen an die Beine.
»Da hat der Maik irgendwie Glück gehabt, dass der Matu nun tot ist, bevor alle von dem Gewinn erfahren haben. Ich sag’s nur, wie es ist. Weder der Hochzeit mit der Susi noch der Reise hätte der Papa zugestimmt – und der Maik hat nie was gegen den Alten entscheiden können. Zu schwach. Die Leute hätten sich doch das Maul zerrissen. Womöglich wäre er unter Verdacht geraten!«
Während sie den Tisch abräumte, Butter und Marmelade in den Kühlschrank stellte, meinte sie nachdenklich: »Ob er mir wohl deshalb von dem Beifang erzählt hat? Von dem Fell einer schwarz-weißen Katze. Mit Gesichtsmaske. Hat angeblich einer der Anglertouristen aus dem See gezogen. Na, ist ja auch egal. Der Matu war gestürzt – ich habe nur ein bisschen nachgeholfen – nun, ich kann nicht behaupten, auf dem Weg ins Paradies, denn ich denke, der Teufel landet bei seinesgleichen. Und in so einem Fall zählt nur das Ergebnis, nicht wahr, Diabolo? Angst vor Matu muss nun keiner von euch mehr haben. Insofern ist doch alles sehr positiv.«
Es klingelte.
Sie öffnete.
»Guten Morgen«, begrüßte Peter Nachtigall die alte Dame, »ich glaube, wir beide müssen uns noch einmal über die letzten Minuten im Leben des Matu Krieschke unterhalten. Sie waren maßgeblich an seinem Abschied aus dem Leben beteiligt, nicht wahr? Ich denke, Sie sollten mir erzählen, was in jenen Stunden passiert ist, meinen Sie nicht auch?«