Читать книгу Mörderisches aus Cottbus und dem Spreewald - Franziska Steinhauer - Страница 7

Keiner von uns

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»Nun, Herr Schober, Sie werden tatsächlich nach Kaupen zurückkehren?« Der Unterton von ernster Besorgnis war bei der Frage des Cottbuser Hauptkommissars herauszuhören.

Der junge Mann, der sich in den Jahren der Haft äußerlich kaum verändert hatte, nickte entschieden.

»Logisch. Wo soll ich denn sonst hin? Es ist das Haus meiner Großmutter, sie hat es mir vererbt – und deshalb ziehe ich hin! Heimat eben.«

Er lächelte und erklärte: »Sehen Sie, seit Jahren freue ich mich nun auf die erste Kahntour. Vielleicht über Leipe 6 . Oder ich leihe mir ein Boot 7 und fahre über die Wasserwanderwege 8 wohin mir gerade der Sinn steht, oder lasse mich treiben. Ich habe auch von den Arbeiten am Schloss gehört. Beuchow 9 . Ist auch ein Ziel für die nächsten Tage. Hat sich sicher vieles verändert.«

»Die Leute sind nicht glücklich über Ihren Entschluss. Man hat Sie darüber informiert, dass es im Vorfeld Ihrer Entlassung Protest gegeben hat, nicht wahr?«

»Ja, schon klar. Habe ich nicht anders erwartet. In Kaupen gibt es viele, die zu wissen glauben, was damals passiert ist. Dort leben offensichtlich lauter Hellseher, die nimmermüde erklären, was außer dem Täter niemand wissen kann. Aber woher wollen die Leute die Wahrheit kennen? All die Jahre habe ich beteuert, dass ich es nicht war! Aber mir wollte keiner zuhören.«

Nachtigall seufzte.

Auch er war damals restlos von der Schuld des Mannes überzeugt gewesen.

Aber vielleicht hatten sich alle getäuscht.

Ein Indizienprozess.

Unbefriedigend. Am Ende stand ein Schuldspruch.

»Können Sie nicht vorübergehend bei jemand anderem unterkommen?«

Verständnislos sah Schober ihn an. »Bei Freunden, meinen Sie? So was habe ich seit der Verurteilung nicht mehr.«

Nachtigall versuchte noch einen Vorstoß. »Wenn Sie jetzt ans Fließ zurückziehen, wird in den Nachbarn die Erinnerung wach. An das Mädchen. Den Anblick ihres toten Körpers, der im Wasser schwamm. An die Verzweiflung der Eltern, die nie wieder ins Leben zurückgefunden haben. Können Sie diesen Hass aushalten?«

»Hören Sie, ich komme aus dem Knast. Kinderficker und Kindermörder rangieren nicht unbedingt auf Platz eins der Beliebtheitsskala. Die wollten mir auch nicht glauben, dass der Richter sich geirrt hat. ›Das sagen sie alle!‹, haben die mich verhöhnt und dann die Bestrafungen eingeleitet. Ich habe unschuldig all die Jahre abgesessen – und überlebt. Schlimmer kann es nicht kommen.«

»Schlimmer geht immer!«, orakelte Nachtigall ernst.

Der Exhäftling grinste breit.

»Den Spruch kenn ich. Meine Oma hatte den auch im Repertoire. Ich denke, die Sache wird sich in ein paar Tagen beruhigen. Im Grunde haben mich die Leute immer gemocht. Trotz der Streiche, die ich als Kind ausgeheckt habe.«

»Herr Schober«, die Stimme des Ermittlers war drängend, »wenn Sie wirklich unschuldig gesessen haben, dann dürfte auch der wahre Mörder nicht begeistert über Ihre Heimkehr sein. Möglicherweise geraten Sie in Lebensgefahr.«

Schober fuhr sich mit allen zehn Fingern durch sein dichtes dunkles Haar, das nach der neuesten Mode geschnitten worden war. Asymmetrisch. Die Unterwolle ausrasiert. Dazu passend die schicke Variante des Dreitagebarts, sorgfältig getrimmt. Ein gut aussehender Lausbub, dachte Nachtigall und hoffte inständig, die optimistische Grundhaltung möge sich als richtige Einstellung erweisen.

»Ach das ist Unsinn. Wenn der damals unentdeckt geblieben ist, hat er sich bestimmt längst aus dem Staub gemacht! Alles andere wäre dumm! Kann ich jetzt gehen?«

Nachtigall reichte seinem Besucher die Hand. »Natürlich. Sie sind frei. Ich hatte Sie zu diesem Gespräch nur in mein Büro gebeten, um Sie zu warnen.«

Als wenige Tage später eine Leiche in Lübbenau angeschwemmt wurde, hatte der Cottbuser Hauptkommissar sofort ein mulmiges Gefühl.

Auch Michael Wiener erging es so. Als er den Motor startete, meinte er: »Der Kollege hat nur von totem Körper gesprochen. Ortsteil Kaupen. Er war selbst nicht am Fundort. Wenn da nun wieder eine Kinderleiche angespült wurde, müssen wir Schober unter Polizeischutz aus dem Haus evakuieren. Sonst schlagen ihn die Dorfbewohner tot.«

»Alle werden glauben, dass er in den letzten Jahren nur auf eine zweite Chance gewartet hat. Kaum raus aus dem Knast, begeht er den nächsten Mord. In den Serien im Fernsehen ist das auch immer so. Einmal Killer, immer Killer. Über den Widerstand gegen seine Rückkehr wurde sogar in den Lokalnachrichten ausführlich berichtet.«

»Und wenn er es war? Damals und diesmal?«

Nachtigall brütete den Rest der Fahrt schweigend vor sich hin.

Es war keine Kinderleiche.

Markus Schober trieb bäuchlings im Fließ.

Männer in Schutzkleidung zogen ihn vorsichtig ans Ufer, drehten ihn auf den Rücken.

Sein Gesicht.

Nachtigall schauderte. Im Grunde erkannte er nur die Frisur.

Der Arzt vom Dienst beugte sich über den Körper. Arbeitete schweigend.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stellte er fest: »Das Opfer wurde erstochen. Das Gesicht hat der Täter mit einem mehrzinkigen Werkzeug so zugerichtet.« Dann schüttelte er verständnislos den Kopf. »Warum ist er bloß hierher gezogen? So eine idiotische Idee.«

»Erstochen?« Nachtigall wollte die Entscheidung Schobers nicht diskutieren. Sie war ein Fehler gewesen, das konnte jeder überdeutlich sehen.

»Ja. Wahrscheinlich eine relativ lange Klinge. Die gesamte Kleidung wurde durchstoßen und danach drang sie wohl noch weit in den Körper ein. Bei dieser Art von modernen Geweben ist es gar nicht leicht alle Schichten mit einem Stich zu überwinden. Kraft war erforderlich. Aber natürlich hätte eine starke Frau ihn auf diese Weise töten können. Einen Suizid halte ich für unwahrscheinlich, auch wegen der Verletzungen im Gesicht. Genaueres wird der Rechtsmediziner dazu sagen können. Die Waffe steckt. Die zieht der Rechtsmediziner am besten selbst raus. Sonst entstehen nur irreführende Spuren.«

»Wie?« Nachtigall hatte nicht richtig zugehört, starrte nur betroffen auf den kalten Körper zu seinen Füßen.

»Es könnte sein, dass ich beim Rausziehen den ursprünglichen Stichkanal verändere. Das gilt es zu vermeiden. Es könnte eventuell die Aussagen über das Tatgeschehen beeinflussen, zum Beispiel wäre es denkbar, dass der Rechtsmediziner annehmen muss, der Täter habe mehrfach zugestochen. Außerdem ergeben sich aus dem Winkel und dem Verlauf des Kanals sowie der Eindringtiefe wertvolle Hinweise auf den möglichen Täter.«

»Ja. Das wäre nicht hilfreich«, murmelte Nachtigall und dachte, so genau wollte ich es gar nicht wissen, vielleicht hatte der Arzt gerade eine Forensikfortbildung mitgemacht und das Bedürfnis, seine neuen Erkenntnisse mit jemandem zu teilen. Er selbst fragte sich, ob er nicht eine Mitschuld am Tod Schobers hatte. Aber wie sollte er einem Erwachsenen verbieten, in das Haus der Großmutter zu ziehen, das ihm gehörte? Hätte man vielleicht eine Verfügung erwirken können?

»Gibt es jemanden, der sich bei den Protesten besonders hervorgetan hat?«, hörte er sich fragen und wusste doch, dass die Lösung des Falls so einfach nicht sein würde.

»Am lautesten geschrien hat sicher Magnus. Magnus Keil. Der Onkel von Jasmin.«

»Wohnt er noch hier?«, wunderte sich Nachtigall. »Ich dachte, nach dem Prozess sei die ganze Familie weggezogen.«

»Ursprünglich schon. Aber seine Frau wollte zurück in den Spreewald. Köln war wohl nichts für sie. Also ist Magnus vor ein paar Jahren wieder hergekommen.«

»Ich dachte …«

»Magnus ist ein Maulheld. Große Klappe, nichts dahinter. Der hat Stimmung gegen Schober gemacht, aber der Typ, der wirklich zusticht, ist er nicht.«

»Wer hat den Toten überhaupt gefunden?«

»Einer der Fährleute. Der ging das Stück Fließ ab, weil vorgestern eine Gruppe Paddler unterwegs war und offensichtlich mindestens drei Boote in der Kehre das Ufer gerammt haben. Er wollte überprüfen, ob bei der Kollision Schäden entstanden sind.« Dabei wies er auf einen Herrn mittleren Alters, der seinen Kopf in die Hände gelegt hatte, als könne er so das unsichtbar machen, was am Ufer lag.

»Florian Schopf. Hat vor vielen Jahren eine Therapie gemacht. Die Einsamkeit hier war für manche Jugendliche nicht gut zu ertragen, hoffentlich kommt er mit all dem hier klar«, ergänzte der Arzt, und Nachtigall nickte ihm kurz zu, machte sich auf den Weg, den Zeugen zu befragen.

»Sie haben den Toten gefunden.«

Nicken.

»Wussten Sie gleich, um wen es sich handelt?«

Nicken.

»Er wurde erstochen. Können Sie sich vorstellen, wer ihn so gehasst hat?«

»Alle.«

»Und wer genug, um ihn umzubringen?«

»Weiß ich nicht.«

»Geben Sie dem jungen Mann dort drüben bitte Ihre Anschrift. Damit wir uns bei Ihnen melden können, wenn wir noch Fragen haben.« Nachtigall bekämpfte den Drang, diesen Zeugen an den Schultern zu packen und zu schütteln.

Michael Wiener, der gerade neben seinen Kollegen trat, zückte sein Notizbuch und sah den Zeugen auffordernd an.

»Na dann. Bitte!«

Nachtigall kehrte zum Arzt zurück, klopfte ihm auf die Schulter. »Möchten Sie nicht einen Tipp für die Todeszeit abgeben? Dann wüsste ich, was ich meine Gesprächspartner fragen soll.«

»Ganz ehrlich? Nein. Er hat vielleicht stundenlang im Wasser gelegen. Da kühlt der Köper schneller aus. Oder langsamer, wenn das Wasser wärmer als die Luft ist. Da kann ich mich mit einer Prognose nur in die Nesseln setzen. Irgendwann zwischen gestern und heute hilft Ihnen schließlich auch nicht weiter.«

Da hat er recht, räumte der Hauptkommissar ein. War aber dennoch unzufrieden. Leise knurrend wandte er sich ab. Sah mit zunehmender Verwunderung einen Mann heranstürmen.

Ein Beamter in Uniform war ihm auf den Fersen.

»Was fällt Ihnen denn ein! Bleiben Sie stehen. Dies ist ein Tatort, da haben Sie keinen Zutritt!«

Unbeeindruckt rannte der Mann mit wehender Jacke weiter.

Als er näher kam, hatte Nachtigall vage den Eindruck, dem Mann schon einmal begegnet zu sein.

Klar!, fiel ihm ein, der Onkel des damaligen Opfers, Jasmin.

Der Zahn der Zeit hatte an Magnus Keil heftig genagt, seine früher markanten Züge unter Fett verschwinden lassen. Die Haare waren inzwischen grau. Und doch, mit etwas Mühe konnte man ihn erkennen.

»Halt!«, polterte er ihm wie Donnergrollen entgegen. »Was wollen Sie hier, Herr Keil?«

Überrascht blieb Keil tatsächlich stehen.

»Sie?«

»Natürlich. Mordkommission, Sie erinnern sich?«

»Wie konnte das Schwein hier einziehen? Hier leben, wo wir ihn jeden Tag beim Einkaufen treffen können? Wie konnten Sie das zulassen? Er hat es gewagt, die Hinterbliebenen seines Opfers zu verhöhnen.«

»Er wollte niemanden verhöhnen. Ihm gehört ein Haus am Fließ. Vergessen Sie nicht, dass er immer seine Unschuld beteuert hat.«

»Unschuld! Er war nie unschuldig. Schon im Kindergarten nicht. Und Sie haben ihn gehen lassen. Für meine Nichte gibt es keine Rückkehr. Er hat ihre gesamte Zukunft ausgelöscht, das Leben ihrer Angehörigen zerstört.«

»Er wurde verurteilt, hat seine Strafe abgesessen. Ich verstehe natürlich, dass es für die Hinterbliebenen nicht einfach ist zu akzeptieren, dass der Mörder eines Tages wieder aus der Haft entlassen wird. Aber Selbstjustiz ist kein gangbarer Weg!« Nachtigall sah auf den Onkel hinunter. »Wo ich Sie gerade treffe: Was haben Sie gestern Abend gemacht? Wo haben Sie die Nacht und den Morgen des heutigen Tages verbracht?«

Keil schnappte empört nach Luft.

»Sie wagen es, mir einen Mord zu unterstellen? Ich mache mir doch keinen Strich durch meine Pläne, indem ich solch ein Subjekt auch nur anfasse!«

»Immerhin haben Sie in der letzten Zeit ordentlich Stimmung gegen Herrn Schober gemacht«, hielt der Ermittler dagegen.

»Und? Außerdem, was soll das heißen, Herrn Schober? Der war kein Herr mehr – nur noch eine unerwünschte Lebensform!«

»Herr Keil!«, schnaubte der Hauptkommissar.

»Wollen Sie wohl stehen bleiben? Halt! Ja sind wir denn hier auf dem Jahrmarkt!«, hörten sie den Beamten laut rufen, und die beiden Männer wandten sich um.

»Das ist ein Tatort! Kein Aussichtspunkt!«, brüllte der Uniformierte und bemühte sich, eine Frau einzuholen, die unter der Absperrung durchgetaucht war. »Nu isses aber jut!«

»Magnus! Magnus! Stimmt es?«, schrillte die Stimme der Frau zu den beiden hinüber. »Jemand hat das Schwein umgebracht?«

Der Beamte erreichte kurz nach Frau Keil die Gruppe, stützte sich keuchend auf den Knien ab, versuchte, genug Atem zum Poltern zusammen zu bekommen. »Machen Sie … dass Sie … wieder auf die Straße … kommen … sonst lass … ich Sie … aufs Revier bringen!«, drohte er wenig beeindruckend.

»Magnus! Hast du das gehört? Die wollen mir nicht erlauben, den Mörder meiner Nichte zu sehen. Ich will aber sicher sein, dass dieser miese Dreckskerl tot ist! Ich muss sicher sein!«

Nachtigall packte die Frau am Oberarm, zog sie von ihrem Gatten fort, reichte sie an den noch immer röchelnden Beamten weiter. »Wir reden gleich noch miteinander. Jetzt begleiten Sie den Beamten zur Straße zurück. Was fällt Ihnen ein?«, meinte er und bekämpfte seinen intensiven Widerwillen gegen dieses Ehepaar. »Sie haben hier nichts verloren, behindern die polizeiliche Ermittlung!«

Zornbebend trat er nah an Keil heran. »Sie gehen jetzt besser ebenfalls. Und mein Kollege wird Sie begleiten, damit Sie ihm die Antworten auf meine Fragen geben können. Wo waren Sie, was haben Sie getan, wer kann es bezeugen?«, zischte er dem Mann zu, winkte Michael Wiener herbei und überließ es ihm, die Antworten zu notieren.

Als Wiener später ins Büro kam, sah Nachtigall sofort, dass er keine guten Nachrichten haben würde.

»Er hat ein Alibi. Ich habe das auch schon nachgeprüft – mindestens zehn Leute haben ihn den ganzen Abend gesehen. Erst am frühen Nachmittag eine Kahntour nach Lehde 10 , quasi zur Einstimmung ein bisschen Bildung, dann war er mit dieser Gruppe von Freunden in den Spreewelten 11 , danach in der Altstadt 12 die Vaterschaft eines der Männer feiern. Kneipentour mit Stadtführung. Die Fachwerkhäuser 13 wurden bewundert, grölend zog die Gruppe um die Nikolaikirche 14 , johlte an der Postmeilensäule 15 . Große Tour. Sehr feucht und sehr fröhlich. Zwei haben ihn nach Hause begleitet und danach hat seine Frau bestätigt, habe er die ganze Nacht neben ihr geschnarcht. Aber dieser Zeitpunkt liegt möglicherweise nicht mehr im Zeitfenster für die Tat.« Er seufzte, warf sich in seinen Stuhl. »Mist!«

»Nun, seine Frau ist selbst verdächtig. Da nützt ihm die Aussage nichts. Und die anderen, die halten vielleicht auch nur zusammen. Alle hat es gestört, dass Schober zurückkam.«

»Du meinst, sie haben ihn gemeinschaftlich um die Ecke gebracht und geben sich gegenseitig … Mann! Aber möglich wär’s schon.«

»Stell dir mal vor, er hat wirklich unschuldig gesessen. Dann haben die Dörfler den Falschen getötet, und das wäre dem wahren Täter sehr recht. Also sollten wir herausfinden, wer das Treffen an jenem Abend organisiert hat – und vor allem, ob es kurzfristig anberaumt wurde. Dazu befragen wir am besten die Ehefrauen.«

»Jetzt gleich? Ich müsste mir mal schnell ein Brötchen holen. Ohne Frühstück aus dem Haus, und nun ist es ja schon Nachmittag.«

»Die Befragung übernehmen die Kollegen in Lübbenau. Bring mir bitte auch eins mit. Käse. Ich ruf die Kollegen an, und wir beide fahren nach Dissenchen.«

»Warum?«

»Ich will wissen, mit wem er während der Haft Kontakt hatte. Vielleicht hat er jemandem Einzelheiten erzählt.«

»In fünf Minuten am Auto!« Wiener war schon aus dem Zimmer, bevor Nachtigall den Hörer abgenommen hatte.

»Na, der Schober war einer von den Ruhigen. Gab eigentlich nie Ärger mit ihm. Da haben wir hier ganz andere Kaliber, kann ich Ihnen sagen.« Ferdinand Krause kratzte sich am Kopf. »Er hat ganz schön einstecken müssen. Aber ist kein Wunder, Kinderschänder mag man hier drin nicht.«

»Hatte er denn jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte? In all den Jahren wird doch eine Art Freundschaft mit dem einen oder anderen …«

Krauses Miene wurde nachdenklich. Er atmete schwer.

»Nun, ja. Mit dem Karl vielleicht. Aber ganz ehrlich – Freundschaft kann man das nicht nennen.«

»Keine Besuche, keine Gespräche mit den anderen Häftlingen. Er muss sehr einsam gewesen sein«, meinte Nachtigall betroffen.

»Ja. Ganz sicher. Das wurde erst in den letzten beiden Jahren besser. Da kam diese junge Frau regelmäßig zu Besuch. Hat ihm gutgetan. Er hat immer gesagt, dass er die Kleine nicht umgebracht hat. Er sei unschuldig. Aber das sagt hier so gut wie jeder. Aber manchmal, wenn ich ihn da so habe sitzen sehen – wissen Sie, da habe sogar ich an einen Justizirrtum geglaubt. In dem Schober hat nie was gebrodelt oder gar gekocht – der hat freundlich reagiert, nie aufbrausend.«

»Wissen Sie den Namen der jungen Besucherin?«

»Nee. Aber das ist leicht zu klären.«

»Josefine Hagel. Arbeitet im Restaurant des Schlosses Lübbenau 16 . Hm«, grunzte Nachtigall unwillig und starrte den Zettel an, auf dem die junge Frau Namen und Adresse eingetragen hatte. »Die Schrift ist kindlich. Na, dann lass uns mal hinfahren.«

Eine junge Frau, schüchtern und beinahe ängstlich, öffnete auf ihr Klingeln.

Sie führte die ungebetenen Besucher ins Wohnzimmer.

»Markus hatte mir gesagt, dass Sie zu mir kommen würden.« Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre geröteten Augen. »Sollte ihm etwas zustoßen.«

»So?«

»Nun, er ging davon aus, dass Sie in der JVA nachfragen würden und man Ihnen dort meine Adresse geben würde. So ist es wohl auch gekommen.«

»Sie kannten ihn von früher?«

»Nicht direkt. Mädchen in meinem Alter interessierten ihn nicht. Er stand auf rassige Frauen mit weiblichen Kurven. Aber mir hatte er schon immer imponiert. Einer, der sich was traut, der frech ist und nicht kuscht. Als er verurteilt wurde, meldete ich mich bei einem Verein, der Gefangene betreut. Ich sorgte dafür, dass ich ihn zugeteilt bekam und begann damit, ihm Briefe zu schreiben. So funktioniert das bei uns.«

»Er war froh, Kontakt nach draußen zu haben?«

»Klar. Das geht den meisten so. Besonders mit diesem Urteil. Mit denen will im Knast niemand was zu tun haben. Die sind die ganze Zeit über auf der Hut, passen auf, dass sie nicht totgeschlagen werden.«

»Hat Markus Schober Ihnen das erzählt?«

»Geschrieben.« Sie stand auf und zog eine Schublade auf. Legte ein Päckchen Briefe vor Nachtigall auf den Tisch, das von einem roten Band zusammengehalten wurde.

»Alle sind voll davon. Mal hatte er einen gebrochenen Arm, mal eine Stichwunde in der Lende, mal ein vollkommen zerschlagenes Gesicht. Als ihm jemand fast den Schädel eingeschlagen hatte, lag er für einige Wochen im Krankenhaus. Niemals wurden Ermittlungen aufgenommen. Er sei ungeschickt gefallen, hieß es im Bericht.« Tränen liefen über ihre Wange. Sie wischte sie wütend weg. »Es war allen gleichgültig, was mit ihm geschah.«

»Sie haben mit ihm über den Mord an Jasmin gesprochen?«

»Natürlich. Ich habe ihn dazu gedrängt. Es gab ja keinen, der ihm zuhören wollte. Kinderschänder haben keine Rechte.«

»Und?«, Nachtigall betrachtete mit Unbehagen den Stapel Post auf dem Tisch. Hatte er damals etwas übersehen?

»Er beteuerte, mit dem Tod des Mädchens nichts zu tun zu haben. Geglaubt hat man ihm nie. Ich schon. Er ist kein Mörder!« Sie schluchzte. »War!«

»Wenn er es tatsächlich nicht war, dann läuft der Mörder frei herum.«

»Markus wusste, wer es war. Er konnte aber nicht darüber sprechen.«

»Auch Ihnen gegenüber nicht? Sie haben ihn doch sogar besucht. Hat er sich da nicht geöffnet?«

»Nein. Eine Familienangelegenheit, mehr war nicht rauszukriegen. Nehmen Sie die Briefe mit. Dort steht alles drin, was er dazu zu sagen bereit war.«

»Eine Familienangelegenheit«, murrte Nachtigall, als er im Büro mit Michael Wiener zusammentraf. »Fragt sich, in welcher Familie wir suchen sollen. In der des Opfers oder der des verurteilten Täters!«

»Beleuchten wir beide. Ich denke, über die Familie des Opfers gibt es umfangreiche Rechercheergebnisse. Stöbern wir also in den Akten. Vielleicht tun sich Fragen auf, wenn wir mit neuem Blickwinkel an den Mord herangehen. Wenn Markus Schober unschuldig war, wer rückt dann näher in den Fokus?«

»Interessant ist doch: Wen hat er all die Jahre gedeckt? Wenn er wusste, wer Jasmin damals getötet hat, warum nahm er die Strafe auf sich, ließ sich fast zu Tode prügeln. Warum?« Nachtigall legte den letzten Brief der Sammlung zur Seite. »Er musste in jedem Augenblick befürchten, angegriffen zu werden. Er wurde ständig bedroht – und von den Beamten erwartete er keine Unterstützung. Warum?«

»Eine alte Schuld?«, mutmaßte Wiener. »Wir haben doch von den Kinderstreichen gehört. Vielleicht waren die gar nicht so harmlos, wie das Wort vermuten lässt.«

»Gut, forschen wir in dem Bereich nach.«

Keil sah aus, als wolle er die beiden Beamten mit einer Peitsche vom Hof jagen.

»Sie?«, bebte er zornig. »Was wollen Sie noch?«

Nachtigall nickte dem Mann freundlich zu. »Ich bin wegen der Andeutung hier, die Sie vorhin gemacht haben. Sie sagten, Markus Schober sei schon als Kind nicht unschuldig gewesen.«

»Und?«

»Was soll das bedeuten?«

»Er hat bei seinen Streichen gelegentlich übertrieben. Oder andere zu leichtfertigem Handeln verführt.« Er trat zur Seite, erlaubte den Beamten einzutreten. Schloss die Haustür hinter ihnen.

»Er war wild, rüpelhaft, handelte unüberlegt, ging jedes Risiko ein. In der Schule war er deshalb ein Außenseiter. Er war keiner von uns. Die meisten hielten sich von ihm fern.« Der Hausherr führte Nachtigall ins Wohnzimmer.

»Ist denn je etwas Dramatisches passiert?«

»Ach, eigentlich haben sich ständig Eltern beschwert. Er war Dauergast beim Schuldirektor. Genutzt hat es nichts.«

»In seiner Akte steht aber kein Vermerk über eine Unterbringung im Jugendwerkhof. So schlimm war es wohl nicht«, wandte Nachtigall ein.

»Nun, bei jedem Mal haben wir gehofft, jetzt wäre es endlich genug und man würde ihn wegsperren. Aber tatsächlich muss es irgendwo jemanden gegeben haben, der schützend seine Hand über ihn hielt. Andere verschwanden schon für weniger hinter dicken Mauern. Es war, als habe er eine Art Freibrief.«

»Auch von einer schützenden Hand …«

»Ja, ja – steht nichts in den Akten! Sie wissen doch genau, wie das funktioniert. Und heute würde ihm gar nichts mehr drohen. Bestenfalls ein Rezept für schicke Pillen. Asperger-Syndrom – oder überhaupt Autismus. Und wenn das nicht passt, nehmen wir eben eine andere Diagnose. ADHS? Der wäre heute wie damals nicht zu packen!« Zorn blitzte aus den Augen Keils. All die ungerechterweise ausgebliebenen Bestrafungen ließen ihn noch immer lodern. »Vielleicht könnte Jasmin noch leben, wenn rechtzeitig jemand Grenzen gesetzt hätte! Aber so? Der musste glauben, dass ihm alles erlaubt ist!«

»Sie meinen, er sei ein Fall für die Erziehungshilfe gewesen? Oder dachten Sie an eine Therapie beim Jugendpsychologen?«

»Jugendpsychologen? So was gab es hier nicht – nur in der Stadt. Irgendeiner aus der Parallelklasse ging da hin. Hat wohl geholfen, sonst wüsste ich noch, wer das war.«

Wer hatte davon gesprochen, dass er früher einen Therapeuten hatte?, überlegte Nachtigall fieberhaft. Er fürchtete, er müsse sich nun auch solch ein diskret schwarzes Notizbuch zulegen, wie Michael eines hatte, so ein Ding für Menschen mit nachlassender Gedächtnisleistung – da fiel es ihm wieder ein.

Überstürzt verabschiedete er sich von Keil und rannte zum Wagen zurück.

»Herr Schopf, ich hätte noch ein paar Fragen«, erklärte Nachtigall dem Zeugen, der die Leiche am frühen Morgen gefunden hatte.

»Na, dann kommen Sie rein«, antwortete der magere Mann mit leiser Stimme, führte den Beamten in die Küche. »Tee?«

»Danke, das wäre nett.« Während Schopf mit dem Teekocher hantierte, beobachtete Nachtigall ihn interessiert. »Sie kannten Herrn Schober schon seit der Grundschule.«

»Ja. Er war in einer Parallelklasse. Ich weiß noch, dass ich ihn immer beneidet habe, dass er bei Fräulein Schöpflin sein durfte, wir hatten Herrn Wellinger, der war so furchtbar streng. Fräulein – das sagt heute auch keiner mehr. Damals wurde man noch zurechtgewiesen, wenn man Frau sagte.«

»Bei uns in der Nachbarschaft wohnte eine sehr alte Dame. Die konnte zornig werden, wenn man sie nicht mit Fräulein ansprach. Wir haben uns immer sehr darüber amüsiert.«

»Drei Fräulein Schiller in einer Wohnung. Großmutter, Mutter und Enkeltochter. Na, da haben sich die Klatschweiber die Mäuler zerrissen.« Schopf grinste breit. Stellte zwei Teetassen auf den Tisch und angelte nach der Zuckerdose.

»Sie waren in Therapie?«

»Ja. Meine Eltern und der Lehrer wollten es so.« Er seufzte schwer. »Aber gebracht hat es nichts.«

»Was war passiert?« Nachtigall blies über die heiße Flüssigkeit.

»Wir waren Schlittschuh laufen auf dem Fließ. War keine gute Idee – das Eis war nicht richtig tragfähig. Meine Schwester brach ein. Sie musste ins Krankenhaus nach Berlin. Es war Markus’ Schuld. Er hatte uns überredet.«

»Und?«

»Ich habe ihn verprügelt. Er hat sich nicht einmal groß gewehrt. Er war selbst schuld. Jeder andere wäre mir aus dem Weg gegangen, meine finstere Miene war abschreckend genug. Aber Markus nicht. Der hat die Wut in meinem Gesicht nicht einmal bemerkt.«

»Es gab noch mehr Vorfälle, nicht wahr?«

»Alles war seine Schuld. Was musste er auch immer um mich rumschleichen! Ich glaube, er hat meinem Klassenlehrer von den toten Katzenbabys erzählt. Danach begann die Therapie.«

»Sie haben die Kätzchen getötet – aber ganz langsam, oder?«

»Ich wollte sehen, ob sie Angst vor mir haben, wenn ich ihnen ein bisschen wehtue.«

»Und Jasmin?«

Schopf starrte in seine Teetasse, rührte gedankenverloren darin um.

»Das war viel später«, murmelte er dann.

»Markus hat gewusst, dass Sie das Mädchen getötet haben.« Nachtigall, dem bewusst war, dass er ein ziemliches Risiko eingegangen war, allein hierher zu kommen, tastete sich unbeirrt zum Kern der Befragung vor.

»Der Idiot! Er war selbst schuld. Was musste er auch am Fließ vorbeikommen, wo ich …«

»Und dann?«

»Der Blödmann dachte, man könne die Kleine noch retten. Später fand die Polizei Haare von ihm an der Kleidung, und es gab einen Indizienprozess. Ich war nicht im Kreis der Verdächtigen.«

»Warum hat er Sie nicht verraten?«

»Er wollte, dass ich selbst gestehe. Deshalb musste er jetzt weg!«

Nachtigall starrte sein Gegenüber an.

»Na, nun gucken Sie nicht so! Am Ende hat er es ja verstanden. Er war schuld. Als ihm das aufging, wurde er ganz grün im Gesicht. Er hat mir gesagt, wenn ich den Mord an Jasmin nicht gestehe, wird er den wahren Täter benennen.« Er lachte verhalten. »Der hat sich manchmal so bescheuert ausgedrückt. Aber das Beste war, dass er meinte, ich bräuchte Hilfe! Dabei konnte ich doch den Mord an Jasmin nicht zugeben! Verstehen Sie, dann wären doch all die anderen auch rausgekommen.«

»Die anderen?«, wiederholte Nachtigall und hörte sich keuchen.

»Nun, viel Zeit ist seit damals vergangen, nicht wahr? Viele Jahre. Sehen Sie, ich reise gern. Da trifft man immer wieder nette Leute. Gerade bei Singletouren. Manche kehren nie zurück.«

Mörderisches aus Cottbus und dem Spreewald

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