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Das Meer als Passion

Wussten Sie, dass Wasser nicht nur der zentrale Stoff unserer Lebenswelt ist, sondern auch große Bedeutung in der Geschichte hat? Die Faszination für eine spezielle Form von Wasser, für die Weltmeere, weckte mein wissenschaftliches Interesse an diesem Thema. Der Ozean ist eine spezielle Biosphäre, die in den irdischen Wasserkreislauf eingebunden ist. Für die Bewohner des Festlandes war der Ozean lange Zeit ein Reich der Fantasie, für Bewohner von Inselwelten dagegen ihre tägliche Umwelt, die auch ihre Identität prägte. Manche nicht-westlichen Gesellschaften, etwa die Maori, leiten ihre Herkunft von mythischen Walfiguren ab. Pazifikinsulaner navigierten bis in das 20. Jahrhundert nicht mithilfe von nautischen Karten, sondern orientierten sich an Tierschwärmen oder Meeresströmungen.

Dieser direkte Bezug zum Ozean fehlt den meisten Menschen in Mitteleuropa. Ihnen vermitteln Sagen und Filme die Vorstellungen vom Meer. Seeschlangen, Kraken, Meerjungfrauen und versunkene Zivilisationen bevölkerten über Jahrhunderte Bücher, Karten und Legenden. Heute finden wir diese Fabelwelten im Kino wieder. Der Blockbuster Aquaman (2018) zum Beispiel spielt in der versunkenen Stadt Atlantis. Dort bricht ein Machtkampf zwischen König Orm, der sich die Weltoberfläche unterwerfen will, und seinem Bruder Aquaman aus, der das mithilfe von Meerestieren sowie eines magischen Dreizacks verhindern will. Orm verliert die entscheidende Schlacht, Aquaman wird neuer König und führt eine Versöhnung zwischen den Welten herbei.

Fasziniert las ich Frank Schätzings Buch Der Schwarm (2004), das man dem Genre der Ecofiction zurechnen kann. Weltweit gewinnt das Meer darin eine unheimliche Eigendynamik. Dahinter steckt ein Kollektiv von Meereslebewesen, das die Menschheit angreift. Nach einer rasanten Actionhandlung endet die Geschichte mit der Aussöhnung zwischen dem Schwarm – einer intelligenten Lebensform im Meer – und den Menschen. Schätzing verschmilzt seine Romanhandlung mit Wissenschaft und Kritik an der Umweltverschmutzung.

Das Gedankenspiel, dass das Meer dem Menschen gefährlich werden kann, hat bereits Jules Vernes (1828–1905) zum Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer (1870) inspiriert. In Anlehnung an zeitgenössische Expeditionsschilderungen verfasste Verne einen fiktiven Erlebnisbericht des französischen Wissenschaftlers Pierre Aronnax. In den Jahren 1866 und 1867 mehren sich rätselhafte Schiffsunfälle auf allen Weltmeeren. Während sich die Presse in wilden Spekulationen über deren Ursachen verliert, vermutet Aronnax eine lebendige Gefahr aus der Tiefe. Der Forscher hat das wissenschaftliche Werk Die Geheimnisse der Meerestiefen verfasst und glaubt, dass ein Riesennarwal die Schiffe angreife. Die amerikanische Regierung bittet ihn aufgrund seines Fachwissens, an einer Expedition zur Klärung des Phänomens teilzunehmen.

Im Nordpazifik schließlich stößt er mit seinen Begleitern auf das eiserne Unterseeboot von Kapitän Nemo. Dieses Boot, die Nautilus, ist es, das die Schiffe zum Kentern bringt. Nemo und seine Crew haben der Erdoberfläche den Rücken gekehrt. Sie versorgen sich ausschließlich mit den Schätzen der See. Beispielsweise bauen sie unterseeische Kohle ab, die das Schiff antreibt. Ihre Nahrung besteht aus Meerestieren und -pflanzen. Aronnax erlebt auf der Nautilus zahlreiche Abenteuer, in denen die Wunder der Meere beschrieben werden, bis ihm schließlich in der Nähe der norwegischen Küste die Flucht gelingt. Dort zerstört eine gigantische Strömung die Nautilus.

Meist wird der Roman dahingehend verstanden, dass er den Sieg der modernen Technik über die Natur beschreibt, doch gleichzeitig vor dem unverantwortlichen Schwelgen im Fortschritt warnt. Diese Interpretation ist eine ökologische Lesart, die zum Umweltschutzgedanken unserer Zeit passt. Wie Schätzings Buch greift dieser Roman aber auch gesellschaftliche Tendenzen seiner Zeit auf. Salz- und Süßwasser rückten nämlich genau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Fokus der Forscher. Die Faszination des Wassers schlug sich in der Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen nieder. Die Limnologie oder Gewässerkunde entdeckte die Binnengewässer wie Flüsse, Seen und Teiche, die Ozeanographie oder Meereskunde die Weltmeere.

Das wachsende Interesse der Forscher kam daher, dass alle Wasserformen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vermehrt vom Menschen genutzt wurden. Zu diesem Zweck war Wissen über diesen Stoff nötig. Stadtplaner und Verwalter bauten die Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung in den Städten aus. Wasserbauingenieure begradigten Flüsse und entwarfen Staudämme. Die Zunahme der globalen Passagierschifffahrt, der Ausbau des Linienverkehrs (z. B. der Hamburg-Amerika-Linie) und die Verlegung unterseeischer Telegrafenkabel erforderten genaues Wissen darüber, wie die Meere und der Meeresuntergrund beschaffen waren. International operierende Fischereifirmen verlangten nach Informationen über Fischbestände, etwa zu deren Vorkommen, Verbreitungswegen und Wanderbewegungen.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert floss Wasser immer mehr in den menschlichen Alltag ein: In den Jahrhunderten davor schöpften Menschen ihr Wasser noch aus Brunnen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts versorgten Fernleitungen, Wasserwerke und Wasserspeicher die Städte. Die Körperhygiene nahm im Vergleich zu den Jahrhunderten davor zu: Durch das Baden und Waschen wurde Wasser fester Bestandteil des Tagesablaufs kontinentaler, urbaner Gesellschaften. Die Nachteile der gestiegenen Wassernutzung blieben nicht aus: Überfischung, Gewässerverschmutzung, Wasserverschwendung und Artensterben sind die Folgen der menschlichen Eingriffe in den Wasserkreislauf.

Diese zahlreichen Facetten von Wasser faszinieren mich als Historikerin. Deshalb habe ich mich in den letzten Jahren ausführlich und gerne mit Wasser befasst. Bereits in der Antike spielte Wasser eine wichtige Rolle. Das Zweistromland gedieh, weil die Herrscher über Techniken der künstlichen Bewässerung verfügten. Wasser machte aus der Wüste Mesopotamiens erst den fruchtbaren Halbmond, in dem die ersten Hochkulturen entstanden. Ganze Gesellschaften können anhand ihrer Nutzung von Wasser verstanden werden. Der Soziologe und Sinologe Karl August Wittfogel (1896–1988) prägte den Begriff der »hydraulischen Gesellschaft« für ein Gemeinwesen, dessen wirtschaftliche und politische Entfaltung von Bewässerungstechniken abhängig war. Dazu zählten Deichbau, Kanalsysteme, Überflutungsregulierungssysteme und Schleusen.

Im Altertum gelang es dem chinesischen Kaisertum, den Gelben Fluss (Huang He) zu beherrschen. Die bronzezeitliche Indus-Kultur basierte auf der erfolgreichen Bewässerung des Landes aus den Flüssen Punjab und Indus. Die Ägypter regulierten im 5. Jahrtausend v. Chr. den Nil – und die Khmer (deren Blütezeit im 12. Jahrhundert lag) benutzten bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. Bewässerungssysteme zum Reisanbau. Hydraulische Gesellschaften stützten sich auf eine zentralisierte Herrschaftsform, häufig in Gestalt eines religiös geprägten Staatskultes, auf eine Bürokratie und ingenieursmäßige Wassertechnologie. Sie hatten häufig ein Gottkönigtum (wie in Ägypten) und eine Schriftsprache (Hieroglyphen). Weitere Merkmale sind frühe Formen der Urbanisierung (wie in Indien), eine hohe Entwicklung der Naturwissenschaften (Mathematik, Astronomie) und ausgefeilte Baukunst. Aufgrund der geographischen Lage dieser frühen Wasserhochkulturen in Asien beschrieb sie Wittfogel als eine Form der orientalischen Despotie.

Die Auffassung, dass die Macht über das Wasser das alleinige Kennzeichnen der orientalischen Despotie sei, entspricht jedoch eher westlichen Bewertungen als den wahren Gegebenheiten. Auch die Azteken und Inkas in Mittel- und Südamerika bewässerten ihre Gartenparzellen. Der Aufstieg der Niederlande als Großmacht im frühneuzeitlichen Europa kann als ein Beispiel für politischen Machtgewinn durch die Kultivierung des Rheindeltas und die Eindämmung der Nordsee gesehen werden. Obwohl das soziologische Konzept der hydraulischen Gesellschaft kritisiert worden ist, wird es bis heute zur Beschreibung von zentralisierten Gemeinwesen benutzt, deren politische Macht auf der Beherrschung von Wasser basiert. Die Idee der hydraulischen Gesellschaft hat somit wenig an Aktualität eingebüßt. Bis in das 20. Jahrhundert bauten Staaten in fast allen Erdteilen Kanäle, Bewässerungssysteme und Staudämme. Bis in die Gegenwart sind Konflikte im Nahen Osten zumindest in Teilen Wasserkonflikte.

Moderne Gesellschaften basieren auf Wasserbaukunst, und es ist immer wieder faszinierend, wie sich die Menschen den natürlichen Stoff Wasser angeeignet haben, wie sie ihn nutzen, aber auch welche Potenziale und Probleme damit verbunden waren und sind. Wussten Sie, dass Deutschlands erste Trinkwasserleitung in Hamburg lag? Dass ein Münchner Architekt das Mittelmeer absenken wollte? Dass Wasser sogar ein Gedächtnis nachgesagt wird? Diese und viele weitere Begebenheiten rund ums Wasser erzählt dieses Buch.

Wasser. 100 Seiten

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