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4. Kapitel
Оглавление»Il tedesco!« Die Stimme des alten Hausfaktotums Enrico ließ Claudia Trentini die Gießkanne abstellen, direkt vor den stumm nach Wasser schreienden Geranien. Ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich, während sie beobachtete, wie er lässig herantrabte, auf diesem riesigen Hengst mit dem eigenartig glänzenden Fell, den sie genauso verabscheute wie seinen angeberischen Herrn.
Doch als Thanner näher herankam, konnte gerade sie mit ihrem ausgeprägten Sinn für alles Schöne nicht umhin, die animalische Anmut der beiden Kreaturen – Mann und Tier – zu bemerken, dieses Eins-Sein der harmonischen Bewegungen, die stolze Kopfhaltung des goldschimmernden Rassepferdes, die kraftvolle, sichere Lässigkeit des Reiters.
»Buon giorno, signora!« Es störte sie sogar, dass er das Italienische so flüssig und akzentfrei sprach, mühelos, wie er alles zu tun schien, wie er nun vom Pferd sprang, ohne ihre Aufforderung abzuwarten – die sowieso nie über ihre Lippen gekommen wäre.
»Wenn Sie hier sind, um mir wieder mal ein Angebot für mein Land zu machen, können Sie gleich zurückreiten, signor Thanner!« Sie verzichtete absichtlich auf einen Gruß, er sollte merken, wie sehr sie ihn verachtete, ihn und sein Geld, das er doch nur dem Erbe aus der kurzen Ehe mit seiner italienischen Frau verdankte.
»Wo denken Sie hin, signora! Nach der Renovierung des Gästehauses bin ich so blank wie Ihre Fensterscheiben. Ich könnte mir nicht mal mehr einen Geranientopf leisten.« Er merkte ihre beleidigende Art nicht einmal, musste ein Fell haben von der Dicke eines sibirischen Wollmammuts. »Nein, es geht um etwas anderes. Einer meine Hunde ist tot.«
»Erwarten Sie, dass ich einen Kranz schicke?«
»Wenn Sie das nicht schaffen, wollte ich Sie bitten, mir wenigstens einen der Welpen zu reservieren, wenn Ihre Hündin das nächste Mal wirft. Wo sind die Tiere überhaupt heute?«
»Im Haus. Und das Einzige, das ich Ihnen verkaufen würde, wäre eine Selbstschussanlage, aber nie einen der Hunde!«
Er grinste leicht, aber sie fand ihren eigenen Spruch keineswegs komisch, erinnerte sich mit Zorn daran, wie er vor Jahren ständig versucht hatte, ihr das Stückchen Land abzuschwatzen, auf dem die kleine Quelle sprudelte, ihre ablehnende Antwort einfach nicht hatte akzeptieren wollen, bis sie mit einem Anwalt drohte. Und wenig später waren es ihre Kanaan-Hunde gewesen, deren Schönheit ihm in die gierigen Augen stach. Aber als Agnete geworfen hatte, hatte sie ihm keinen der vier Welpen überlassen. »Wofür brauchen Sie unbedingt Hunde? Damit sie Ihre Geldsäcke bewachen?«
Zu ihrer Überraschung wurde er plötzlich sehr ernst. »Mein Boxer Romeo wurde vor ein paar Tagen vergiftet. Und – auf meiner Auffahrt ist ein Mord verübt worden.«
Er sah ihr ehrliches Entsetzen und erzählte ihr unaufgefordert alles, wie er es schon x-mal erzählt hatte. Und zum ersten Mal, wohl, weil sie hinter der Maske der Großsprecherei seine Ratlosigkeit spürte, nahm sie ihn mit ins Haus, bot ihm einen Drink an, den er ablehnte, weil er schon genug intus hatte. Sie einigten sich auf einen Kaffee und während sie Tassen und Zucker in einem Gefäß, das ihn an eine Graburne erinnerte, aus der Küche holte, betrachtete Darius interessiert den Käfig mit der wohlgenährten, schwarz-weißen Ratte, die zusammengekringelt in ihrem Nest aus Stroh schlief.
»Er heißt Monello.« Claudia schenkte ein und der starke Kaffee lichtete etwas die sich in diesen Tagen häufenden Alkoholnebel in Darius’ Kopf.
»Ich wusste nicht, dass Sie Ratten lieben.«
»Eigentlich hasse ich sie«, gab Claudia zu, doch dann wurde ihr zuvor so strenges, für eine Italienerin fast zu blasses Gesicht unter dem schwarzen Haar weich. »Nur ihn nicht. Ich hab ihn am Strand gefunden, in Marina di Bibbona. Eine kleine Kiste, halb im Sand vergraben. Drei junge Ratten lagen drinnen, ausgesetzt vermutlich. Zwei waren bereits erstickt, er allein lebte noch …« Leiser fügte sie hinzu: »Die Menschen können manchmal so grausam sein.«
Ja, dachte Darius bitter, wem sagst du das! Erstickte Ratten, vergiftete Hunde. Ein erstochener Junge. Plötzlich wollte er dringend heim, sich vergewissern, dass inzwischen nicht die nächste Katastrophe eingetroffen war. Doch vorher nutzte er die Gunst der Stunde, um Claudia Trentini zu fragen, ob es denn nichts gab, womit man Kens Mutismus beheben könne, schließlich kam sie von der medizinischen Fakultät.
Sie lachte ein wenig. »Ich bin Augenärztin, signore. Mit psychischen Problemen hab ich wenig zu tun. Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen Literatur zum Thema besorgen, wenn ich das nächste Mal in die Universität fahre.«
Dicke Fachbücher, in Fachchinesisch, trockener als jeder Strohstaub in seinen Ställen. Darius graute; er hatte gehofft, dass sie ihm mit wenigen, für sein schlichter gestaltetes Hirn leicht verständlichen Worten helfen könne, aber ihr fiel seine mangelnde Begeisterung nicht auf. Noch, als sie ihn zur Tür brachte, versprach sie, die Bücher möglichst bald zu bringen.
»Oh, no!« Neben dem blau glasierten Keramiktopf, in dem sich kurz zuvor leuchtend rote Geranien ihres Daseins erfreut hatten, und der jetzt einer trostlosen Erdwüste glich, kaute der Tekkiner-Hengst Sascha genüsslich an einem grünen Stängel, während aus den Winkeln seines breiten Mauls grünlicher Schleim troff. Ein einsames Blütenblatt leuchtete in verzweifelt protestierendem Rot an seiner Unterlippe. Claudia hätte sich bei diesem Anblick am liebsten selbst geohrfeigt, für ihren Anflug von Mitleid für den tedesco; jegliche sanftere Regung verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht und ihrem Herzen. »Nehmen Sie, verdammt noch mal, Ihr Pferd aus meinen Geranien!«
Sie schieden in langjährig erprobter Feindschaft und vielleicht war das auch am besten, weil einfacher.
Die beiden Mädchen saßen auf der weiß lackierten Bank vor dem Stall, als Peter Selmann kam. Bettinas Augen waren gerötet, und die Jüngere, Sabina, legte der Schwester eben den Arm um die Schultern, das kindlich runde Gesicht hilflos besorgt. Keine der beiden achtete auf ihn.
»Ich würd’s verstehen, wenn Sie ihn nicht mehr unterrichten wollen.« Darius fing den Archäologen ab, als er den Dschungel des grün überwucherten Innenhofs durchquerte.
Peter dachte an sein stilles Appartement in Cecina, an das leere Gästebett mit der Star-Trek-Bettwäsche, für die er im Hinblick auf Emilios Kommen sämtliche Pisaner Kaufhäuser durchkämmt hatte, an die Obstkiste mit den etruskischen Tonfragmenten, die er niemals hätte heim nehmen dürfen, weil sie ihn täglich daran erinnerte, wie auch seine Ehe sich in solch einen schmutzigen Scherbenhaufen verwandelte. Nein, er spürte keinerlei Verlangen, in die schweigenden leeren Zimmer zurückzukehren, um dort zwischen anderen überflüssigen Möbelstücken herumzustehen, noch verlorener und deplatzierter als sie.
»Nein, nein, ich mach weiter.«
»Wenn der ragazzo auch nur im Geringsten aufmuckt, gehen Sie sofort aus dem Zimmer!«
Überrascht konstatierte Peter, dass Darius Angst hatte. Aber Ken war eingesperrt gewesen, vorgestern Nacht, als der Mord geschah, ebenso wie in der Nacht, in welcher der Hund starb!?
»Vielleicht sollten besser Sie vorsichtig sein, Thanner!«, sagte er langsam. »In der Stadt redet man davon, dass Lucianos Bruder Carlo geschworen hat, den Mörder seines Bruders eigenhändig zu bestrafen, wenn ihn die Polizei nicht bald findet.«
»Gerüchte!«
»Carlo ist der Typ Sizilianer aus dem vorigen Jahrhundert. Blutrache als erste Bürgerpflicht. Und die Leute munkeln, dass Giulio, Lucianos bester Freund, sich ihm eventuell anschließen wird!«
Thanner drehte eine Zigarette zwischen den Fingern. »Wissen Sie was«, sagte er nach einer endlosen Pause in einem resignierenden Tonfall, der überhaupt nicht zu seiner sonst so vitalen Persönlichkeit passen wollte: »Ich kann’s diesem Carlo wirklich nicht verübeln. Sie haben selbst einen Sohn – wie heißt er doch gleich …?«
»Emilio«, murmelte Peter und selbst das Aussprechen des geliebten Namens bereitete Schmerz.
»Emilio. Richtig. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie Ihren Emilio tot aus dem Straßengraben holen müssten?!«
Peter wusste keine Antwort.
Der Junge stand am Fenster. Er wandte nicht den Kopf, als Peter eintrat, und als dem Archäologen klar wurde, worauf er sein Augenmerk richtete, fühlte er einen leise warnenden Schauder. Ken sah unverwandt auf die beiden Mädchen, die jetzt im Hof vor der Hundehütte kauerten und die alte Julia streichelten.
»Wir sollten heute wieder arbeiten, Ken!«
Der Junge fuhr herum. Seine Augen schimmerten fast schwarz, eine Hand fuhr in die Hosentasche, ballte sich dort zur Faust. Peter verspürte einen jähen Anflug von Furcht. Hätte er Thanners Angebot nutzen, auf Nimmerwiedersehen aus diesem Paradiso, das seine Unschuld verloren hatte wie einst bei Adam und Eva, fliehen sollen? Er war Archäologe, Spezialist für tote Kulturen, nicht für die Probleme Lebender! Die Sehnsucht nach den Feldern bei Populonia, der sengenden Sonne über staubigen Probegräben, dem vertrauten Geruch nach Erde und Stein und der süßen Freude des Entdeckens überwältigte ihn so plötzlich, dass er am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht hätte und nach Populonia hinausgefahren wäre.
»Setzen wir uns.« Es kostete ihn gewaltige Mühe, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. »Wo hast du dein Heft?«
»Das Messer!« Darius striegelte seinen Lieblingshengst Sascha, eine Beschäftigung, die ihm normalerweise half, sich zu beruhigen, doch an diesem Tag schien der Zauber nicht zu funktionieren. »Irgendwo muss das verdammte Messer sein!«
»Die Tatwaffe?« Hannes, der Ruby in den Hof führte, zuckte die Achseln. »Ein Messer ist leicht zu verstecken. Du buddelst es ein, wirfst es in die Cecina, versenkst es zwischen Elba und Piombino im Meer …«
»Glaubst du …«, Darius zögerte kurz, »glaubst du – der Mord war geplant? Ich meine, nicht viele Leute dürften zufällig nachts mit einem langen Messer rumspazieren. Und schon dreimal nicht ausgerechnet auf meiner Auffahrt, so einsam wie das Paradiso liegt!«
»Nur Verrückte«, sagte Hannes und Darius kniff die Augen zusammen.
»Vergiss es! Der Junge war’s nicht!«
Der Pferdewirt zuckte ein weiteres Mal die Achseln.
Aus reiner Wut entschloss sich Darius zum Gegenangriff: »Du hast’s ja verdammt cool aufgenommen, vorgestern, dass er tot ist. Luciano, meine ich.«
»Was soll ich tun? Ein schwarzes Trauerbändchen tragen? Der Scheißkerl wollte mir Bettina wegnehmen!«
»Er hat sie dir weggenommen.«
Hannes spuckte in den Sand.
Nachdenklich strich Darius mit der Kardätsche über Saschas im warmen Sonnenlicht golden aufglänzendes Fell. »Wer immer es getan hat, er wollte, dass der Verdacht auf den Jungen fällt. Er muss von dem Streit zwischen ihm und Luciano gewusst haben.«
»Luciano hat die Story mit Sicherheit per Lautsprecher durch ganz Norditalien geplärrt«, entgegnete Hannes trocken. Sein Blick glitt von Darius weg, zum Gästehaus hinüber, wo Bettina gerade in der Tür verschwand. »Kriegt der Etruskerjäger heute wieder Sonderstunden?«, wechselte er abrupt das Thema.
»Peter Selmann? So wie er sie nötig hat, auf jeden Fall!«
»Versuch, dich zu konzentrieren!«
Es schien dem Vierzehnjährigen ebenso schwer zu fallen wie Peter selbst. Der Junge starrte aus dem Fenster, zerflinste den Radierer, bis Peter ihm die Trümmer wegnahm, sah wieder aus dem Fenster, ließ seinen Bleistift fallen, hackte mit den Fersen gegen die unschuldigen Stuhlbeine, kratzte mit dem Fingernagel einen imaginären Reck von der Tischplatte, malte Totenköpfe und Skelette an den Rand des Heftes, mitten in Peters sorgsam zurechtgelegter Erklärung über die Konjugation der Verben auf -are. Die Schrift des Jungen war noch krakeliger als sonst, unleserlich fast, die Buchstaben schwammen statistisch verteilt unter und über den Zeilen, halb ertrunkene Schiffbrüchige im sturmbewegten Meer.
»Lass uns wenigstens diese eine Übung beenden, dann verlegen wir uns für heute auf Tischtennis, okay?« Sie hatten erst eine halbe Stunde mit dem Lehrbuch, das Peter in Cecina aufgetrieben hatte, gearbeitet, aber Peter merkte, dass es sinnlos war weiterzulernen; der Junge würde ihn höchstens mit seiner Kribbeligkeit anstecken.
Joost Amber und Sabina schlugen einander bei der Tischtennisplatte beim Gästehaus eher lustlos Bälle zu; Bettina hockte auf der Bank im Schatten und sah blicklos auf die Erde hinab. Joost schwenkte grüßend den Schläger, als er Peter und Ken sah. »Ich übergebe gern, muss sowieso weiter an meinem Buch arbeiten!« Die Mädchen folgten ihm wortlos ins Haus.
Wenn Peter gehofft hatte, der Sport werde Kens Nervosität dämpfen, hatte er sich gründlich getäuscht. Ken spielte so zerfahren, wie er geschrieben hatte, vergaß ständig, wer mit dem Aufschlag dran war, der Schläger rutschte ihm aus der Hand, dann suchte er unter dem Tisch nach dem Ball, den er längst in den Fingern hielt, drehte sich alle zwanzig Sekunden um, um sich zu vergewissern, dass die alte Julia nach wie vor still in der Sonne briet, das Fell faltig wie ein alter Teppich, trat ein Büschel Gras platt, das ihn aus einem unerfindlichen Grund zu stören schien. War es die schreckliche Mordgeschichte, die den Jungen so durcheinander gebracht hatte, oder das erneute Verhör durch die unbarmherzige Polizistin, commissaria Pinardo? Oder – etwas ganz anderes? Der Gedanke an eine von ihm selbst begangene Gräueltat? Trotz der Hitze überlief es Peter eiskalt.
Ken verlor den ersten Satz sechs zu einundzwanzig und der zweite versprach ebenfalls keine Glanzleistung zu werden: drei zu zwölf, drei zu dreizehn. »Nicht dein Tag heute, wie?«, fragte Peter, als Kens Ball erneut an der Platte vorbeisegelte, irgendwo in die Weiten des Universums hinaus. Er hatte die Bemerkung nicht böse gemeint, ihm ging nur allmählich die Stille auf die Nerven, es war eben heute doch eine andere Stille als die wohltuende Ruhe auf dem Grabungsfeld. Aber zu seinem Entsetzen rastete Ken mit einem Mal völlig aus, schmiss den Ball, den Peter ihm zuwarf, zu Boden, trat ihn mit dem Absatz kaputt, schleuderte den Schläger fort, trampelte darauf herum, stumm wie immer, doch mit einem zornentflammten Ausdruck im Gesicht, der deutlicher sprach als hundert Bände Lexikon.
»Ken! Was soll das?!« Peter lief zu ihm, fasste seinen Arm, um ihn zur Besinnung zu bringen. Der Junge sprang zurück, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen; blitzschnell fuhr seine Hand in die Tasche, kam wieder heraus, etwas Braunes, Längliches in der Faust. Im nächsten Moment schnellte eine dünne, blitzende Klinge hervor – und Peter sah sich einem Einhand-Klappmesser gegenüber, exakt auf der Höhe, in der er seinen Magen vermutete, der sich sofort schmerzhaft zusammenzog.
»Ken!« Peter konnte nur flüstern, seine Stimme schien zu sterben. Er stand völlig starr, die Hände beschwörend-abwehrend nach vom gestreckt, wie man einer Giftschlange gegenüberstand, reglos, um sie nicht unnötig zu reizen, während man sich doch mit jedem Neuron seines Gehirns danach sehnte, einfach wegzurennen.
»Per piacere! Bitte, Ken! Ich – was hab ich denn gesagt?« Peter hatte Lucianos Leichnam nicht selbst gesehen und trotzdem plötzlich das Bild vor Augen: ein toter Junge, in grotesker Leichenstarre, die blutüberkrustete Wunde im Rücken. Würde Thanner heute ihn so finden, nur mit der Klinge im Bauch statt zwischen den Schultern, abends etwa, wenn er vor der pasta rausging, eine zu rauchen? Wenn er aufmuckt, gehen Sie sofort aus dem Zimmer! Lachhaft! Er war in keinem Zimmer und Thanner hatte ihm keine Verhaltensregel mitgegeben, was er in einem Fall wie diesem tun sollte! Flüchtig dachte er an Emilio. Würde er zum Begräbnis des Vaters den Austausch in England abbrechen oder würde Marisa es ihm erst nach den planmäßigen vier Wochen Aufenthalt mitteilen? Ach übrigens, dein Vater ist ermordet worden. Und vergiss nicht, deine Schmutzwäsche gleich in die Waschmaschine zu stecken!
Eigenartigerweise schien sein Herz sich nach dem anfänglichen rasenden Galopp allmählich zu einem flotten Trab zu beruhigen. Ken griff nicht an, stand ihm einfach gegenüber, den Kopf zwischen die angespannten schmalen Schultern gezogen, das Messer eher linkisch in einer knochigen Hand, blutleer vor Verkrampfung.
Und plötzlich begriff Peter: Ken hatte mindestens soviel Angst vor ihm wie er selbst vor dem unberechenbaren Jungen. Und mit diesem Wissen fand er seine Stimme und zumindest einen Teil seiner Selbstsicherheit zurück.
»Gib mir das Messer, bitte! Ich versprech dir, ich werde dich nicht bestrafen!« Vorsichtig, sehr vorsichtig, streckte Peter die Hand aus, ganz langsam, um den Jungen nicht zu erschrecken und womöglich irgendeine Panik-Abwehrreaktion auszulösen.
Er konnte jetzt die Verwirrung, die Unentschlossenheit im Gesicht des Jungen deutlich erkennen – auf der einen Seite befreite sie ihn von einem Teil seiner Furcht, auf der anderen erinnerte er sich an etwas, das er gelesen hatte: Ein in die Enge getriebenes Tier war am gefährlichsten! Gab es da nicht irgendetwas mit Flucht- und Angriffsdistanz?
»Du kannst mir vertrauen, Ken, ich sag niemandem was. Und schon gar nicht Thanner«, setzte er hinzu, sich daran erinnernd, wie der Mann Ken neulich verprügelt hatte.
»Gib mir das Ding, bevor was passiert! Ken, per piacere!«
Probehalber wagte er einen weiteren Schritt in Kens Richtung. Der Junge wich zurück, Panik in den Augen, hob das Messer ein Stück, in eindeutig drohender Geste. Peter begann zu schwitzen, spürte auf einmal doch wieder nur Angst. Wenn er sich umdrehte, wegrannte, würde er schnell genug sein, würde Ken ihm nachsetzen? Leider war er nicht der übermäßig sportliche Typ, war es nie gewesen, im Gegensatz zum Klischeebild des Fernseh-Archäologen, der sonnengebräunt und agil die schwierigsten Situationen und Hindernisse überwand und nebenbei die hübschesten Frauen verführte …
»Glaub mir, Junge, ich mach dir nichts vor.« Er versuchte so beruhigend zu sprechen wie Thanner mit seinen Pferden.
Ken blickte auf die Waffe in seiner Hand, dann wieder auf Peter. Der Adamsapfel des Jungen hüpfte auf und ab; Peter hatte den Eindruck, als wolle Ken etwas sagen, doch kein Ton kam über die blutleeren Lippen, die zu zittern anfingen.
Peter dachte erneut an die Fluchtdistanz, beschloss, es seinem Naturell angemessen mit einer defensiveren Taktik zu probieren. Ganz, ganz langsam schob er seinen rechten Fuß ein kleines Stück zurück, wagte nach einer Weile, den linken Fuß nachzuziehen.
Besorgt beobachtete er, wie Kens Muskeln sich angesichts seiner Bewegungen erneut verkrampften, die Lippen wieder schmal wurden. Und dann, als hätte Peters Rückzug seine Entscheidung erleichtert, wich der Junge selbst einen Schritt zurück, das Messer nach wie vor in Peters Richtung gestreckt, drehte sich dann mit einer Schnelligkeit, die der Archäologe ihm niemals zugetraut hätte, um und rannte davon, zur Weide, das Messer offen in der Hand.
Erschöpft ließ Peter sich auf die Bank fallen, fühlte sich ausgelaugt, schwach. Eigenartigerweise dachte er nicht mehr an den armen, gestörten Jungen, sondern an seine Ex-Frau Marisa. Wie hätte sie wohl auf die Nachricht von seinem Tod reagiert? Innerlich erleichtert, vermutlich, aber mit genügend gespielter Trauer und den bestaussehenden, schwarzen Kleidern, die sie finden konnte, um die Nachbarn zu beeindrucken. So wie er damals von ihr beeindruckt gewesen war, von ihrer dunklen Schönheit, ihrer rauchigen Stimme, ihrem schlangengleichen, sich ihm hingebenden Körper. Damals, als er nicht ahnte, dass sie zwei Kosmetikkoffer besaß, aber dafür keine Vorstellung von dem, was Lieben bedeutete … Wenigstens hatte er Emilio – und doch wieder nicht. Thanner hatte ihm angeboten auszusteigen, vielleicht sollte er es tun. Vielleicht sollte er nach Milano fahren, ins nächste Flugzeug nach England steigen; vorausgesetzt, es fand kein Streik statt, dann konnte er bereits morgen früh in London sein. Dort, wo es keine Marisa gab, die sich ständig bemühte, ihn von seinem Sohn fernzuhalten …
Lange blieb er sitzen, unfähig, sich zu erheben, irgendetwas Sinnvolleres zu tun, als auf seinen Herzschlag zu lauschen, dessen Frequenz nur zögernd in den Normbereich absank. Julia robbte zu ihm herüber, leckte hingebungsvoll den Staub von seinen Schuhen.
Das Messer! Erst jetzt fragte er sich bang, ob es dasselbe sein könne, mit dem der arme Luciano …? Halt! Hatte laut Thanner der Gerichtsmediziner nicht etwas von einem Küchenmesser berichtet? Konnte man in so einem Fall zwischen einem Küchen- und einem Klappmesser unterscheiden? Er hatte keine Ahnung, vermutete es jedoch. Allerdings … Wenn der Junge es geschafft hatte, an dieses Klappmesser zu kommen, musste man dann nicht annehmen, dass es ihm genauso leicht fallen würde, ein Küchenmesser zu entwenden?
Irgendwann schalt er sich selbst einen nervenschwachen Volltrottel. Ken war eingesperrt gewesen in der schrecklichen Nacht, ohne die geringste Möglichkeit, sein Zimmer zu verlassen! Und doch blieb trotz aller Vernunft irgendwo der winzige, hartnäckige Zweifel.
Claudia Trentini wusste nicht, warum sie ihr Versprechen hielt, gegenüber einem Mann, den sie vorsätzlich verabscheute, vielleicht einfach, um ihm zu beweisen, dass sie nicht war wie er, leichtsinnig und verantwortungslos.
Der Hof des Paradiso schlummerte still und verlassen in der Nachmittagssonne, aber ein Polizeiwagen parkte vor dem Haus, neben Thanners dunkelgrünem Range-Rover mit dem scheußlichen, aufmontierten Pferdeschädel, dessen fleischloser Mund sie bösartig angrinste.
Als Claudia aus dem Wagen stieg, hob die Boxerhündin nur müde die Schnauze von den Pfoten; sie wirkte stark gealtert, das Fell umschlotterte sie wie ein faltenreicher Umhang und ihre Augen trieften. Auf ihre Weise, ehrlicher als mancher Mensch, trauerte sie um den Gefährten. Die Büchertasche über der Schulter ging Claudia zu dem Tier hinüber, das hoffnungsvoll zu ihr aufsah, streichelte den hässlichen Kopf, den das Alter hässlicher denn je erscheinen ließ.
Als sie wieder aufstand, vermeinte Claudia Stimmen vom Stall her zu hören, vielleicht arbeitete Thanner dort. Obwohl sie es vorgezogen hätte, die Bücher einfach für ihn abzugeben, ging sie hinein, sah niemanden außer den Pferden. Mutwillig steckte ein Haflinger den blondmähnigen Kopf vor, legte die Ohren flach zurück und versuchte, nach ihr zu schnappen. Während Claudia rasch auswich – schließlich stand an dem Tier nicht dran, ob es spielen oder beißen wollte –, wurde ihr klar, dass die Stimmen von der Rückseite des Gebäudes kamen, laute, erregte Stimmen, die durch das offene Fenster hereindrangen.
Und jetzt, wo sie sich darauf konzentrierte herauszuhören, ob Thanner dabei sei, verstand sie auch die Worte: »… kann Ihnen das Mädchen bestätigen! Wie eine Furie ist er mit der Mistgabel erst auf Luciano los, dann auf mich!« An der Aussprache, dem harten deutschen Akzent, erkannte Claudia den Sprecher: Thanners unsympathischen Pferdewirt. Und wer ihm zuhörte, ihn ganz klar zum Reden ermunterte, war commissaria Pinardo aus Cecina!
Claudia schob sich ans Fenster, sorgsam darauf bedacht, keinem der Pferde zu nahe zu kommen, spähte durch die Spinnweben hinaus, nachdem sie sich sorgfältig vergewissert hatte, dass die Spinnen bei ihrer Siesta oder auf Urlaub waren: Ja, draußen standen die stämmige commissaria Pinardo, Pferdewirt Hannes und eines der beiden deutschen Mädchen, die ältere, dunkelhaarige. Sie sprach sehr fehlerhaft Italienisch, verstand aber offenbar genug, um dem Gespräch folgen zu können, half Hannes sogar, der Polizistin Einzelheiten der Szene im Stall zu schildern, während Pinardo abwechselnd über ihr Igelstachelkurzes Haar strich und eifrig auf einem kleinen Block kritzelte. Nachdenklich zog sich Claudia zurück, vorbei an dem blondmähnigen Pferd, das unwillig schnaubte und sie böse ansah, als nähme es ihr unbefugtes Eindringen in seine Welt übel.
Ken war gerannt und gerannt, bis er nicht mehr konnte, quer über die Hügel, wie schon einmal. Er hatte nicht beabsichtigt, so weit fortzulaufen, er hatte überhaupt nicht gedacht, nur weggewollt, um Peter Selmanns Blicken zu entgehen und Thanners harten Fäusten. Selmann würde ihn bestimmt an Thanner verpfeifen und der würde ihn prügeln, genau wie Krumm. Vielleicht würde er ihm den Arm brechen, so wie Krumm damals, an Kens zehntem Geburtstag …
In seiner Vorstellung stieg die gesamte Szene wieder hoch: der schreckliche Schmerz im Arm, Krumms gemeine Stimme, die Heimleiter Reimer vorlog, wie er, Ken, die Treppe hinuntergestürzt sei. Und Georg kauerte im Eck, schaukelte auf den Fersen, heulend und voll Angst, dass es ihn als Nächsten erwischen würde, denn er hatte alles mit angesehen …
Der Junge zog das Messer aus der Tasche, betrachtete es mit gerunzelter Stirn. Was war über ihn gekommen, wieso hatte er Selmann bedroht? Weil es die Stimmen verlangten? Er wusste es nicht, seine Lungen schmerzten vom Laufen und dumpfe Kopfschmerzen gesellten sich zu einem leichten Schwindelgefühl. Langsam setzte er sich, streckte sich dann der Länge nach im Gras aus, breitete die Arme nach beiden Seiten, sah in den hellen Himmel hinauf, so hell, dass es in den Augen schmerzte. Was war da oben, jenseits der kitschigen, flockig-weißen Schönwetterwölkchen? Bestimmt kein gütiger Himmelsvater, wie es ihm der Religionslehrer in der Grundschule hatte weismachen wollen! Und auch nicht Randolfs kleiner Prinz. Luftleerer Raum also, die lebensfeindliche Kälte des Alls, grenzenlose Einsamkeit …?
Lange Zeit blieb er so liegen, die Augen zum Himmel gewandt, bis er in der rechten Schulter einen undeutlichen Schmerz wahrnahm. Er rollte sich zur Seite, befühlte den Boden. Ein Stück Eisen augenscheinlich, ziemlich spitz, das wahrscheinlich seit Jahren hier herumgammelte, halb im Feldrain vergraben. Vielleicht noch ein Messer? Hoffnungsvoll grub Ken mit den Fingern, zog und zerrte, bis das Ding heraußen war, dunkel und voll fetter, schwarzer Erde. Kein Messer, länglich zwar, doch an beiden Enden verdickt, irgendein Traktorschrott oder so. Er wollte es gerade fortschleudern, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass das Ding ihn ansah. Ansah?! Hatte er Wahnvorstellungen, wie manchmal im Heim, abends, wenn er die Stimmen hörte? Fieberhaft hastig riss er ein Büschel Gras aus, begann den Gegenstand abzuwischen. Das obere Ende entpuppte sich als der Kopf eines Jungen, überraschend detailgenau gearbeitet, jede krause Locke sichtbar, aber viel zu klein im Verhältnis zu dem überlangen, strichdünnen Körper, der in wieder sorgfältig modellierten bloßen Füßen endete.
Lange Zeit starrte Ken auf das stille, ernste Gesicht des Bronzejungen. Du bist auch allein, dachte er, seit Jahren allein, vergessen von der Welt, genau wie ich! Mit einem neuen Büschel Gras polierte er sorgfältig die Schmutzreste von der Statuette, hob die Figur gegen die Sonne. »David«, sagte er heiser, mit dieser Stimme, die sich so selten aus ihm herauswagte. »Il tuo nome è David. Dein Name ist David.« Er freute sich, dass er dem italienischen Jungen seinen Namen auf Italienisch hatte geben können, und er freute sich noch mehr bei dem plötzlichen Gedanken, dass dieser sein neuer Freund genauso wenig mit anderen Menschen sprach wie er selbst.
Er steckte die etwa fünfzehn Zentimeter lange Statue in die Hosentasche, stand auf und stellte fest, dass sein Kopfweh aufgehört, er aber völlig die Orientierung verloren hatte.
Claudia Trentini fand Darius im Innenhof des Hauses.
»Buon giorno.« Mit einer Höflichkeit, die sie ihm nie zugetraut hätte, war er aufgestanden, bot ihr einen Platz auf der Steinbank. Claudia setzte sich mit einer Miene, von der sie hoffte, dass sie hoheitsvoll wirke. Sie wollte gerade von den Büchern anfangen, als Peter Selmann in den Hof kam, sich umblickte.
»Suchen Sie nach etruskischen Knochen, oder wonach?«, rief Darius und der andere schrak zusammen, als habe er vor, irgendwelche Kronjuwelen zu rauben. »Ich … eigentlich wollte ich fragen … wegen der nächsten Reitstunde …« Seine Stimme verlor sich zwischen Palmwedeln und Bougainvillea.
Darius lud ihn ein, sich zu ihnen zu setzen, und der Archäologe kam langsam heran, hockte sich auf den Rand des Delfinbrunnens, seine Miene so umwölkt, als habe er eben live dem Untergang Etruriens beigewohnt. Eine Vorstellung erübrigte sich für Darius; außerhalb der Saison kannte hier jeder jeden.
»Ich hab Ihnen die Bücher besorgt, Thanner.« Claudia sah, dass Peter aus irgendeinem Grund nervös war, lenkte bewusst die Aufmerksamkeit von ihm weg. »Und übrigens, wissen Sie, dass commissaria Pinardo sich draußen rumtreibt?«
Darius hatte es nicht gewusst und Claudia hatte keine Hemmungen, das belauschte Gespräch haarklein zu berichten. Man hielt eben zusammen, wann immer man es mit der Polizei zu tun bekam, mochte man sonst noch so zerstritten sein. Als sie geendet hatte, blickte nicht mehr nur Peter ausgesprochen unbehaglich drein.
»Aber der Junge kann’s nicht gewesen sein«, murmelte Darius endlich.
»Thanner! Hätte Ken irgendeine Möglichkeit gehabt, in der – der Mordnacht sein Zimmer zu verlassen?« Peter konnte das Klappmesser – wo hatte Ken es überhaupt her? – nicht vergessen und die nagende Sorge, dass er Thanner eigentlich davor warnen müsste, ebenso wenig.
»Sie lernen doch oben mit ihm. Sie haben sein Zimmer gesehen. Die Fenster sind vergittert. Er war eingeschlossen, ich hatte den Schlüssel. Niemand konnte rein, niemand raus!« Darius’ Stimme war heftig geworden und Claudia legte ihre Hand kurz auf seine, zog sie gleich wieder zurück. »Si calmi«, sagte sie leise und für ihre Verhältnisse unerwartet sanft. »Beruhigen Sie sich. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf.«
Aber ich, dachte Darius bitter. Ich mache mir Vorwürfe. Warum hab ich den Jungen überhaupt hierher gebracht? Warum? Und wieso, verdammt, kann ich mich nicht daran erinnern, ob ich sein Zimmer in jener Nacht wirklich abgeschlossen habe oder nicht?!
»Die commissaria verdächtigt bestimmt nicht allein Ken«, meinte Claudia schließlich.
»Nein«, sagte Darius trocken. »Sie verdächtigt jeden. Auch mich. Nur Lucianos Eltern sind fein raus: Der Vater lag wegen irgendwelchen Nierengeschichten im Krankenhaus und die Mutter lebt seit Jahren nicht mehr.«
Claudia warf Darius einen scharfen Blick zu. »Sie selbst haben natürlich kein Alibi? Und Ihr Pferdewirt?«
»Hannes?« Darius’ Verblüffung war echt. »Hannes ist kein Mörder!«
»Aber jeder hier weiß, dass der hübsche Luciano ihm das deutsche Mädel ausgespannt hat«, sagte Claudia nüchtern.
»Auch die commissaria?«
Claudia glaubte, dass es lediglich eine Frage der Zeit war, bis die Polizistin davon erfuhr.
»Um Ken zu entlasten«, murmelte Darius nach einer ganzen Weile, »müsste man den wahren Mörder finden.«
»Was eigentlich Sache der Polizei ist«, gab Peter zu bedenken, doch keiner der beiden anderen beachtete den Einwurf.
»Man sollte eine Liste erstellen, wer alles als Täter in Frage kommt«, spann Darius laut seine Gedanken fort.
»Dann machen wir das gleich!« Peter griff nach jedem Strohhalm. Vielleicht ergab sich dabei irgendetwas, das Ken von dem furchtbaren Verdacht befreite!
»Wir?«
»Als Kens Lehrer und Dauerreitanfänger im Paradiso bin ich von der grauenvollen Geschichte fast genauso betroffen wie Sie! Oder glauben Sie, es macht mir Spaß, mich bei den Reitstunden ständig vor grinsenden Polizisten blamieren zu müssen?«
Claudia lachte, wurde aber schnell wieder ernst. »Wer war außer Ihnen, Hannes und Ken in jener Nacht denn überhaupt auf dem Pferdehof, signor Thanner?«, fragte sie, während Darius einen kleinen Block aus der Tasche holte und seinen Namen ganz oben auf ein frisches Blatt setzte.
»Unsere Dauergäste. Joost und die Mädchen: Bettina und Sabina Reuter. Sonst – niemand. Der Koch Ignazio und seine Frau Maria waren auf eine Hochzeit in Cecina eingeladen, von irgendeinem Cousin fünfundsiebzigsten Grades. Ihr Alibi stützt sich auf mindestens hundert Gäste in den verschiedensten Stadien der Trunkenheit.« Darius schüttelte den Kopf. »Das ist alles Unsinn! Weder Joost noch die Mädchen würden einen Mord begehen!«
Peter nickte. »Warum sollte Professor Amber den Sohn des Gemüsegärtners umbringen? Vermutlich kannte er nicht einmal Lucianos Namen. Die Mädchen …« Er zögerte plötzlich. Bettina war mit Luciano ›gegangen‹. Und wurden nicht die meisten Verbrechen von Menschen aus dem engsten Umfeld des Opfers verübt, aus überaus persönlichen, oft intimsten Motiven?
»Ihr fangt es völlig falsch an«, stellte Claudia fest. »Ihr müsst vom Opfer ausgehen, von Luciano! Wer war er, mit wem hatte er zuletzt Kontakt, wem könnte sein Tod etwas nützen?«
Beide Männer sahen sie verblüfft an. »Fernseh-Kriminalistik?«, fragte Darius ironisch. »Wir packen alles ganz logisch an und nach spätestens zwei Stunden geht der Täter seinem gerechten Schicksal und einer gemütlichen Gefängniszelle entgegen?«
»Irgendwie hat signora Trentini Recht«, meinte Peter. »Es muss nicht jemand vom Paradiso gewesen sein. Jemand könnte Luciano in der Nacht gefolgt sein und ihn hier ermordet haben, um den Verdacht von sich weg aufs Paradiso zu lenken.«
»Na, klasse.« Darius warf seinen Block beiseite. »Dann kann ich statt meiner Liste genauso gut das Telefonbuch von Cecina verwenden! Was glauben Sie, wie viele Leute der Gemüsejunge gekannt hat?«
Sie schwiegen alle. Schließlich stand Claudia auf. »Apropos Buch: Hier haben Sie die Materialien über Mutismus. Vielleicht hilft es Ihnen, sich abzulenken.« Sie legte die Bände auf die Bank und Darius betrachtete sie mit leisem Schauder. »Ich weiß nicht, ob ich den Kopf habe, den Kram zu lesen.«
Peter blickte auf und sah, dass die Ablehnung Claudia verletzte, obwohl sie mit einem Lachen darüber hinweggehen wollte. »Wenn Thanner nicht dazu kommt«, sagte er rasch, »geben Sie die Bücher einfach mir.« Leiser setzte er hinzu: »Ich finde bestimmt ausreichend Zeit in diesem Sommer.«
Claudia wollte eben ihre Haustür aufsperren, als sie den Jungen entdeckte, der sich an die Wand presste, stocksteif, während ihre Kanaan-Hunde ihm sprungbereit gegenüberlagen, zwischen den Lorbeerbüschen. In der Rechten hielt der Junge eine Handvoll der Erdbeeren, die Enrico, ihr Faktotum für alles, in den Beeten hinter dem Haus zog; vermutlich hatten die verspielten Hunde sich an ihn herangeschlichen, während er sich die Früchte schmecken ließ.
»Du bist Thanners Junge, non è vero?«, sagte sie und wunderte sich, wo er herkam. Ihr eigenes Grundstück lag mindestens drei Kilometer von Darius’ Pferdehof entfernt und fünf Kilometer vor Cecina, ein wenig abseits der Straße nach Volterra, in einer Einsamkeit, die sie besonders nach hektischen Arbeitstagen in der Praxis schätzte. Als die Hunde sie freundlich mit dem Eindringling sprechen hörten, gaben sie ihren Wachposten auf, rannten zu ihr, um sie zu begrüßen, aber der Junge rührte sich nicht vom Fleck, und sie musste an die Geschichte von Lots Weib und der Salzsäule denken.
Sie wollte ihm etwas Beruhigendes sagen, erinnerte sich daran, dass er wenig Italienisch und sie kaum Deutsch konnte. »Hai sete?«, fragte sie endlich, nach einem Blick auf seinen wirren, verschwitzten Haarschopf, und als er nicht begriff, versuchte sie es international: »Coca Cola?«
Sie war nicht sicher gewesen, ob er sich ins Haus trauen würde, doch plötzlich stand er im Wohnzimmer, vor dem Rattenkäfig, in dem Monello munter an den Gitterstäben turnte, und erst jetzt, als Claudia ihn so nah wusste und zugleich begriff, dass sie ganz allein mit ihm war, musste sie mit plötzlicher Furcht daran denken, dass der Junge möglicherweise Thanners Hund vergiftet und den armen Luciano Pozzini erstochen hatte.
Gewaltsam zwang sie den Anflug von Furcht nieder, ging in die Küche, um Getränke zu holen. Als sie mit einem Tablett wiederkam, hatte sich der Junge neben die Tür zurückgezogen, drückte sich noch enger an die Wand als draußen und starrte zu Boden, auf seine staubbedeckten Turnschuhe.
»Weiß signor Thanner, dass du hier bist?« Natürlich nicht, dachte sie gleich darauf, und während sie Parmaschinken aufschnitt und Olivenöl auf panini träufelte, fragte sie sich, ob Thanner überhaupt merkte, dass der Junge fort war.
»Sie müssen ihn abholen.« Sie hatte ihm die Bücher gebracht, die er mit vorsätzlicher Faulheit ignorierte; sie würde bestimmt an diesem Tag nicht ein zweites Mal zum Paradiso fahren!
»Wieso ist er überhaupt bei Ihnen?« Thanners Stimme klang verwirrt; sie hatte ihn nur über Handy erreichen können und nicht die geringste Ahnung, wo er stecken mochte.
»Fragen Sie ihn selbst, aber holen Sie ihn!« Rasch legte Claudia den Hörer auf, erfüllt von Triumph. Jetzt legte sie die Spielregeln fest und er hatte gefälligst zu parieren!
Das Triumphgefühl verflüchtigte sich, als zwei Stunden verstrichen, und noch immer kein Pferdeschädel-verschandelter Rover vor ihrem Haus hielt. Sie versuchte es erneut per Handy, doch er hatte seins ausgeschaltet, und ihr blieb nichts anderes übrig, als seine Mailbox zu beschimpfen und damit seinen Wortschatz an italienischen Vulgärausdrücken zu bereichern.
Der Junge hockte auf ihrer Couch und fütterte Monello mit Körnern, doch sobald sie sich bewegte, fuhr sein Kopf herum und er starrte sie an, mit diesem eigentümlich lauernden Blick, der alles bedeuten konnte, von Furcht über Wut bis zu – Mordlust? Allmählich wurde es Claudia unheimlich, mit dem stummen Jungen allein zu bleiben, während draußen die Nacht hereinbrach. Schließlich nahm sie das Telefonbuch und suchte eine Nummer heraus.
»Signor Selmann?« Wenigstens Peter war zu Hause, allen Göttern seiner Etrusker sei Dank! In schnellem Italienisch sprudelte sie die Geschichte heraus: Wie Darius den Jungen abholen wollte und nicht kam, wie im Paradiso niemand ans Telefon ging.
»Ich nehm ihn mit zu mir.« Peter war sofort gekommen. Möglicherweise hatte der Junge das Messer dabei, nicht auszudenken, was Claudia Trentini in der Nacht in diesem einsamen Landhaus passieren konnte, wenn Ken ausrastete aus irgendeinem dieser Gründe, die nur er wusste! Überraschend friedlich stieg der Junge ein, fuhr mit nach Cecina.
»Hier kannst du schlafen.« Peter führte ihn in Emilios Zimmer, seltsam unsicher. Sollte er von dem Messer anfangen und einen neuerlichen Angriff riskieren? Oder sollte er Darius’ Beispiel folgen und den Jungen einfach über Nacht einsperren, in Sicherheitsverwahrung nehmen, gewissermaßen? Nein, das war entschieden nicht seine Methode, ganz abgesehen davon, dass es ohnehin nicht viel nützen würde, denn seine Fenster waren nicht vergittert und er wohnte im Erdgeschoss.
»Das Messer, Ken«, sagte er, während er die Kissen aufschüttelte. »Leg das Messer einfach ins Bad, okay? Oder in die Küche. In diesem Haus gibt es nichts, wogegen du dich mit einem Messer wehren müsstest.«
Der Junge starrte ihn an, die blutleeren Lippen ein schmaler Strich. »Möchtest du etwas essen oder trinken?«, fragte Peter übergangslos. Ken schüttelte den Kopf. Peter schaltete ihm den Fernseher an und setzte sich wieder an seine Tonscherben. Feine Art, sich den Sommer zu vertreiben, wirklich. Kaputte Töpfe anderer Leute zu kitten, kaputte Kinder anderer Leute zu hüten!
Plötzlich merkte er, dass er nicht mehr allein war. Der Junge stand neben ihm, blickte auf die Tonfragmente, die dichten Brauen zusammengezogen. »Das sind etruskische Vasen«, erklärte Peter. »Ich versuche, aus den Bruchstücken die ursprüngliche Form zu rekonstruieren. Wie eine Art 3D-Puzzle. Weißt du, wer die Etrusker waren? Sie lebten in dieser Gegend, lange, lange vor unserer Zeit, noch vor den Römern.«
Mit einem Mal griff der Junge in den Scherbenhaufen. Peter wollte ihn hindern, fürchtete, dass er etwas kaputtmachen könne, doch Ken setzte die Scherbe genau an die richtige Stelle des Gefäßes.
»Exakt, Ken! Aber wir müssen sie erst säubern.« Er zeigte dem Jungen, wie er die Scherben mit weichen Bürsten und Pinseln vom Staub und Schmutz der Jahrhunderte befreite, und schließlich saß Ken neben ihm und sie arbeiteten gemeinsam, während Peter von seiner Ausgrabung bei Populonia und von den Etruskern erzählte. Von den frühen Anfängen der etruskischen Kultur im 8. Jahrhundert vor Christus. Von dem Zwölfstädtebund und dem zentralen Heiligtum in Volsinii. Von der Vielzahl etruskischer Gottheiten: dem bärtigen Obergott Tinia, der wie Zeus Blitze schleuderte, wenn ihn die Menschen verärgerten, und der deshalb außer mit Zepter und Speer oft mit einem Bündel Blitzstrahlen dargestellt wurde. Von den Sonnengöttern Usil und Cavtha. Von Selvans, dem Gott der Natur und des Waldes, der in Grabmalereien gern als Fabelwesen – halb Mensch, halb Ziege – auftauchte, und von Turan, der geflügelten Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit. Von den Versuchen der Etrusker, den Willen der Götter aus dem Vogelflug oder der Leber von Opfertieren zu deuten. Und während er redete, immer mehr in seinem Thema aufging, vergaß er Zeit und Gesellschaft um sich herum.
Als sie lange nach Mittemacht aufstanden, um ins Bett zu gehen, blieb Ken plötzlich wie angewurzelt vor dem bronzenen Nachguss einer überlangen, dünnen Statue in Peters Regal stehen.
»Das Original stammt ebenfalls von den Etruskern«, sagte Peter, erfreut über das Interesse des Jungen. Emilio interessierte sich selten für etwas anderes als sein Essen und seine Computer-Ballerspiele.
Er merkte, dass der Junge etwas fragen wollte, die Worte nicht herausbrachte.
»Warum die Proportionen derart unrealistisch überlängt sind? Genau weiß das niemand, denn die Etrusker hatten zwar ihre eigene Schrift, haben aber leider äußerst wenige geschriebene Zeugnisse hinterlassen. Vielleicht hängt es mit den Schatten der Menschen zusammen: Schatten, die man am Abend sieht, überlange Schatten. Vielleicht wollten die Etrusker damit die Vergänglichkeit der Menschen ausdrücken, zeigen, dass die Menschen nicht viel beständiger sind als ihre Schatten, die jede Nacht sterben.
Das Original dieser Statue befindet sich übrigens in Volterra, von eurem Pferdehof sind das ungefähr fünfunddreißig Kilometer. Wir könnten eventuell mal hinfahren.«
Als Peter ihn alleingelassen hatte, zog Ken vorsichtig den Schlüssel von der Außenseite der Tür ab und schloss sich ein. Erst dann, als er absolut sicher sein konnte, dass niemand ihn stören würde, holte er die kleine Statue aus der Hosentasche. Ein Etrusker. David war ein Etrusker! Jetzt, wo er mehr über den merkwürdigen Fund wusste, fühlte Ken sich dem kleinen Bronzejungen enger verbunden als zuvor. Er stellte die Statue auf den Nachttisch, legte das Messer griffbereit daneben. Peter Selmann musste verrückt sein zu glauben, dass er die Waffe freiwillig hergeben würde!