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2. Kapitel

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»Wir sind da.« Darius’ Stimme verriet Erleichterung und Freude. Er liebte diesen ersten, herrlichen Blick auf sein toskanisches Paradiso, auf das helle, aprikosenfarbig-freundliche Wohnhaus mit dem einladend breiten Aufgang aus weißem Carrara-Marmor, den weißen Fensterumrandungen, dem auf weißen Säulen ruhenden, Schatten spendenden Vordach. Selbst die weißlackierten, zierlich geschmiedeten Fenstergitter, die Raffaela aus Angst vor Einbrechern an der Frontseite hatte anbringen lassen, störten ihn kaum mehr, seit die Geranien in ihren Kästen davor so üppig blühten. Und dann der Vorhof mit den schirmförmigen Pinien und den riesigen Blütenwolken von weißem und rotem Oleander! Rechts der Stall aus dem malerischen ockerfarbenen Naturstein Italiens, links das frisch renovierte Gästehaus, wie das Wohnhaus im toskanischen Stil gehalten, der Eingang von Marmorsäulen flankiert, beinahe wie die berühmte Villa Mansi bei Lucca und ebenfalls mit einer Überfülle Geranien geschmückt. Klar, die aufwändige Renovierung und die Anlage des geschwungenen Pools hinter dem Haus hatten astronomische Summen Lire verschlungen, viel mehr als die Brandversicherung gezahlt hatte, aber er würde alles tun, sich eine ertragreiche Saison zu sichern, damit die Gelder fleißig zurückströmen, seine leere Kasse erneut füllen konnten … Und das Paradiso, sein Paradies, würde gedeihen wie der Garten Eden!

Bewusst langsam ließ er den Wagen die letzten Meter der zypressengesäumten, gekiesten Auffahrt hinaufrollen. Im Schatten der beiden größten Pinien dösten wie fast immer zwei oder drei Pferde, und irgendwo – da schossen sie schon herbei, hatten das Geräusch des Motors erkannt: Romeo wild bellend vor ausgelassener Freude, Julia, die bedächtigere, das verdrückte Boxergesicht zu einem Begrüßungsgrinsen breitgezogen.

»Hallo, ihr beiden!« Unter dem Ansturm der drahtigen Tiere wäre Darius, als er aus dem Wagen stieg, fast gestolpert, kraulte ein herabhängendes Spitzohr hier, klopfte ein Stück rehfarbenes Fell dort, spürte die vertraute Wärme der feuchten, dicken Zungen an der Hand.

Erst, als der Aufruhr der Hunde einer der Hitze des Tages angepassten, ruhigeren Freude gewichen war, bemerkte Darius, dass Ken noch immer im Auto hockte, stumm und allzu offensichtlich verschreckt.

»Sie tun nichts.« Lachend griff Darius nach den Halsbändern. »Steig aus, oder willst du im Wagen übernachten?«

Die Hunde drängten auf den Fremden zu, hechelnd; Ken, eben aus dem Range Rover geklettert, wich zurück, eine Spur zu hastig, und Romeo begann erneut zu bellen.

»Still! Und Platz!« Den Ton verstanden sie, gehorchten sofort. Ken blieb trotzdem neben der Autotür, jederzeit bereit, in die Sicherheit des Wageninnern zurückzuflüchten.

»Sie tun wirklich nichts!« Darius wurde ungeduldig, begriff nicht, wie sich der Junge vor den beiden gutmütigen Boxern fürchten konnte, die schwanzwedelnd am Boden lagen, auf das erlösende Wort aus ihres Herrn Mund wartend. »Nimm deinen Krempel und lauf ins Haus.«

Noch bevor sie die Eingangstreppe erreichten, kam ihnen ein schlanker Mann so um die Mitte der vierzig in perfekt geschnittener, sandfarbener Reithose, schwarzen Stiefeln und weißem Hemd entgegen, hob die Hand in Augenhöhe, und Darius schlug scherzend dagegen. »Alles friedlich im Paradies?«

»Wie sonst?« Klare, graue Augen richteten sich prüfend auf Ken. »Das ist der Junge?«

Darius nickte. »Ken, das ist Joost Amber. Ein hochkarätiger Professor für Physik und – wenn ich auch nicht genau weiß, wie ich zu der Ehre komme – mein Freund. Er verbringt jeden Sommer hier, um sich wenigstens einmal im Jahr von seinen Quarks und Quasaren zu erholen.«

Der Professor grinste. »Ich wollte gerade ausreiten«, er warf einen Blick auf Ken, der keinerlei Miene zeigte, auf die Vorstellung einzugehen, »da hab ich deinen Wagen gesehen.«

»Wen nimmst du?«

»Concho. Hannes meint, er brauche Bewegung.«

»Reitest du allein?«

»Sabina hat gefragt, ob sie mitkommen kann, nachdem du sie ja nicht allein losziehen lässt.«

»Um Himmels willen«, murmelte Darius. »Ich würde mir den Zorn ihres Vaters für alle Ewigkeiten auf meine geplagten Schultern laden! Nimm sie ruhig mit, aber sie soll nicht Vionella reiten, sie hat eine schlechte Phase, zumindest hat Hannes am Telefon so was angedeutet.«

»Ich wusste gar nicht, dass der Haflinger auch gute haben kann.« Joost grinste erneut, schlug mit der Reitgerte leicht gegen den Stiefel. Ken warf einen besorgten Blick auf die Hunde, aber sie hatten sich in den Schatten der Pinien zurückgezogen, wo sie gemütlich an irgendwelchen scheußlichen Knochen kauten.

Darius konnte nicht schlafen. Lydia, seine Göttin, launenhaft wie Götter zu sein beliebten, hüllte sich weiterhin in beleidigtes Schweigen; außer der übertrieben fröhlichen Stimme ihres Anrufbeantworters – Hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Nummer und wenn mir danach zumute sein sollte, rufe ich zurück! – hatte er nichts von ihr gehört oder gesehen.

Unter normalen Umständen hätte er den Wagen genommen, wäre ohne Vorankündigung bei ihr eingefallen und hätte jeglichen echten oder vorgetäuschten Widerstand zwischen ihrer silberglänzenden Satinbettwäsche fortgeliebt. Aber heute … Es war Kens erste Nacht auf der Ranch und obwohl Darius den Schlüssel des Zimmers zweimal umgedreht hatte und Raffaelas schmiedeeiserne Gitter die Fenster des Jungen verbarrikadierten, hegte Darius die nebelhafte Befürchtung, dass irgendetwas passieren könne, die von Dr. Klugscheiß-Reimer mit solchem Enthusiasmus prophezeite Katastrophe. Hätte er Romeo und Julia im Hof lassen sollen, wie gewöhnlich? Doch die Hunde hatten ihn den gesamten Abend auf Schritt und Tritt verfolgt, bis er ihnen schließlich das seltene Privileg gestattete, auf dem Teppich vor seinem Bett zu nächtigen, wo er am nächsten Morgen mit nackten Füßen in ihre Speichelsabberpfützen treten würde.

Die Tür schwang so leise auf, dass Ken, im Halbschlaf, es beinahe nicht gemerkt hätte. Eine Gestalt schob sich in den Raum, die Silhouette bedrohlich dunkel im fahlen Licht der Nacht. Zeit und Ort verwirrten sich: Krumm sah nach, ob er irgendeinen irrationalen Grund fand, ihn zu schlagen …

Die Angst als eiskalten Block im Magen, die Augen bis auf einen winzigen Spalt unter den Lidern geschlossen und die Fäuste zum Angriff geballt, musste Ken sich zwingen, nicht die Luft anzuhalten, sondern weiterzuatmen, so langsam und gleichmäßig, wie es von einem Schläfer erwartet wurde.

Darius blieb vor dem Bett stehen, blickte auf den wirren Haarschopf des Jungen hinab, lange Zeit. Welche verrückte Laune hatte ihn geritten, als er den Jungen mit sich nahm? Doch aus der Laune erwuchs Verantwortung und er war nicht sicher, ob und wie lange er sie zu tragen gewillt war … Allein die Fahrt über die Alpen und die Nacht im Motel an der Seite dieses sich jeglicher Kommunikation verweigernden Teenagers hatten seine Nerven derart zermürbt, wie er es sich nie hätte vorstellen können. Sehr leise, um den Jungen nicht zu wecken, verließ er das Zimmer und kehrte ins Bett zurück.

Ken lag stocksteif, reglos, weiterhin sorgsam den Atem regulierend. Was hatte Darius Thanner gewollt? Irgendwelche Perversitäten? Er verspürte einen sauren Geschmack im Mund, es würgte ihn, er setzte sich auf, legte sich die Decke um die Schultern, die Tür keinen Augenblick aus den Augen lassend. Würde Thanner zurückkommen? Die nagende Furcht wollte nicht weichen. Und dann, plötzlich, begriff er, warum: Die Tür war nicht mehr abgeschlossen! Absichtlich, weil Thanner noch etwas vorhatte, wiederkommen würde? Oder war der Typ schusselig, hatte es einfach vergessen?

Kens Mund schien wie ausgedörrt, sein Herz raste, als er barfuß zur Tür schlich, zu horchen versuchte, während das Blut überlaut in seinen Ohren rauschte und die Angst ihm fast die Besinnung raubte. Doch draußen im Gang schien alles still. Totenstill. Trügerisch still?

Was war mit den geifernden Kötern? Hatte Thanner nicht gesagt, sie würden diese Nacht ausnahmsweise in seinem Zimmer schlafen? Ausnahmsweise! Das bedeutete: Wenn er fort wollte, musste er es sofort tun, heute! Ken schluckte. Er befand sich in einem fremden Land, in dem eine unverständliche Sprache gesprochen wurde, wo sollte er hin? Egal, einfach weg!

Er hatte nichts ausgepackt, außer Pyjama und Zahnbürste, nahm seine Tasche mit Händen, die einem Roboter zu gehören schienen, schlich die Treppe hinunter, jeden Moment bereit zu erstarren in der Furcht, jemandem zu begegnen, bemerkt zu werden.

Und endlich stand er draußen, roch den Duft der Pinien, die Schwere der toskanischen Nacht. Über seinem Kopf funkelten Sterne, kristallklar, tröstlich-vertraut, denn es waren die gleichen, die er vom Fenster des Heims aus angefleht hatte, ihm zu helfen, wenn Krumms Name auf dem Dienstplan stand …

Und wieder wählte er einen Stern für sich, einen, der besonders hell strahlte, und ganz automatisch setzten sich seine Beine in Bewegung, folgten dem Stern, seinem Stern, auf dem, wie Randolf versprochen hatte, die Rose wartete und vielleicht das Schaf …

»Still, verdammt! Lass mich schlafen!« Darius registrierte Romeos kurzes Bellen kaum, erschlagen von der Anspannung der nervig-langen Fahrt mit dem beharrlich schweigenden Jungen, wollte endlich seine Ruhe, nicht mehr nachdenken, sich nicht mehr fragen, wie es am Morgen weitergehen solle.

Romeo knurrte. Verdammtes Vieh, dachte Darius, warum hab ich dich nicht im Hof gelassen? Entschlossen, fast trotzig, hielt er die Augen geschlossen, hörte dennoch, wie der Hund aufsprang, zur Tür lief, witterte. Auch Julia erhob sich, die ewige Zweite, folgte dem Gefährten.

Verzweifelt versuchte Darius, das erregte Hecheln zu überhören; je fester er beschloss, die Viecher zu ignorieren, desto wacher wurde er. Was konnte die Hunde beunruhigt haben? Einbrecher? Wenn ein fremder Mordbube durchs Haus schliche, würden sie sich die Seele aus den krummbeinigen Leibern bellen! Vielleicht irgendetwas in den Ställen? Bloß nicht wieder ein Feuer wie letzten Sommer, als dieser Trottel Signor Valcello seine Kippe ausgerechnet in das staubtrockene Gras neben dem Gästehaus geschmissen hatte! Beinahe wäre der Stall durch den Funkenflug mit abgebrannt! Der Gedanke an die Pferde brachte Darius endgültig auf die Beine. Ein geflüsterter Befehl an die Hunde, Julia schlich ins Zimmer zurück; Romeo folgte seinem Herrn in den Gang hinaus.

Darius’ erster Blick galt dem Himmel. Kein Feuerschein, kein Rauchgeruch. Wenigstens etwas. Aber Romeo blieb unruhig, rannte zu Kens Zimmer, schnüffelte an der Tür.

»Der ragazzo bleibt hier. Zumindest für eine Weile.« Darius gähnte. »Sag bloß nicht, ihr habt mich geweckt, weil der Junge sich im Bett umgedreht hat, sonst schmeiß ich euch sofort in den Hof raus!«

Er fasste nach der Tür, besann sich, dass er den Schlüssel brauchte, in genau dem Moment, als sie sich mühelos öffnen ließ. Verdammt! Er musste vorhin vergessen haben abzuschließen! Und das Bett war leer!

Die Nacht dehnte sich weit und angenehm lau, zumindest für jemanden, der gerade einem zu kühlen, verregneten bayrischen Frühjahr entkommen war. Ken hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ihn sein Stern führte, wohin er lief. Doch trotz Angst und Aufregung war das Gefühl der Freiheit süßer als die Nacht, großartiger als die Sterne. Er marschierte über Hügel, roch das Aroma würziger Kräuter, deren Namen er nicht kannte, fühlte sich eigenartig geborgen unter diesem samtigen Himmel, genoss das Gefühl der Steine des kleinen Feldwegs unter den Sohlen seiner Turnschuhe. Ein Gefühl einer anderen Welt, des Lebens außerhalb von Mauern. Krumm und Reimer verblassten zu grauen Spektren, zu fern und zu schwach, um ihn hier zu malträtieren; zum ersten Mal seit Jahren fiel jegliche Furcht von ihm ab, schmolz unter der Kuppel des italienischen Himmels dahin.

Und dann, urplötzlich, das Bellen! Trügerische Sicherheit, falsch wie die Menschen, mit denen er in seinem bisherigen Leben zu tun gehabt hatte! Im Nu war die Panik zurück, würgte ihn beinahe. Der Hund irgendeines Bauern? Ein streunender Köter? Ken hatte sich sein Leben lang vor Hunden gefürchtet, seit er einmal, bei einem der wenigen Ausflüge, an denen er hatte teilnehmen dürfen, gesehen hatte, wie sein Zimmergenosse Georg von einem stinkenden, speicheltriefenden Riesenköter ins Bein gebissen wurde …

Der Hund bellte wieder, der Laut schien näher als zuvor. War das verdammte Vieh auf seiner Spur?! Warum hatte er kein Messer mitgenommen, warum war er so kopflos geflohen? Mit wilden Augen sah Ken um sich: Gab es nirgends einen Stock, irgendetwas, mit dem er sich im Notfall verteidigen konnte?

Erneut das Bellen, schon ganz nahe! Aber woher? Die Nacht schützte ihn nicht mehr, die Dunkelheit verwandelte sich in Bedrohung; war da nicht eine Bewegung hinter den Zypressen, huschte dort nicht ein Schatten über das Feld?

In panischer Angst griff Ken den nächstbesten Stein, hörte das Hecheln, ein seltsames Trommeln, ließ die Tasche fallen, stürzte in Panik los, wandte sich um, sah einen riesenhaften Schatten hinter sich aufwachsen, den Feldweg entlang kommen. Ohrenbetäubendes Bellen ließ ihn schneller rennen, fast bis zum Bersten der Lungen, dann spürte er einen Schlag im Rücken, stürzte ins Feld, drehte sich um – und sein Herzschlag setzte aus!

Fletschende gelbe Hundezähne nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Heißer, übelriechender Atem, der beinahe einen Brechreiz auslöste. Der Junge wagte nicht, sich zu bewegen, als der kräftige Hund plötzlich die Vorderläufe auf seine Brust stellte, ihn anknurrte, ein grollendes Knurren, von irgendwoher tief aus dem massigen Körper, warnend, böse. Ken begann zu zittern, spürte schmerzhaft einen Stein, der sich ihm in die Hüfte bohrte, fragte sich, wo der andere Stein, den er als Waffe benutzen wollte, hingekommen war; hatte er ihn beim Sturz verloren? Tränen stiegen ihm in die Augen, als er daran dachte, dass die eben gewonnene Freiheit nun wieder verloren war; die Angst und der plötzliche Drang, auf die Toilette zu gehen, wurden übermächtig, löschten schließlich jede andere Empfindung aus.

Nur aus den Augenwinkeln gewahrte der Junge, wie sich der riesige Schatten zur Silhouette eines Pferdes materialisierte, und auf dem Pferd – saß Darius Thanner. Der Mann sprang ab, mit der Gewandtheit des geübten Reiters, doch er rief den Hund nicht zurück, blieb neben dem Pferd stehen. Ken sah das Licht des Feuerzeugs aufblitzen, als er sich eine Zigarette anzündete, roch den Duft des Tabaks, den eine leichte Brise mit dem üblen Atem des Hundes vermischte.

Warum pfiff der seinen Köter nicht zurück, verdammt?! Kens Lippen waren trocken; vage dachte er, dass er den anderen darum bitten müsse – aber er konnte nicht sprechen, brachte wie immer keinen Ton heraus, konnte nur heulen. Lautlos, reglos, um die Bestie nicht zu reizen, die erneut zu knurren begann, die Lefzen zurückzog, um die gelblichen Reißzähne weiter zu entblößen, grässliche, gebogene Zähne, stark genug, um Knochen zu zermalmen, so nah, dass Ken nicht wagte, die Augen zu schließen. Ruf den Hund zurück, bitte, egal, was du vorhast, aber ruf den Scheiß-Hund zurück! Er hatte das Gefühl, das Wasser höchstens noch Sekunden halten zu können, er würde sich in die Hose pinkeln wie sonst Georg, hier vor Thanners Augen … Hilflos tasteten seine Finger umher, nach einem neuen Stein, aber ehe er das grausliche Vieh erschlagen könnte, würde es ihn in Stücke reißen, so sicher wie nur was …

Darius zog heftig an der Zigarette, sah das Ende aufleuchten wie ein Signal, Messgerät seiner Erregung. Romeo hielt den Jungen in Schach, gut so! Darius wagte nicht gleich, den Hund zurückzurufen, aus Angst, sich dann zu vergessen, den Jungen an Ort und Stelle durchzuprügeln. Er war nicht einfach wütend, er raste innerlich vor Wut, seiner persönlichen Explosionsgrenze gefährlich nahe. Da hatte er sich die Mühe gemacht, den Jungen aus dem Heim zu holen, seinetwegen sogar Lydia versetzt, ihn mit hierher geschleppt, auf den Pferdehof, alles in der besten Absicht – und der undankbare Kerl nutzte die erste Gelegenheit, um wegzurennen! In einer Nacht, in der er weder seine Freundin hatte aufsuchen noch schlafen können!

Wieder inhalierte er kräftig, spürte, wie das Nikotin seine Nerven allmählich beruhigte, eine Überreaktion verhinderte.

»Romeo, zurück!« Seine Stimme klang hart und scharf, doch zumindest hatte er sich wieder unter Kontrolle. Der Junge rappelte sich auf, stolperte ins Feld, am Reißverschluss seiner Hose zerrend. Darius rauchte schweigend weiter, Saschas Zügel lose in der Hand.

Erst als der Junge sich wieder umdrehte, den Kopf eingezogen, ließ Darius die Riemen fallen; der Tekkiner-Hengst war darauf dressiert, bei hängendem Zügel stehen zu bleiben, wo immer er stand.

»Warum wolltest du abhauen? Ich hab dir nichts getan, verdammt!«

Der Junge stand nur da, das blasse Gesicht gespenstisch fahl im Licht der Nacht, die Arme hängend, den Kopf gesenkt.

»Warum, verdammt? Ich hab dich von dort weggeholt!«

Ken rührte sich nicht, doch Darius hatte das Gefühl, dass er nicht mehr weinte. »Verdammter Idiot! Ich rede mit …!«

Er kam nicht weiter; der Junge sprang ihn an wie ein mordgieriges Raubtier die Beute, gerade noch rechtzeitig sah Darius den Stein in seiner Rechten, riss den eigenen Arm hoch, reflexartig, stürzte unter der Wucht des Angriffs zu Boden, hörte den Atem des Jungen, laut und keuchend, als er sich wehrte, zurückschlug, härter, als der Junge überhaupt zuschlagen konnte, hörte Romeos aufgeregtes Bellen, Saschas Schnauben, als der Hengst zurückwich, die Hufe nur Zentimeter von Kens Körper entfernt.

Ein Schmerzensschrei; der Junge ließ von ihm ab, rollte zur Seite, nach dem einzigen Schrei wieder stumm, und als Darius sich aufrappelte, sah er den muskulösen Boxer am Bein des Jungen hängen, in die Hose verbissen.

»Romeo, aus!« Der Hund gehorchte sofort, ebenso gut geschult wie das Pferd, aber Kens Hose hing in Fetzen, der Junge heulte vor Schmerz.

»Zeig her!« Darius hatte die Stablampe aus der Satteltasche geholt, leuchtete auf die Wunde. Sie war nicht schwer; Romeo hatte den sechsten Sinn gehabt, relativ vorsichtig zugepackt, doch Ken schien gelähmt vor Furcht, bewegte sich nicht, als Darius ein Taschentuch um das blutende Bein wickelte.

»Das hast du davon! Hast du ernsthaft geglaubt, der Hund guckt zu, wenn du auf mich losgehst wie ein durchgeknallter Düsenjet?!« Darius schimpfte, weniger aus Wut auf Ken als vielmehr, um sich abzuregen. »Mach das nicht noch mal, sonst kannst du gleich die nächste Tracht Prügel beziehen, ist das klar?!«

Er stand auf, zerrte Ken unsanft mit auf die Füße. »Los, steig auf den Gaul!«

Der Junge wich zurück, blankes Entsetzen in den Augen, zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Ärmel darüber.

»Willst du laufen? Mit dem Bein? In den Sattel mit dir! Sascha ist völlig ruhig und ich geh nebenher!«

»Was hat er am Fuß?« Joost Amber blickte Ken nach, als der, das halb gegessene Brot auf dem sonnenfarbigen Tischtuch lassend, mit mürrischer Miene aus dem Frühstücksraum hinkte. Da aufgrund der eben erst abgeschlossenen Renovierung außer den beiden jungen deutschen Mädchen und Professor Amber nur Pferdewirt Hannes, der Koch Ignazio und dessen Frau Maria im Gästehaus wohnten, kam Darius zum Essen schon gewohnheitsmäßig ebenfalls in die Pension hinüber. Bettina und Sabina – typische Teenager – hatten sich an diesem Morgen noch nicht gerührt und Joost fand, dass auch Darius reichlich übernächtigt wirkte. Hatte er sich in der Nacht mit seiner Lydia getroffen?

»Romeo hat ihn gebissen. Er wollte abhauen.« Darius schüttete seinen caffè macchiato hinunter und schenkte gleich den zweiten Becher ein. »Verdammt, Joost, sag mir, was ich mit dem Jungen anfangen soll!«

»Wär’s nicht besser gewesen, du hättest dir das früher überlegt? Bevor du ihn über die Alpen gekarrt hast, bloß weil dich sein Psychodoktor nicht halb so nett angelächelt hat wie deine Göttin Lydia?«

»Natürlich wär’s gescheiter gewesen! Aber was hilft mir das jetzt?!«

Angesichts der offenen Verzweiflung des Freundes verspürte Joost eine Regung von Mitleid. »Schick ihn mit Hannes in den Stall. Für den Sommer fehlt dir doch sowieso ein zweiter Pferdepfleger, oder? Und wer arbeitet, hat weniger Zeit für dumme Gedanken! Übrigens«, der Physiker langte nach einem neuen Brötchen, »hast du ihn wenigstens zum Arzt geschafft? Tetanusspritze und all den Kram?«

»Wozu? Seine Impfungen sind bestimmt in Ordnung, dafür hat das überperfekte Heim gesorgt.«

Joost zog die Brauen hoch, widersprach jedoch nicht. »Und dann musst du ihm Unterricht geben – oder geben lassen, damit er schnellstmöglich Italienisch lernt.«

»Er spricht ja nicht.«

»Aber er sollte es wenigstens verstehen. Oder willst du den Sommer über alle Anweisungen zweisprachig brüllen? Außerdem wird er spätestens im Herbst zur Schule gehen müssen. Weißt du überhaupt, dass es in Italien keine Sonderschulen gibt?«

Darius seufzte. Joost verbarg ein Schmunzeln; er kannte den Freund lange genug, um zu wissen, dass der impulsive Darius an all die praktischen Konsequenzen seines so spontanen Entschlusses keine Sekunde verschwendet hatte und erst jetzt zu begreifen begann, auf was er sich eigentlich eingelassen hatte.

Eine Stunde später stand Ken im Stall, in alten Stiefeln von Darius, eine Mistgabel in der Hand, als gehöre weder sie noch der Arm zu ihm.

»Ausmisten wird deine geistigen Kapazitäten hoffentlich nicht überfordern, oder?«, knurrte Hannes, der nicht verwinden konnte, dass Darius ihm, ohne erst zu fragen, den Idiotenjungen aufgedrängt hatte, der von Pferden vermutlich weniger verstand als Romeo vom Internet. »Da ist der Schubkarren, dort der Misthaufen!«

Vorsichtig spähte Ken in die erste Box. Leer, stellte er mit ungeheurer Erleichterung fest.

»Was erwartest du da drin zu finden? Dynamit? Fang endlich an, oder willst du bis zum jüngsten Tag hier rumstehen?!«

Sport hatte es im Heim zwar gegeben, Fußball vor allem, aber Ken hatte sich selten beteiligt, weil die andern ihn nicht leiden mochten, genauso wenig wie er sie. Und wenn er sich mal hatte überreden lassen, war er spätestens nach zehn Minuten mit der roten Karte rausgeflogen, weil er mit irgendwem eine Prügelei angefangen hatte oder irgendwer mit ihm … Nach einer Stunde Stallarbeit begannen ihm – untrainiert, wie er war – die Arme zu zittern, wenn er die verdammte Mistgabel bloß ansah. Lud er den Karren nicht voll genug, schimpfte Hannes ihn einen Schwächling und Drückeberger, und wenn er so viel aufpackte, wie der Pferdewirt es verlangte, verlor er ein Drittel unterwegs und Hannes schickte ihn unerbittlich zurück, alles aufzusammeln. Und immer lauerte irgendwo der widerliche Hund, die scheußliche Bestie mit dem abartigen Namen Romeo, die ihm auf Schritt und Tritt folgte, schlimmer als jeder Gefängniswärter, sodass er beständig über die Schulter spähte und dabei versehentlich zweimal die Karre an der falschen Stelle auskippte. Der zweite Köter, Julia, hatte sich beim Stalltor niedergelegt und obwohl sie still und reglos verharrte wie eine ägyptische Sphinx, fühlte er sich vom Blick ihrer gelblich-trüben Augen verfolgt, sodass jedes Mal, wenn er an dem Tier vorbeimusste, sein verletztes Bein zuckte, und ihm der Angstschweiß in die Augen rann.

»Immer noch nicht fertig?! Mach voran, du Deppenarsch, und fahr gefälligst das Brett rauf, anstatt das Zeug immer neben den Haufen zu kippen!«

Hannes steckte sich eine Zigarette an, hockte sich auf einen Strohballen und sah dem Jungen zu, der schwitzend und übernervös den vollen Karren in Zeitlupe so vorsichtig über die an den Misthaufen gelegte Planke manövrierte, als transportiere er rohe Eier, anstatt einfach mit Schwung hinaufzufahren. Sollte er sich ruhig schinden! Je eher der Kerl mit seinen mindestens zwei linken Pfoten die Arbeit hinschmiss, um so eher war Hannes ihn los!

Richtig!, dachte Hannes mit plötzlicher Erleichterung. Das ist die Lösung, die mir den Idioten am schnellsten vom Hals schafft! Ich muss lediglich dafür sorgen, dass der Junge von sich aus die Schnauze so voll bekommt, dass er in Streik tritt, dann kann Darius mir nichts vorwerfen! Und nichts war leichter, als dem andern das Leben im Stall zur wunderbar effektiven Hölle umzugestalten!

»Wenn du hier fertig bist, bring ich dir bei, wie man Pferde putzt!« Er schaffte es, die Worte fast wie eine in Aussicht gestellte Belohnung klingen zu lassen, und grinste in sich hinein, hatte längst gemerkt, wie Ken sich vor allem, was auf Pfoten oder Hufen einhertrapste, zu Tode fürchtete. Und wenn er an den Ponyhengst Pepe dachte … Pepe glaubte beim Putzen immer, einen kleinen Rangordnungskampf ausfechten zu müssen, aber er durfte nicht gleich mit Pepe anfangen, für den Fall, dass Darius vorbeischaute. Nein, besser war es, ihm heute vielleicht Vionella zu geben, die beim Putzen wie eine Eins stand, so verrückt sie sich auch in der Bahn benehmen mochte, und Pepe für morgen aufzusparen …

»Wie läuft’s, arbeitet er?« Darius Thanners hohe Silhouette verdunkelte die Stalltür; im Gegenlicht schimmerte sein grau werdendes Haar silbern, sein Gesicht lag im Schatten.

Hannes zuckte die Achseln. »Was einer wie er für Arbeit hält, nehm’ ich an.«

Ken hörte die Verachtung aus der Stimme des anderen, sie schien an den Stallwänden abzuprallen, sich zu verhundertfachen, von allen Seiten auf ihn einzuprasseln wie die Graupelschauer vom letzten Winter, eiskalt und unerbittlich hart.

Er sah Darius näherkommen, konnte die Miene des Mannes nicht erkennen, brauchte es auch nicht, spürte, wie ihm das Blut mit zweihundert Sachen in den Kopf schoss beim Gedanken an die nächste Beleidigung, pfefferte die Bürste, mit der er Neves Trog bearbeitet hatte, so heftig an die Wand, dass Pepe in der Box nebenan stieg und Vionella donnernd gegen die Rückwand ausschlug.

Ken kümmerte sich nicht darum, rannte hinaus, mit dem Fuß den Putzeimer umkickend, dass Kardätsche und Hufkratzer durch die Stallgasse flogen, hatte jedoch Romeo vergessen, der gelangweilt im Hof lag, vor sich hin dösend und dabei ständig auf eine Gelegenheit lauernd, mit lautem Gebell loszurasen.

In einer Wolke aus Staub sauste er jetzt auf den Jungen los, ein gelb-braunes Muskelpaket geballter Kraft. Ken blieb stehen wie erstarrt; der Hund tanzte um ihn herum, bellend, jaulend, springend, und dann gesellte sich Julia zu ihm, in zweiter Reihe, dumpf grollend, und Ken drückte sich an die Stallwand, wäre nur zu froh gewesen, wenn sie sich hinter ihm durch Zauberei aufgetan und ihn wieder eingelassen hätte, zurück zu den Menschen, vor denen er eben so leichtsinnig geflohen war.

»Aus!« Darius’ Stimme von der Stalltür her, träge, fast gleichgültig. Ken wusste nicht, wen er mehr hasste, den widerwärtigen Köter, den verdammten Pferdewirt mit seinem langen, fast skelettartigen, höhnischen Grinsen oder Thanner selbst mit seinem sonnengebräunten Playboygesicht und seiner grässlichen Ruhe und Überlegenheit.

»Geh rein, nimm die Bürste und mach deinen Job zu Ende!«

Ken bewegte sich im Zeitlupentempo seitwärts, nicht gewillt, den knurrenden Bestien eine einzige Sekunde den Rücken zuzuwenden. Hannes grinste stärker, schüttelte den Kopf. »Der wird nie was taugen mit den Pferden, Boss!«

»Dann lass ihn morgen Sättel putzen, die haben’s weiß Gott nötig!« Thanners Stimme verriet, dass es mit seiner Laune auf dem Nullpunkt stand. »Und räum das verdammte Gift vom Fensterbrett, ehe die Hunde oder irgendwelche Kinder damit zu spielen anfangen!«

»Ich wollt’s gerade in der Futterkammer ausstreuen. Ratten und Mäuse fressen uns ja den ganzen Hafer zusammen.« Hannes schnitt eine Grimasse hinter Thanners Rücken. Normalerweise kamen er und der Boss super miteinander aus, aber die Anwesenheit des Idiotenjungen brachte alles durcheinander!

Toskanisches Schattenspiel

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