Читать книгу Toskanisches Schattenspiel - Frauke Schuster - Страница 8
1. Kapitel
Оглавление»Das ist verrückt, vollkommen verrückt!«
Darius Thanner sah, wie der Heimleiter den silbergrauen Kopf schüttelte, fassungslos angesichts der Sturheit und des Unverständnisses dieses von Wer-weiß-wo angereisten Onkels seines Schützlings.
Ich weiß, dass es verrückt ist, dachte Darius, aber ist es nicht allein meine Entscheidung, wie verrückt ich sein will?
»Kann ich den Jungen jetzt sehen?« Bewusst modulierte er den Ton seiner Stimme so, dass der Satz eindeutig nach Forderung statt Bitte klang, und die Erleichterung, mit der Direktor Reimer den Themenwechsel registrierte, war derart offensichtlich, dass Darius ein Grinsen nur mit Mühe unterdrücken konnte.
»Kommen Sie!«
Er folgte Reimer durch einen klinisch sauberen Gang, dessen Wände mit jener Art von Gemälden geschmückt waren, bei denen es Darius’ Meinung nach völlig egal ist, wie herum man sie aufhängt; ein Farbklecks bleibt ein Farbklecks, ein Strich ein Strich, aus welcher Perspektive auch immer! Im nächsten Korridor Kinderzeichnungen, windschiefe Männchen mit eiförmigen Köpfen, aufgetriebenen Leibern und riesigen, gierigen Mündern, als ob sie den Betrachter verschlingen wollten. Ein lilafarbener Zug ohne Gleis, aus dessen Fenstern dümmlich bunte Gesichter grinsten. Ein grünes Haus, daneben winkend der Eigentümer, größer als das Dach, mit Haaren wie Marsmännchen-Antennen: Die Aliens sind unter uns … Darius wandte den Blick ab.
»Würden Sie hier warten?«
Der Raum glänzte makellos sauber, Meister Proper hoch zwei, wie die Gänge. Eine helle Sitzgruppe, ein Tisch, auf dessen staublos gläserner Platte sich ein verchromter Aschenbecher fürchtete, Asche aufzunehmen. Ein Regal mit ordentlich auf Kante gestapelten Zeitschriften und pädagogisch vermutlich höchstwertigen Kinderbüchern. Darius setzte sich nicht. Die gesamte Atmosphäre, diese Aura klinischer Sterilität, bedrückte ihn; wäre das Gebäude eine Frau gewesen, hätte er es frigide genannt. Die Sehnsucht nach seinem staubigen Paradiso, seinen fröhlich Sofas besabbernden Hunden, seiner Freiheit wurde schier unerträglich, während er durch die schmucklosen, massiven Eisenstäbe des Fensters nach draußen sah, in das, was wohl ein Garten sein sollte: Rasen im Bürstenhaarschnitt, breite, gekieste Wege, alle fünf Meter ein Papierkorb aus Lochmetall. Buchen und Birken mit gestutzten Ästen, Vögeln gleich, die nicht fliegen durften. Verregnete Blumen, die müde, aber vergebliche Anstrengungen unternahmen, Farbe in die unnatürliche Natur zu bringen.
In Darius’ Kopf stieg plötzlich eine Melodie auf, die Melodie eines seiner Lieblingslieder: Don’t fence me in … Eingesperrt sein, seiner Freiheit beraubt – das schlimmste Horrorszenario, das er sich je hatte ausmalen können …
Von irgendwoher erklang Lachen, doch es war kein frohes Gelächter, bösartig eher, in einer Art hinterhältigem Gekicher endend, gefolgt von erregtem Stimmengemurmel. Darius’ Instinkt, jene in langen Jahren der Arbeit mit Pferden und Hunden erworbene Sensibilität, warnte ihn, dass es das Beste sei, augenblicklich die Flucht zu ergreifen, jenes zu Tode desinfizierte, krankhaft verriegelte Haus zu verlassen – und er musste sich zwingen, diesen Wunsch niederzukämpfen, seine Füße fest auf dem scheußlich dunklen Linoleum stehen zu lassen. Um sich abzulenken, lehnte er sich an das mikrobenfrei chromblitzende Regal, zog das Foto aus der Brieftasche, das Foto, dessentwegen er hierher gekommen war. Das Foto einer zu früh gealterten Frau mit verhärmtem Gesicht und tief liegenden, grauen Augen. Nur an den Augen hatte er seine Schwester wiedererkannt, Regine, deren Tod so überraschend gekommen war. Brustkrebs, zu spät entdeckt …
Die Tür öffnete sich lautlos. Darius spürte, wie sich alle seine Muskeln spannten.
»Das ist dein Onkel, Ken.« Darius hörte nicht, was Heimleiter Reimer weiter von sich gab, auch nicht, wie der Pfleger, Wärter oder wie man sonst ihn nennen mochte, erklärte, er werde vor der Tür warten, für den Fall der Fälle.
Darius sah nur den Jungen, einen hoch aufgeschossenen, mageren Vierzehnjährigen mit gesenktem Kopf und mürrisch verschlossener Miene unter störrischen, dunklen Locken. Regines Sohn. Regines Vermächtnis …
»Hallo, Ken.« Mit Sicherheit keine geistreiche Begrüßung, aber es war alles, was Darius einfiel, ehe er sich nach einer unangenehmen Minute gegenseitigen Anschweigens an die Lindt-Pralinen erinnerte, die er viel zu teuer an der Autobahnraststätte erstanden hatte. »Das hab ich dir mitgebracht.« Er wollte dem Jungen die Schachtel geben, doch zu seiner Überraschung wich Ken zurück, verschränkte die blassen, knochigen Hände hinter dem Rücken. Nur für einen kurzen Moment hatte er den Kopf gehoben, Thanner angeblickt; doch der Bruchteil einer Sekunde reichte, diesen seine Augen sehen zu lassen, Augen, so tiefliegend und düster sturmgrau wie die von Regine – und zugleich Augen, erfüllt von etwas, das er nicht deuten konnte, vielleicht nicht deuten wollte – Hass?
»Magst du keine Schokolade?«
Der Junge antwortete nicht, starrte weiter stumm auf den pflegeleichten Boden.
»Ken, ich bin gekommen, um dich – äh – besser kennen zu lernen und dich eventuell mitzunehmen, zu mir, dahin, wo ich lebe.« Geflissentlich ignorierte Darius Reimers missbilligendes Kopfschütteln. »Natürlich bloß, wenn du das willst, Junge.«
»Er wird dich nirgendwohin mitnehmen!« Krumm musste an der Tür gehorcht haben, wusste jedes Wort. »Reimer wird es nie zulassen! Hörst du, er wird nie erlauben, dass du weggehst, nie! Egal, was dieser Darius Thanner oder sonst wer sagt!«
Ken sah das mörderische Funkeln in den wässrig-blauen Augen des Pflegers, die zwei steilen Zornesfalten auf der verhassten Stirn, und er verfluchte Thanner, verfluchte das Auftauchen dieses wildfremden Typs, um dessen Besuch er nie gebeten hatte, und das ihn nur in Schwierigkeiten bringen würde!
»Nirgendwohin wird er dich mitnehmen! Niemand wird dich von hier wegholen, niemand!«
Der Junge hörte die Worte, vernichtende, gehässige Worte, die er nicht hören wollte und doch immer wieder anhören musste, und er wusste, dass der Pfleger Recht hatte. Krumm behielt immer Recht, sorgte dafür, dass er stets Recht behielt, regierte den Flügel des Hauses, der seiner Oberaufsicht unterstand, mit eisernen Fäusten, Schlägen und Tritten.
Unwillkürlich wich Ken einen Schritt zur Seite.
»Du weißt, was ich will!«, drängte Krumm und griff nach seinem Arm, wobei sich seine Fingernägel wie Raubtierklauen schmerzhaft in Kens Muskeln bohrten. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Jungen wieder näher zu sich heran. »Du hast es auch andern gegeben, warum nicht mir? Du hättest es leichter.«
Ken hatte Mühe, den Brechreiz zu unterdrücken. Heute Nacht hatte Krumm Dienst und Krumm würde ihn für diesen Besuch zahlen lassen …
Darius hatte es nicht im Hotel Orion gehalten. Zwei Stunden lang streifte er durch die regennassen, nächtlichen Straßen Regensburgs, bis er sich plötzlich in dieser verräucherten Kneipe in der Ostengasse wiederfand, zwischen einem mittelmäßigen Jazz-Ensemble und einer Bar mit derart schlechter Beleuchtung, dass er die Bierpfütze am Tresen erst bemerkte, als sein Ellbogen darin badete.
»Whisky. Gleich einen Doppelten.« Es fiel schwer, in Ruhe nachzudenken, während ihn die Augen verfolgten, die grauen Augen seiner toten Schwester, erfüllt von grenzenlosem Hass. Aber warum Hass, warum? Regine war es gewesen, die jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen hatte, damals, vor dreizehn Jahren! Warum also Hass?
Normalerweise verdrängte er sämtliche Gedanken an die Vergangenheit, an jene Zeit, als Regine von zu Hause fortlief, um als Bedienung zu jobben, in einer Bar wie dieser, aber die Erinnerung kam heute dennoch, ungebeten, ganz von selbst.
Der Zorn des Vaters, als so ein Wirtschaft-Studierender Idiot seiner Schwester das Kind anhängte und sie sitzen ließ. Seine eigene Flucht nach Italien, für die sich sein Kunststudium so herrlich als Vorwand benutzen ließ, jenes Studium, das sein Vater als unproduktive Zeitverschwendung abkanzelte.
Und wieder Regine, die jenen widerlichen Mann heiratete, der sich als noch üblerer Tyrann als ihr Vater entpuppte. Er selbst, Darius, hatte den Typen ein einziges Mal bei der tristen, verhuschten Hochzeit getroffen, aber diese eine Begegnung hatte ihm für den Rest seines Lebens gereicht …
Und nun Regines Junge. Ken. In einem Heim für Geistesgestörte und andere Irre …
Der Whisky wärmte angenehm. Darius zog sein Handy heraus, erinnerte sich rechtzeitig, dass er die 0039 vorwählen musste, drückte die Tasten. Das Netz war da, der Akku ausnahmsweise voll, aber Lydia, seine Lydia, Erotik-Engel seiner viel zu kurzen Nächte, meldete sich nicht. War sie immer noch sauer, dass er sie nicht auf diese Idiotenparty in Vada begleitet hatte, stattdessen nach Deutschland gefahren war, um einen Neffen zu besuchen, den er überhaupt nicht kannte? Einen schwer erziehbaren Vierzehnjährigen, der den Großteil seines bisherigen Lebens in einer Anstalt verbracht hatte?
Ken … Krankhafte Hyperaktivität, mangelnde Impulskontrolle. Aggressivität nach außen und gegen sich selbst. Mutismus: psychisch bedingte Stummheit, möglicherweise verursacht durch den Selbstmord des von dem Jungen bevorzugten Pflegers Randolf.
Der Whisky ließ all die mysteriösen Stories, die medizinischen Details, mit denen Heimleiter Reimer ihn zu erschlagen versucht hatte, schneller in seinem Kopf kreisen als zuvor. In einem Punkt hatte dieser mit Sicherheit Recht, auch wenn er es diesem arroganten Weißkittel-Gruftie mit dem Wohlstandsbauch unter der Halbglatze nie eingestehen würde: Er hatte nicht die mindeste Ahnung, auf was er sich einzulassen im Begriff war!
Ken lehnte am Fenster. Der Regen hatte aufgehört, Wind die Wolken vertrieben. Jetzt war die Nacht klar, sternenreich, die Straße ruhig. Sein Zimmergenosse Georg, im Bett an der gegenüberliegenden Wand, knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Die weiße Scheibe des Mondes ließ das Gitter noch schwärzer, noch unbarmherziger erscheinen, das Gitter, das kalt, grausam, auf ewig trennend zwischen ihm, Ken, und der Freiheit und den Sternen stand.
Wie in jeder wolkenlosen Nacht suchte er sich einen Stern aus, einen Stern, zu dem er reisen, zu dem er fliehen wollte. Einen Stern, auf dem keine Menschen wohnten. Einen Stern, wie den vom kleinen Prinzen, von dem Randolf erzählt hatte, mit einer Rose und einem Schaf und vielleicht einem Fernseher, denn eigentlich wusste Ken nicht so recht, was er mit einem Schaf anfangen sollte …
Verdammt, jemand musste die Tür geölt haben, er hatte ihn nicht kommen gehört! Krumm. Hocherfreut darüber, dass er ihm wieder einmal Gelegenheit bot, ihn zu strafen.
»Zwei Uhr vorbei! Heißt es nicht Bettruhe um zehn?« Krumms Stimme troff von hämischer Freude und schon packte er ihn grob an den Armen, zerrte ihn aus dem Zimmer, sorgsam bedacht, Georg nicht zu wecken, er brauchte keine Zeugen, nicht einmal, wenn es Idioten waren …
»Ken hat gestern Abend Herrn Krumm angegriffen, einen der Pfleger. Wir mussten den Jungen vorübergehend – ruhigstellen. Es tut mir Leid.«
Darius hatte nicht den Eindruck, dass es Reimer wirklich bedauerte, es war lediglich eine jener bedeutungslosen Floskeln, mit denen der Heimleiter und Arzt lästige Besucher wie ihn abzuspeisen pflegte. »Ken kann einen vollen Monat ruhig und friedlich sein und dann von einer Sekunde zur anderen völlig ausflippen. Sehen Sie jetzt ein, dass es besser ist, wenn Sie ihn hier lassen, hier, wo man mit ihm und seinen – äh – Eigenheiten vertraut ist?«
»Auch woanders gibt es Heime.«
»Ja, natürlich. Aber sind Sie sicher, dass diese mit unserem konkurrieren können? Hier bekommt Ihr Neffe nicht nur ein sauberes Bett und gesunde Mahlzeiten, wir bieten zudem die Gruppen- und Beschäftigungstherapie, die Sitzungen mit dem Psychologen, den Unterricht in unserer hauseigenen Sonderschule, diverse sportliche Aktivitäten für die Freizeit … Begreifen Sie nicht oder wollen Sie nicht begreifen, dass Ken mit seiner unvorhersagbaren Aggressivität eine Bedrohung darstellt, für sich selbst sowie für andere? Deshalb hatte ihn seine Mutter ja zu uns gebracht, damals, als«, der Direktor blätterte wichtigtuerisch in einem umfangreichen Aktenordner, »damals, als er mit sechs Jahren in einem Streit um einen Tretroller ein anderes Kind derart verprügelt und getreten hatte, dass das bedauernswerte Opfer im Krankenhaus genäht werden musste. Wenn Sie Ken mitnehmen, wird es früher oder später zu einer Katastrophe kommen, das garantiere ich Ihnen hundertprozentig! Schauen Sie, das letzte Gutachten …«
Reimer redete weiter, redete sich in Begeisterung hinein, pries das Heim, Haus Manketta, nach dem freigiebigsten Sponsor benannt, in allerhöchsten Tönen, doch Darius hörte nicht mehr zu. Die Selbstgefälligkeit des Mannes missfiel ihm von Tag zu Tag mehr – und verstärkte seinen Eigensinn …
Er rief auf dem Paradiso an. »Hannes, alles okay bei euch?« Er wusste, dass er sich auf Hannes blind verlassen konnte, sich keine Sorgen um die Ranch in der Toskana zu machen brauchte, aber er konnte Lydia immer noch nicht erreichen, und hier, in dieser regentriefenden Stadt, schien Italien so unwirklich, so fern …
»Alles okay, Boss! Perla hat ein dickes Bein, aber nichts Schlimmes.«
»Ruf den Tierarzt, wenn’s nicht besser wird.«
»Wir machen Umschläge. Mit essigsaurer Tonerde. Die Mädchen haben das übernommen. – Ach ja, und ein gewisser Haflinger scheint dich zu vermissen, er ist noch unleidlicher als sonst! Gestern hat er den Elektrozaun niedergerissen und wir bekamen einen Anruf, dass sich zwei unserer Pferde auf der Straße rumtreiben.«
Als Darius auflegte, überwältigte ihn das Heimweh dermaßen, dass er am liebsten seine wenigen Sachen ins Auto geworfen und die nächste Autobahn in Richtung Süden genommen hätte. Zurück in sein geliebtes italienisches Paradies, zu seinen Hunden und Pferden. Zu Hannes, dem Pferdewirt und Freund. Und vor allem: zurück zu Lydia, deren warmen, liebeshungrigen Körper er in den kalten deutschen Nächten heftiger vermisste denn je. Wo zum Teufel steckte das Weib?! Warum, verdammt, ging sie nicht ans Telefon?
Ken wusste nicht, wie lange er im Bett dahingedämmert hatte, ausgeschaltet von den beschissenen Psychopharmaka, die der Arzt ihm gespritzt hatte. Hartmann war es, der ihn abholte, glücklicherweise nicht Krumm. Hartmann allein ließ ihn meist in Ruhe, wenn er sich ausreichend ängstlich stellte, schnell genug tat, was der verhasste Aufpasstrottel befahl.
Im Besuchszimmer warteten Direktor Reimer, dessen dickes Gesicht dunkelrot angelaufen war, und – jener mysteriöse Fremde, der angebliche Onkel. Ken schluckte, musste seine Angst nicht mehr spielen. Zu deutlich hatte Krumm ihn gestern Abend davor gewarnt, diesem Darius Thanner auch nur den leisesten Hinweis zu geben, was hier wirklich ablief. Er blieb an der Tür stehen, starrte an dem Besucher vorbei, mit möglichst unbeteiligter Miene.
»Ich habe mich entschlossen«, Thanner sprach langsam, wie sie alle mit ihm sprachen, weil sie ihn für einen Volldeppen hielten, einen Oberstübchen-Geschädigten, der einem normalen Gespräch nicht folgen konnte. »Ich habe mich definitiv entschlossen, dich mitzunehmen, Ken. Dahin, wo ich wohne. In die Toskana. Weißt du, wo das ist?«
Die Toskana. Italien. Der schiefe Turm. Ken wusste es sehr wohl. Der Fernseher im Aufenthaltsraum lief unaufhörlich, ob jemand hinguckte oder nicht, da bekam man mehr mit, als sie alle ahnten. Was er nicht wusste, war, was Thanner vorhatte. Warum wollte er einen Trottel wie ihn überhaupt irgendwohin mitschleifen? Sofort lauerte das Misstrauen in seinem Hinterkopf. Wollte Thanner – dasselbe wie Krumm? Oder brachte er ihn bloß in ein billigeres Heim? Die Frau, die sich seine Mutter geschimpft hatte, hatte oft genug über die hohen Kosten von Haus Manketta lamentiert, so, als mache sie ihn, Ken, für Reimers überteuerte Rechnungen verantwortlich. Und dieses Arschloch erst, das er nach den Wünschen der Frau Papa hätte nennen sollen … Überhaupt, was würde Reimer sagen?
»Packen Sie seine Sachen, Hartmann!«, schnappte Reimer. »Er fährt in einer Stunde!«
Ken starrte ihn an, schaffte es ausnahmsweise nicht, seine Überraschung zu verbergen. Reimer hatte zugestimmt? Für wie lange? Wie lange würde er dem Heim entkommen? Zwei Tage? Eine Woche? Sein Verstand weigerte sich, die Möglichkeit, diesem Haus und seinen Scheiß-Gittern für immer zu entfliehen, überhaupt in Betracht zu ziehen.
Hartmann zerrte ihn hinaus, zurück in sein Zimmer, wo es nach Urin stank, weil Kens Zimmergefährte Georg ins Bett gepinkelt hatte. Kens Tasche war zu klein; Hartmann stopfte alles, was er nicht hineinbekam – Wäsche, Zahnbürste, Kens stolzesten Besitz, den Gameboy – durcheinander in eine XXL-Plastiktüte.
»Der spinnt komplett, dieser Darius Thanner!«, knurrte er dabei. »Wirst sehen, der schickt dich schneller zurück, als du deine erste Pizza dort runtergewürgt hast! Der hat ja keine Ahnung!« Er warf die Tüte auf Kens Bett, schrie Georg an, das Laken abzuziehen, und verschwand.
Mit zitternden Fingern holte Ken die Blätter aus dem Versteck unter dem losen untersten Einlegeboden des Schranks, verbarg sie rasch in der Plastiktüte, zwischen den eselsohrigen Schulheften, wo sie nicht auffallen würden. Georg heulte und trampelte auf dem Bettlaken herum.
»Ich hau ab«, sagte Ken, halb zu Georg, der ohnedies nicht zuhörte, halb zu sich selbst. »Ich schwör’s dir: Sobald ich dort bin, hau ich ab!«
Und dann stand plötzlich Krumm im Zimmer, ein finster dreinblickender Krumm, der Georg anbrüllte, still zu sein, und natürlich verstummte Georg sofort, denn sogar sein winziges Gehirn kapierte, dass man sich mit Krumm nicht anlegte, nicht, wenn man in diesem Scheiß-Betrieb überleben wollte.
»Italien!« Krumm spie das Wort förmlich vor Ken auf den Boden. Mit einem Mal packte er den Jungen am Hemd, riss ihn so dicht zu sich heran, dass Ken jedes einzelne Fältchen in dem verlebten Gesicht in voller Tiefe sehen konnte. »Glaub bloß nicht, dass du dort dem Thanner was vorjammern kannst!«
Er ließ das Hemd los, griff unvermutet in Kens Haare, zerrte den Jungen zum Fenster, stieß ihn hart gegen die Wand. »Der Thanner bringt dich zurück, früher oder später, und wenn du ihm dann auch nur ein verdammtes Wort gegen mich gesagt hast, weißt du, was dir dann blüht?!«
Der Junge schluckte, wagte nicht, sich zu rühren, obgleich sich das Fensterbrett unangenehm in seinen Rücken bohrte.
»Weißt du, was ich mit dir mache, du kleiner Wichser?« Er hatte Ken losgelassen, doch der Junge verharrte reglos, paralysiert vor Furcht. Langsam, unendlich langsam, hob Krumm die Hand. »Sag ihm ein Wort, du Scheißkerl«, flüsterte der Pfleger, und im nächsten Moment schrie er, dass Ken zusammenfuhr: »Sag ihm ein Wort und ich schlag dich tot!«
Seine Faust flog in Kens Magengrube und der Junge klappte zusammen, rutschte an der Wand hinunter. Krumm riss ihn hoch, rammte ihm brutal das Knie in den Unterleib und Ken fiel zu Boden, während Georg an seiner statt zu wimmern begann und mit dem Oberkörper schaukelte, wie er es immer tat, wenn ihn etwas ängstigte.
»Vergiss nicht, Scheißkerl! Ein Wort und es wird für immer dein letztes sein!«
Eine dreiviertel Stunde später stieß Hartmann den Jungen in Thanners dunkelgrünen Range Rover, dessen ungewöhnliche Dachdekoration, das riesenhafte Skelett eines Pferdeschädels, teils grinsende, teils schockierte Blicke der Passanten auf sich lenkte. Vom penetranten Stallgeruch im Innern des Wagens wurde Ken dermaßen schlecht, dass er noch vor der Autobahnauffahrt zu erbrechen begann. Und die Übelkeit hielt an, bis der Rover endlich, endlich die Grenze nach Italien überquerte.