Читать книгу Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka - Страница 10

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UNGARN. Das Rot einer späten Sonne fiel durch verrußtes Glas in altes Steinbogenwerk, fiel vom Dachfirst geteilt auf die verrußten Seitenwände, die Imitate zweier Geschosse in einer unbestimmbaren Antike. Budapest – Keleti. Ein Kopfbahnhof wie ein altes Hallenbad, übergroß und langgezogen. Ein Bau in der mehrfachen Höhe der Wagen. Eile zwischen ihnen, ein Anrennen gegen die Verspätungen zum Kopfende hin, um die Lokomotiven herum, zu anderen Gleisen. Ein eigentümlicher Bechterew überall, von der Last schwerer Koffer zur Seite geneigt. Ein Schlängeln um jede im Weg stehende Ergebenheit, die Hinnahme nächster Verspätungen, durch piazzahaften Zeitvertreib hindurch, an Limonadenverkäufern vorbei, dubiosere Händler nicht beachtend, um manches Kartenspiel im Stehen herum und auf Koffern sitzende Alte, das Kinn auf Hand und Stock gestützt, an müde erregten Kindern vorbei, an kraftlos mahnenden Eltern, an umschlungenen Pärchen in ihrer eigenen stillen Welt, inmitten dieser dem Überlaufen nahen Wanne … Ein Fanfarenstoß über dem Getöse. Ein Zug rollte ein. Er schob sich zwischen die Menschenströme, vom Quietschen der Bremsen auf das Äußerste beschleunigt, wir waren gezwungen zu schweigen. Stumm schüttelten wir die kräftigen Hände der aufgereihten Freunde ab. Eminenzenhaft der Letzte. Deine Hand in seinen beiden. Ein versöhnliches Gesicht dazu – Angebot oder Bitte: Welche Schuld liegt denn bei mir? Er fasste in die Tasche seines uniformähnlichen Jacketts. Er steckte Dir einen Zettel zu. Es war die letzte Seite seines Blocks, herausgerissen und zusammengefaltet. Er verabschiedete sich, erfreut oder erleichtert. Ich sah das Gesicht eines erschöpften Geheimdienstoffiziers, die Freude eines in den Urlaub gehenden Brigadiers.

Balatonfüred – Richtung Südwest. Unser Zug rollte einer untergehenden Sonne hinterher.

Vom Bahnhof aus bei misstrauischen Passanten bis zum Zeltplatz durchgefragt, hatten wir nachts mit Taschenlampen im Mund unser Zelt aufgebaut, nah eines Baumes, und dank der Sterne den Himmelsrichtungen auf der Spur. Kurz und unruhig war meine erste Nacht. Ich erwachte schweißgebadet, die hellleuchtende Plane über mir. Das Zelt stand frei in der Sonne, den nachts angepeilten Vormittagsschatten weit verfehlt.

Verdorrt, zertreten, totgelegen … blendend weiße Haut auf gelblichbraunen Resten von Gras. Meine Füße ragten aus dem Zelt, in einen kaum einsehbaren Tag. Die Hand vor der Stirn, unter der Sonne, über der unbekannten Welt. Ich blinzelte neugierig in den erlaubten Süden. Plötzlich hörte ich das dumpfe Klappern von Aluminium, das Rascheln einer gerafften Plane, eine belegte Stimme in beinah vertrauten Lauten. Ich erinnerte mich im Schnelldurchlauf an die Herfahrt, schmunzelte wieder über die Scherze der heimreisenden Genossen, und schüttelte den Kopf über unseren Versuch mit dem Lauf der Gestirne. Ich sah dem Abbau eines Zeltes zu, westlich unseres Baumes im verfehlten Schatten. Ich schlug auf Dein Bein, Du schrecktest hoch, schnell zogen wir die Heringe aus dem Boden und unser Zelt, so wie es stand, in den verlassenen Schatten.

Unser erstes Frühstück auf einer Terrasse unter Bäumen, fünfzig Meter vom Balaton. Die Sonne stand hoch in einem wolkenlosen Blau. Das andere Ufer duckte sich unter einen weißen Flaum, der wie von einem Pinsel ausgestrichen herüberragte. Der gerade noch zu ahnen war über Tihany, über ihrer leuchtend weißen Abtei, unserem Ziel für den nächsten Tag. Es lag direkt vor uns, in einem Flirren oder einem Dunst, nicht bestimmbar in der Mittagssonne, von ihr gar hervorgerufen. Eine türkise Reflexion des Wassers womöglich, eine farbliche Überlagerung auf das Grün der Hänge, eine Unschärfe als Ergebnis, nicht fokussierbar, wie mit müden Augen gesehen. In einem dünnen Strich der Klarheit, knapp über dem Sand, schoben Frauen mit dunklerer Haut, das vermutet schwarze Haar unter Kopftüchern versteckt, Fahrräder den Strand entlang. Flechtkörbe standen auf den Trägern, hingen am Lenker. Dürre Kinder, halbnackt und dunkel wie sie, sprangen zwischen den Rädern herum. Die Frauen gingen in lange, dunkle Kleider gehüllt … Ein pittoresker Kontrast zu dem Badespaß, in den sie ihren forró kukorica ausriefen.


Die Wende im Leben des jungen W.

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